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# taz.de -- Diesjähriger 9. Mai in Russland: Siegesfeier an der Heimatfront
> In Russland wandelt sich der Tag des Kriegsendes 1945 zunehmend vom
> stillen Gedenktag zu einer militärischen Feierlichkeit. Und diesmal?
Bild: Moskau, 9. Mai 2021: Militärparade zum Tag des Sieges
Seit 2005 wird der 9. Mai in Russland mehr und mehr zu einem „Feiertag“,
statt wie früher ein Gedenktag zu sein. Damals flogen an diesem Tag
erstmals Kampfflugzeuge über den Roten Platz und [1][das Georgsbändchen als
Symbol] tauchte auf. Ab 2008 waren bei der jährlichen Parade auch schwere
Militärfahrzeuge zu sehen. Nach und nach begann das Feiern des Sieges das
Gedenken abzulösen. Aus einem freien Tag wurde ein patriotisches Format,
das eine klare Stellungnahme und eben das Feiern verlangte, [2][und nicht
stilles Gedenken oder gar Trauer].
Als ich noch zur Schule ging, schrieben meine Klassenkameraden und ich
Postkarten an die Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs, wie der
Zweite Weltkrieg bei uns genannt wird, und brachten sie ihnen nach Hause.
Wir überreichten ihnen am 9. Mai Blumen und Süßigkeiten, die wir selbst
gekauft hatten.
Für uns war es wichtig, ihnen gegenüber unsere kindliche Dankbarkeit
auszudrücken: dass sie die schrecklichen Kriegsjahre überstanden hatten,
für ihre Tapferkeit und dafür, dass wir Kinder in Freiheit, ohne fremde
Invasoren leben konnten. In meiner Kindheit kamen Veteranen in den
Schulunterricht und erzählten von all dem Schrecklichen, das sie erlebt und
nie vergessen hatten. Wir Schüler sagten: „Nie wieder“. [3][Und heute
bringt man den russischen Schulkindern bei:] „Das können wir noch mal
machen“.
## Neues staatliches Ritual
Die Aktion, die aus der zivilen Initiative „Unsterbliches Regiment“
hervorgegangen ist, hat der Staat den Journalisten, die sie erfunden haben,
quasi gestohlen und zu einem neuen staatlichen Ritual gemacht. (Bei der
Aktion am 9. Mai tragen die Menschen auf einem Gedenkmarsch Bilder ihrer
Angehörigen, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben; d. Red.)
An den Paraden nahmen plötzlich auch Staatsbeamte und der russische
Präsident teil. Sie wurden zu einer Massenveranstaltung in immer mehr
Städten des Landes. Das persönliche Erinnern an den Krieg in der Familie
wurde plötzlich öffentlich. Und darüber hinaus begann nun der Staat
vorzuschreiben, wie man diese Erinnerungen zu leben, begehen und bewerten
habe.
Jetzt schaue ich mir das alles im Jahr 2022 an: Die Werte, die mir seit
meiner Kindheit vertraut waren, sind verschwunden. Dafür gibt es eindeutige
Positionen und strahlende Bilder vom „russischen Sieg“ und vom „Kampf geg…
den neuen/alten Nazismus“. Heute ist der Tag des militärischen Sieges einer
ohne dunkle Seite: Leiden, Gewalt, Tod, Vergewaltigungen und Verlust
bleiben außen vor. Und so kann der Staat den schrecklichsten Tag in einen
unreflektierten staatlichen Feiertag verwandeln.
Der städtische Raum Moskaus wird nach und nach standardmäßig geschmückt:
mit Georgsbändchen und roten Flaggen. In den Souvenirläden gibt es viele
Symbole der neuen Kriegszeit mit den Buchstaben, mit denen moderne Soldaten
sich und ihre Waffen kennzeichnen.
Täglich tauchen immer mehr Plakate und Fahnen auf, aber denkt irgendjemand
daran, dass das alles gleichzeitig mit den offiziellen Berichten von der
aktuellen Kriegsfront einhergeht: mit Kriegsverbrechen, einer riesigen
Flüchtlingskrise, den täglichen Nachrichten von getöteten Zivilisten in der
Ukraine und [4][Bildern von den zerbombten ukrainischen Städten]? Und dass
ein Feiertag in diesem unendlichen Leid gar nicht mehr existiert?
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey]
Finanziert wird das Projekt von der [6][taz Panter Stiftung].
8 May 2022
## LINKS
[1] /Geschichte-eines-russischen-Symbols/!5765759
[2] /Tag-der-Befreiung/!5844582
[3] /Kriegspropaganda-fuer-Kinder-in-Russland/!5850151
[4] /Russischer-Truppenabzug-aus-Tschernihiw/!5844745
[5] /Gaby-Coldewey/!a23976/
[6] /!p4550/
## AUTOREN
Xenia Babich
## TAGS
Moskau
Militär
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Kolumne Krieg und Frieden
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Osteuropa – ein Gedankenaustausch
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