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# taz.de -- Russische Emigrationswelle: Am Nullpunkt
> Vor allem junge Russen verlassen wegen des Ukrainekriegs ihre Heimat.
> Los werden sie den Konflikt dennoch nicht.
Bild: Bis auf eine verstärkte Polizeipräsenz geht das Leben in Moskau normal …
Ich bin in Moskau, obwohl zu Beginn dessen, was auf Geheiß der russischen
Machthaber „Spezialoperation“ genannt werden muss, schon Zehntausende
Russen das Land verlassen haben. Unter ihnen auch meine Freunde, von denen
einige mit Rucksack und Laptop als Flüchtlinge gegangen sind. Viele haben
schon vor ein paar Wochen beschlossen, einen kompletten [1][Neustart
außerhalb Russlands] zu wagen.
Nach Angaben des unabhängigen Projekts Ok Russia sind in einem Monat mehr
als 300.000 Menschen in die Türkei, nach Georgien und Armenien gegangen: 57
Prozent von ihnen sind jünger als 35. Viele von ihnen hatten und haben
weiterhin ihren Hauptjob in Russland. Diese Zeit ist zum Nullpunkt
geworden, niemand weiß, wie man sich gerade richtig verhält: gehen oder
bleiben. Und wenn man geht, versteckt man dann das eigene „Russischsein“?
Oder teilt man überall eigene Erfahrungen und Bemühungen um Recht und
Freiheit in Russland? Hilft man den Dagebliebenen oder kappt man alle
Verbindungen, versucht, das frühere Leben zu vergessen?
Wenn ich mit denen spreche, die gegangen sind, verstehe ich, dass wir die
gleichen Gefühle haben: überflüssig zu sein, nicht zu genügen, nicht mehr
leben zu können wie vorher. Unsere Welt und unsere Pläne sind
zusammengebrochen. Ich schreibe diesen Text in Moskau über VPN, weil hier
die [2][sozialen Netzwerke von META als extremistisch eingestuft] wurden.
Meine Freunde fragen mich täglich, wo ich gerade sei, weil es für alle
Hiergebliebenen wichtig ist zu wissen, dass sie nicht alleine sind. Und
wenn ich oder sie vor Gericht kommen oder es eine Hausdurchsuchung gibt,
können wir uns gegenseitig beistehen.
Nach außen geht in Moskau der Alltag weiter. Es gibt ein paar mehr
geschlossene Läden und Cafés, mehr Polizei und Nationalgarde auf den
Straßen und in der Metro. Aber vor allem mehr Angst. Die, die gegangen
sind, dämonisieren schon kleinere Themen: Lebensmittelpreise, die Arbeit
der Banken. Sie wollen sich beweisen, dass ihre Entscheidung nicht umsonst
war.
## Das Trauma der Ukrainer verstehen
Trotzdem brechen sie oft zusammen und schreiben oder sagen mir: „Ich bin
total erschöpft“ oder „Ich bin ausgereist, aber habe keine Ahnung, wozu und
wie ich jetzt leben soll“. Für alle Fortgegangenen ist heute wichtig, nicht
nur Kraft für sich selber und das neue Leben zu finden, sondern auch genug
Stärke zu haben, um das Trauma zu verstehen und zu teilen, das unser Staat
jedem Ukrainer zufügt.
Die, deren Verwandte in Russland geblieben sind, wurden oft durch
Propaganda vergiftet und es bedarf großer Anstrengungen, um ihnen zu
beweisen, dass sie offiziell getäuscht wurden, dass sie nicht wissen, wie
schrecklich es ist, was in der Ukraine passiert. Ich selbst streite mich
dauernd mit meinen Eltern, wenn ich versuche, ihnen zu beweisen, dass die
Aggression aus dem Fernseher, die sie gegen die ganze Welt aufbringt, eine
Sackgasse ist.
Die Autorin war Teilnehmerin eines Osteuropa-Workshops der taz Panter
Stiftung.
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
Finanziert wird das Projekt durch die [4][taz Panter Stiftung].
4 Apr 2022
## LINKS
[1] /Flucht-nach-Deutschland/!5840968
[2] /Medien-in-Russland-unter-Druck/!5841829
[3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
[4] /!p4550/
## AUTOREN
Xenia Babich
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