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# taz.de -- Russisch-ukrainische Familiengeschichte: Von der Vergangenheit abge…
> Als Kind reiste ihr Vater jeden Sommer aus Russland nach Odessa. Unsere
> Autorin plante eine Reise auf seinen Spuren. Dann brach der Krieg aus.
Bild: Krieg bedeutet auch den Verlust eines Teils der Vergangenheit
Krieg bedeutet immer auch Verlust. Und ich rede hier nicht nur über Leben,
Gesundheit und nahestehende Menschen. Es gibt noch einen anderen Verlust,
den man nicht sofort bemerkt, der sich zunächst nur verschwommen im Inneren
zeigt, dann aber nach außen dringt.
Viele meinen, dass sie mit diesem Krieg ihre Zukunft verloren haben,
[1][dass wir jetzt ein Stigma haben], dass die Schrauben immer fester
angezogen werden, dass ein falscher, ostentativer Patriotismus eine
anständige Erziehung, Karriere und Broterwerb behindert. Das stimmt alles.
Aber das Bitterste ist für mich gerade der Verlust meiner Vergangenheit.
Mitten in der Pandemie habe ich begonnen, alte Familienfotos, Briefe und
Dokumente zu sichten. Anschließend habe ich eine Reise in die Ukraine
geplant. Dort sind zwei meiner Urgroßmütter begraben. In einem Massengrab
liegen dort zwei Großonkel, die im Zweiten Weltkrieg umgekommen sind. Ich
wollte schon losfahren, dachte dann aber, dass gerade nicht die beste
Reisezeit sei.
Dann zeigte sich, dass jede Zeit besser gewesen wäre als die jetzige. Am
meisten fürchte ich mich gerade [2][vor Nachrichten aus Odessa]. Es ist
mein Traum, einmal in diese Stadt zu reisen, die ich nur aus Briefen und
von Fotos kenne. Die Vergangenheit meiner Familie lebt dort, für immer von
mir abgeschnitten. Und wenn sie anfangen, Odessa zu bombardieren, zerreißen
sie mir für immer das Herz.
Ein Foto aus Odessa, 1950. Die Brüder meiner Großmütter stehen mit ihren
Frauen bis zu den Knien im Meer. Meine Tante ist noch ein ganz junges
Mädchen. Alle strahlend und glücklich: Der Krieg ist vorbei, das bedeutet,
dass nichts Schlimmes mehr passieren wird.
Ein anderes Foto, 1961. Im Hof eines Hauses steht eine große Familie: mein
9-jähriger Vater, seine Großmutter, die Cousins und Cousinen. Mein Vater
hat mir erzählt, dass der Anblick des Meeres, das er in Odessa zum ersten
Mal sah, seine schönste Kindheitserinnerung ist. Auch erzählte er von dem
Geräusch der Pfirsiche, die, wenn sie reif genug waren, nachts mit
klopfendem Geräusch aufs Dach fielen.
Fast jeden Sommer reiste er durch das halbe Land zu seinen Verwandten in
Odessa. Und viele Jahre später, als er sechzig wurde, fuhr er wieder hin,
um dort das Haus am Meer noch einmal zu sehen, das schon lange verkauft und
zu einem Hotel umgebaut worden war. Das war 2012, er hat es zum Glück noch
geschafft.
Neulich habe ich auf der Website eines lokalen Fernsehsenders aus Odessa
einen alten Beitrag von 2015 gefunden. Eine der Heldinnen des Films war
eine 92-Jährige, die Frau eines verstorbenen Verwandten von mir. Ich habe
sie nie persönlich getroffen und sie nur namentlich gekannt. Sie hat vor
der Kamera ihre Gedichte über ein fernes russisches Dorf vorgelesen, ihre
Heimat, wo ich selber früher jedes Jahr gewesen bin.
Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Ich verstehe, dass sie
aufgrund ihres Alters wohl nicht mehr am Leben ist, aber es besteht
zumindest eine Restchance! Ich hätte ihr gerne einen Brief geschrieben und
gesagt, dass man an sie denkt und dass sich der Fluss in ihrer Heimat noch
immer durch grüne Wiesen schlängelt. Aber man kann keine Briefe mehr in die
Ukraine schicken. Entschuldige bitte, Tante Sofa, ich habe es nicht
geschafft.
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der [3][taz Panter Stiftung].
Einen Sammelband mit den Tagebüchern bringt der Verlag edition.fotoTAPETA
im September als Dokumentation heraus.
10 Jun 2022
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## AUTOREN
Olga Lizunkova
## TAGS
Kolumne Krieg und Frieden
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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