| # taz.de -- Anschwärzen in Russland: Denunziationen erwünscht | |
| > Neue Gesetze machen es in Russland möglich, sich durch Verrat legal an | |
| > anderen zu rächen. Unsere Autorin erinnert das an die Breschnew-Zeit. | |
| Bild: Seit 2021 ist Denunziation wieder Teil der russischen Realität. Das erin… | |
| Moskau taz | Mein Opa verlor einmal seine Arbeitsstelle, weil er in der | |
| Fabrik während der Mittagspause zwei Kollegen einen Witz über Breschnew | |
| erzählt hatte. Noch am selben Abend verfasste einer der beiden eine | |
| detaillierte denunziatorische Meldung über meinen Opa. Der wurde prompt am | |
| folgenden Tag entlassen. All dies geschah in einer kleinen Stadt in der | |
| Sowjetunion der 1970er Jahre. Eine neue Stelle zu finden, war dort zu | |
| dieser Zeit relativ schwer. | |
| Viele Jahre später haben wir herausgefunden, wer ihn damals wegen des | |
| Witzes verraten hatte, und wir konnten nicht begreifen, warum. Denn der | |
| Kollege, der das getan hatte, war ein Freund meines Opas. Auch nach dieser | |
| Denunziation übrigens noch viele Jahre. | |
| Seit Anfang 2021 wird das Denunzieren wieder Teil der russischen Realität. | |
| Zuerst hatten die russischen Behörden Zensur und Diskriminierung wieder | |
| legalisiert. Bis 2021 haben sie dann eine Reihe von Gesetzen beschlossen, | |
| die es erlauben, sich mittels Denunziationen quasi aneinander zu rächen. | |
| Nach Angaben der russischen Zensurbehörde Roskomnadsor haben Menschen in | |
| Russland im ersten Halbjahr 2022 145.000 schriftliche Denunziationen | |
| verfasst. Die meisten betrafen irgendwelche angeblichen „Fake-Behauptungen“ | |
| und „Diskreditierungen“ der Armee. Und die Zahl dieser Denunziationen | |
| wächst mit jedem Tag. | |
| ## Selbstzensur auf Social Media | |
| Ein junger Mitarbeiter einer staatlichen Bildungseinrichtung, mit dem ich | |
| ins Gespräch komme, erzählt, dass er sich schon lange vor Kriegsbeginn | |
| bemüht habe, darauf zu achten, was er in den sozialen Netzwerken | |
| veröffentlicht, und die ethischen Standards für Pädagogen einzuhalten. Aber | |
| 2022 begann er sich so stark vor Denunziationen seiner Kollegen und Schüler | |
| zu fürchten, dass er so gut wie nicht mehr auf Social Media aktiv war. Er | |
| spricht fast mit niemandem darüber, dass er gegen den Krieg ist. Auf Fragen | |
| seiner Schüler nach den aktuellen Vorgängen im Land versucht er, | |
| ausweichend zu antworten. | |
| Seiner Meinung nach ist die [1][Denunziation mehr als nur eine Möglichkeit, | |
| seine Rechnungen mit denjenigen zu begleichen], die „von der patriotischen | |
| Agenda abweichen“. Viele denunzieren vielmehr, weil es der eigenen | |
| beruflichen Karriere förderlich ist. | |
| ## Denunziation als Karrieretool | |
| Denn mittlerweile ist es relativ leicht, einen erfolgreichen Kollegen zu | |
| verdrängen. Man muss nur angebliche Verfehlungen seinerseits melden, schon | |
| kann man seinen Platz einnehmen. Arbeitgeber stellen mittlerweile lieber | |
| diejenigen ein, die loyal zur Regierung stehen oder die [2][an staatlichen | |
| Kundgebungen teilnehmen]. In Gesprächen merkt man mehr und mehr, dass die | |
| Menschen sich vorsichtiger ausdrücken, dass sie versuchen, nichts zu sagen, | |
| das gegen sie verwendet werden könnte. | |
| [3][Für jeden Menschen in Russland gibt es „seine“ Denunziation] – sie | |
| liegt bei den zuständigen Behörden, bis die Zeit für sie reif ist. So kamen | |
| die russische Theaterregisseurin Schenja Berkowitsch und die | |
| Drehbuchautorin Swetlana Petrijtschuk im Mai 2023 aufgrund einer | |
| Denunziation in Untersuchungshaft. Offizieller Grund für ihre Festnahme und | |
| Inhaftierung war eine schriftliche Meldung vom Mai 2021. Das Theaterstück, | |
| das der Anlass für die strafrechtliche Verfolgung war, lief bereits im Jahr | |
| 2020. | |
| Viele Menschen geben offen zu, dass sie ständig Angst haben und das | |
| Schlimmste befürchten, nur weil sie offen aussprechen, was sie denken. Die | |
| Menschen in Russland sind langsam wieder zu dem zurückgekehrt, was sie so | |
| lange hatten loswerden wollen: totales Misstrauen gegenüber sich selbst und | |
| den eigenen Gedanken. | |
| Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
| Finanziert wird das Projekt von der [5][taz Panter Stiftung]. | |
| Ein Sammelband ist im Verlag [6][edition.fotoTAPETA] erschienen. | |
| 26 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Xenia Babich | |
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