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# taz.de -- Schuldgefühle im Krieg: Krieg bringt Hass in die Welt
> Müssen Russen sich schuldig fühlen? Wie verhalten sie sich jetzt
> angesichts des Krieges gegenüber ukrainischen Freunden? Und im eigenen
> Land?
Bild: Demonstrantin zeigt ihren Pass als Zeichen, dass nicht alle Russen Putins…
Jeden Morgen wache ich in einer Welt auf, in der jeder jeden hasst. Um mit
dem Zauberlehrling Harry Potter zu sprechen: Die Dementoren sind ihrem
märchenhaften Gefängnis entkommen, und es bleibt kein Tropfen Freude übrig.
Eine Freundin ruft an, sie ist Maskenbildnerin: „Olja, ich schäme mich zu
arbeiten, wenn es so viel Trauer gibt. Und ich bewege mich in den
sozialen Netzwerken und weine: Alle hassen uns“. „Meine Liebe, so scheint
es“, sage ich.
Meine Freunde schreiben Sätze wie diese: „Das ist unsere gemeinsame
Schuld.“ [1][„Das wird uns nie verziehen.“] „Ich schäme mich für mein
Land.“ In ganz St. Petersburg wurden Banner mit dem Symbol „Z“ aufgehäng…
Jetzt ist es ein Symbol der Unterstützung für die russische Armee. Graffiti
mit den Worten „Nein zum Krieg!“ hängen an Zäunen und Häusern. Einige
bereuen öffentlich, andere beglückwünschen die russische Armee. Es ist die
Hölle.
Kein Gericht könnte heutzutage so viele Urteile fällen, wie Menschen das
gerade über andere tun. Wenn du jetzt gerade das Leben genießt, bist du
gefühlskalt. Wenn du die Macht unterstützt, bist du ein Watnik (ein
Schimpfwort für Russen, die an die Propaganda ihrer Regierung glauben; Anm.
d. Red.). Wenn du die Staatsmacht nicht unterstützt, bist du ein
Verräter. Wenn du nicht protestierst, bist du ein Feigling. [2][Und wenn
du auf die Straße gehst, dann bist du ein Verbrecher.] (In Russland wurden
bereits Tausende Menschen, die gegen den Krieg demonstriert haben,
festgenommen; Anm. d. Red.)
[3][Die Propaganda ist so billig], dass ich mich sogar für den
Propagandisten schäme. Aber auf beiden Seiten der Grenze funktioniert das
immer noch, nicht schlechter als Kanonen. Den Ukrainern und uns Russen
wurde jahrelang beigebracht, einander zu hassen. Und ich muss zugeben, dass
dies beiden Ländern recht gut gelungen ist. Während oben die Machthaber die
Posten unter sich aufteilten, starben unten Liebe und Freundschaft. Doch
jetzt ist ein Abszess geplatzt, und es will mir scheinen, dass
infolgedessen nun die halbe Welt mit Hass überflutet wird.
Meine Verwandten, Klassenkameraden und Kollegen leben in der
Ukraine. Und ich habe Angst, ihnen zu schreiben. Ich habe Angst, dass mein
Mitgefühl eine Lawine der Feindseligkeit auslösen wird. Ich fürchte, sie
erwarten, dass ich Buße tun werde.
Aber das, was passiert, habe ich mir nicht ausgesucht. Ich bin sehr
verletzt und verängstigt, aber ich fühle keine Schuld oder Scham: weder für
meine russische Staatsbürgerschaft noch für kluge und mitfühlende Menschen,
von denen es so viele in meinem Land gibt. Wir alle wollen eindeutige
Antworten: Wer hat Recht, wer hat Unrecht? Aber wir bekommen auf diese
Fragen keine Antworten, es gibt nur hoffnungslose Dunkelheit und Ohnmacht.
Ich habe in all diesen letzten Tagen und Wochen nicht geweint, aber heute
ist mir auf Youtube ein drei Jahre altes Video aufgefallen, ein soziales
Experiment: Auf den Straßen von St. Petersburg umarmen Passanten einen
Typen mit einem Schild: „Ich komme aus der Ukraine, lasst uns umarmen.“
Ich begann zu schluchzen und konnte nicht mehr aufhören: Denn mir kommt es
gerade so vor, als ob wir uns nie wieder umarmen können.
Aus dem Russischen [4][Tigran Petrosyan]
Finanziert wird das Projekt durch die [5][taz Panter Stiftung]
12 Mar 2022
## LINKS
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[5] /spenden
## AUTOREN
Olga Lizunkova
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