# taz.de -- Roman über Klimakatastrophe: Gewöhnt euch dran | |
> „Der Anfang von morgen“ heißt der neue Roman des schwedischen Autors Jens | |
> Liljestrand. Er zeigt die Folgen des Klimawandels auf. | |
Bild: Und es wird noch heißer werden: Waldbrand zwischen Windkraftanlagen in B… | |
Sind wir denn vollkommen verblödet? Ganz Europa verzeichnet | |
Rekordtemperaturen, Flüsse trocknen aus, Wälder brennen, Menschen sterben. | |
Aber wir regen uns wochenlang darüber auf (manche fordern gar | |
Haftstrafen!), wenn [1][Aktivist:innen der Letzten Generation] | |
stundenweise den Verkehr lahmlegen. Weil Wirtschaft, Industrie und | |
Gesellschaft seit Jahrzehnten ignorieren, dass uns die Zeit davonläuft. | |
Fragt man Expert:innen, warum wir unsere ressourcenvernichtende Existenz | |
nicht verändern, wird eine emotionale Entfremdung zwischen Mensch und Natur | |
angeführt. Wir müssten emphatischer werden, „fühlen, was die Welt fühlt�… | |
fordert etwa der Psychosomatiker Joachim Bauer, um die Herausforderungen | |
unserer Zeit zu bestehen. | |
Der PR-Berater Didrik fühlt schneller, als ihm lieb ist, was die Welt | |
fühlt. Als er sich mit seiner Familie von der Pandemie am Siljansee im | |
Herzen Schwedens erholt, kommt es zu einer Katastrophe. „Da hinten im Wald | |
brennt es. Zeit, sich davonzumachen – jetzt sind wir auch Klimaflüchtlinge. | |
Traurig, aber wahr. #climatechange“ twittert er noch, bevor er seine Frau | |
und seine Kinder aus der Gefahrenzone bringen will. Doch das Auto springt | |
nicht an. Zu Fuß versuchen sie, in den nächsten Ort zu kommen, um von dort | |
evakuiert zu werden. | |
Eindrücklich wird diese Szene im Roman beschrieben. Die Hitze drückt auf | |
jeden Muskel, das Knacken des brennenden Holzes dröhnt in den Ohren, der in | |
der Luft stehende Rauch brennt in der Lunge. Als sie nach Stunden im | |
Nachbarort ankommen, ist der längst geräumt. Und das Feuer rückt | |
unaufhaltsam näher. Um dem Inferno heil zu entkommen, muss der | |
Familienvater einige Entscheidungen treffen. Entscheidungen, die er schon | |
bald bitter bereuen wird. | |
Es ist ein apokalyptisches, aber alles andere als unrealistisches Szenario, | |
das Jens Liljestrand an den Anfang seines über 500-seitigen Romans „Der | |
Anfang von morgen“ stellt. Im Sommer 2018 [2][erlebte Schweden die | |
schlimmsten Waldbrände] seit über hundert Jahren. Damals gerieten über | |
30.000 Hektar Wald in Brand, die aufsteigenden Rauchsäulen konnte man | |
selbst vom Weltall aus sehen. Das inspirierte den Schweden zu seinem Roman. | |
## Scham, Schmerz, Leid | |
In vier Kapiteln erzählt Liljestrand vom Klimawandel als menschlicher | |
Erfahrung, verbunden mit Scham, Schmerz, Leid und Liebe. Er selbst spricht | |
von einer „Geschichte über das Abnormale als Normalität“. Dabei ist jedes | |
Kapitel aus der Ich-Perspektive einer seiner Hauptfiguren erzählt – neben | |
dem Familienvater sind dies eine junge Influencerin, der Sohn einer | |
Tennislegende und Didriks älteste Tochter Vilja. „Schäm dich nicht, ein | |
Mensch zu sein!“, postet Melanie regelmäßig auf ihren Social-Media-Kanälen, | |
wo sie sich freizügig zeigt. | |
Ginge es nach ihr, würden die Menschen ihr Leben in vollen Zügen genießen. | |
In der Klimabewegung mit all ihren Verbotsforderungen sieht sie einen | |
„Todeskult“, der die Menschheit „zurück in die Höhlen treiben will“. … | |
und nach wird deutlich, dass der Kampf, den sie aus dem Internet auf die | |
Straße trägt, ein Stellvertreterkrieg ist, um ganz andere Schmerzen | |
kleinzuhalten. Als Didrik dann mit seiner Tochter Becka bei ihr Zuflucht | |
sucht, eröffnet sich ihr ein unverhoffter Ausweg aus ihrem beklemmenden | |
Dasein. | |
In seinem Leben gefangen fühlt sich auch André, unehelicher Sohn von Anders | |
Hell, einem gealterten Tennis-Star, der wie Björn Borg, Mats Wilander und | |
Stefan Edberg zu Schwedens goldener Generation gehört. Seit Jahren muss | |
sich der Student die hämischen Kommentare seines Vaters anhören. Er sei | |
nicht gut genug, nicht sportlich genug, im wahrsten Sinne des Wortes ein | |
Weichei. Und dennoch sucht er dessen Liebe. Als er ihm auf einem Segeltörn | |
eröffnet, über die Geschichte des Leids in der Welt zu schreiben, löst dies | |
Debatten aus, in denen sein Vater in bester Whataboutism-Manier | |
ethisch-moralische Vorwürfe zurückweist. Jetzt probt André den Aufstand. | |
## Teenager übernehmen Verantwortung | |
Verantwortung für die eigene und künftige Generationen übernehmen (auch) | |
hier nur Teenager. Während Viljas Vater mit ihrer Babyschwester nach | |
Stockholm flieht, bleibt sie mit ihrer Mutter in der Krisenregion. Dort | |
wird sie Hilfe für die Geflüchteten organisieren und die Kraft der Liebe | |
entdecken. Und sie sucht ihren Bruder Zack, von dem seit der Flucht aus den | |
Flammen jede Spur fehlt. Dabei wird die 14-Jährige [3][(wie vor ihr Greta | |
Thunberg)] über sich hinauswachsen und zur Heldin des Romans. | |
Wer sind wir? Und wie konnten wir so werden? Diesen Fragen geht Jens | |
Liljestrand in seinem Pageturner auf den Grund. Er gibt seinen Figuren | |
Geschichte und Geschichten, geht zum Teil Jahrzehnte zurück, um ihr Handeln | |
im Ausnahmezustand emotional zu verankern. Zugleich nutzt er die vier | |
Stimmen (für die in der deutschen Fassung vier verschiedene | |
Übersetzer:innen verantwortlich sind), um gesellschaftliche Phänomene | |
wie politisches Versagen, eskalierende Diskurse, soziale Ungleichheit, | |
junges Engagement sowie Alltagserscheinungen wie Liebe, Betrug und | |
Vergebung zu diskutieren. | |
Dass die einzelnen Lebensgeschichten dabei ziemlich weit davontragen, | |
spricht für ihre literarische Eigenständigkeit. Zugleich klappert aber ihre | |
über erzählerische Motive gestrickte Montage zu einem Roman. Obwohl der vom | |
Menschen verursachte Klimawandel aus den gesellschaftspolitischen Debatten | |
(und dem Sachbuchregal) nicht mehr wegzudenken ist, spielt er in der | |
zeitgenössischen Literatur nur eine Nebenrolle. Dabei wären Fiktionen, die | |
die abstrakte Bedrohung der folgenschweren Erderwärmung in glaubhafte und | |
konkrete Geschichten überführen, wichtig, um vom Wissen zum Verstehen und | |
schließlich zum Handeln zu kommen und aus der selbst verschuldeten | |
Unmündigkeit unserer Zeit zu treten. | |
## Schätzings „Schwarm“! | |
Frank Schätzings Bestseller „Der Schwarm“ aus dem Jahr 2004 war ein erstes | |
literarisches Ausrufezeichen, das die Hoffnung auf eine solche Literatur | |
nährte, blieb aber lange ein Solitär. Mit Maja Lundes Klima-Quartett | |
erhielt die Climate Fiction neuen Schwung. Viel mehr als eine Handvoll | |
lesenswerter Werke sind seither jedoch nicht erschienen. | |
Jenny Offills Momentaufnahme „Wetter“ über die Klimawandeldebatten in den | |
USA oder Kim Stanley Robinsons optimistische Vision „Das Ministerium der | |
Zukunft“ über die lernende Menschheit sind gut recherchierte und plausible | |
Geschichten einer Welt im Wandel. Ali Smith’ zwischen Tierschutz, | |
Klimawandel und Lockdown wandelnder Roman „Sommer“ und Richard Powers | |
Porträt eines jungen Klimaschützers „Erstaunen“ zielen ins Zwischenreich | |
von Naturkunde und Gesellschaftsroman. | |
Hierzulande haben Helene Bukowski in ihrem Debütroman „Milchzähne“, Roman | |
Ehrlich in dem für den Deutschen Buchpreis [4][nominierten Ökothriller | |
„Male“] oder John von Düffel in seinem Klimaprotest-Roman „Der brennende | |
See“ die Folgen einer Welt auf der Kippe zuletzt überzeugend in den Blick | |
genommen.Für gute Climate Fiction gilt, was für gute Literatur gilt: Sie | |
lässt uns verstehen, was mit der Welt und uns passiert. | |
## Welt aus den Angeln | |
Jens Liljestrand nimmt die aus den Angeln gehobene Welt und beobachtet die | |
Menschen, die sie bewohnen. Er erklärt nicht den Klimawandel in seinen | |
verschiedenen Aspekten und Abhängigkeiten, sondern zeigt, wie wir leben, | |
wenn Hitzewellen und Waldbrände längst Alltag sind. An die Stelle der (für | |
Westeuropäer) abstrakten Bedrohung von schmelzenden Polen und steigendem | |
Meeresspiegel rückt die konkrete Katastrophe, in der Menschen emotionale | |
Entscheidungen treffen, die Chaos und Gewalt befördern. „Gewöhn dich dran�… | |
so die Warnung, die immer wieder ertönt. | |
„Dieser Sommer war nicht der heißeste. Es war der kälteste, verglichen mit | |
dem, was uns die nächsten Jahre erwartet“, kommentiert Vilja im Rückblick. | |
Vor diesem Hintergrund sollten wir die Zeit nutzen, um uns auf die Zukunft | |
vorzubereiten. | |
2 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Thomas Hummitzsch | |
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