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# taz.de -- Der Roman „Prana Extrem“ von Joshua Groß: Avantgarde, mindeste…
> Der Skisprung-Roman „Prana Extrem“ von Joshua Groß verschaltet großartig
> Witz und Empfindsamkeit, echtes Anliegen und schräge Verschiebung.
Bild: Hoch hinaus und rein in die Welt: Die Figuren bei Joshua Groß sind so �…
Getrude Rhoxus, eine fiktive Science-Fiction-Autorin im neuen Roman von
Joshua Groß, klebt sich gerne an den Enden abgeschnittene Elektroden an
ihren Körper, um sich damit nackt in ihren Garten zu legen. „Das ist mein
Denkritual“, sagt sie, „ich liege für mehrere Stunden im Moos, dann gehe
ich heim und schreibe.“ Es spricht einiges dafür, dass Joshua Groß das auch
so macht.
„Prana Extrem“ heißt das gleichsam zarte wie schräge Buch, in dem sich
jederzeit eine Art humorvolles Pathos einstellen kann, angesichts
überwältigender Wolkenformationen genauso wie vor den Fruchtjoghurts im
Kühlschrank. „Ich habe eine solche Schwäche dafür, wenn in komplett
alltäglichen Situationen plötzlich so eine maßlose Übertriebenheit zutage
tritt“, kommentiert das der mit dem Autor namensgleiche Ich-Erzähler Joshua
einmal selbst.
Sein Wahrnehmungsvermögen, mit dem er sich sensibel der Welt öffnet,
scheint dabei bis auf subatomare Ebenen zu reichen, wo er surreal anmutende
Atmosphären und Stimmungen beschreibt oder auch mal mit selbstgerollten
„Antimateriebällchen“ jongliert.
Der Roman spielt in einem sehr langen und heißen Sommer in Tirol, wohin
Joshua seine Freundin Lisa im Rahmen eines Literaturstipendiums begleitet.
Die beiden lernen das 16-jährige Skisprungtalent Michael Stiening und
dessen ältere Schwester und Trainerin Johanna kennen, die sie kurzerhand
einladen, für ein paar Monate zu ihnen nach Kurbruck zu ziehen, einem
fiktiven Ort unweit von Innsbruck, an dem sich lokal ein tropisches
Sumpfklima entwickelt hat.
Zusammen mit Hündin Lu, der Katze Schnurri-San und einem – anders als noch
im Vorgängerroman „Flexen in Miami“– traurig verschwiegenen Kühlschrank
wird Kurbruck zum Basislager ihrer „Bootgang of Love“, zu der später noch
die fünfjährige Tilde und Joshuas exzentrische Oma Suzet stoßen.
## Sich aus der Handlungsunfähigkeit rausflexen
Gemeinsam unternehmen sie Ausflüge in von Farn umwucherte Thermalquellen,
unterstützen Michi bei seinem Training, beratschlagen sich über den Einsatz
diverser Hautcremes, lesen Getrude Rhoxus oder floaten Marihuana rauchend
im Pool. Das alles ist dermaßen harmonisch und achtsam, dass man sich
manchmal fast wundert, warum es nicht nervt.
Vielleicht liegt es an der sympathischen Vorbehaltlichkeit, mit der das
Erzählte immer wieder in Anführungszeichen gesetzt wird. Ironie wäre das
falsche Wort. Wenn der Erzähler Joshua entsetzt feststellt, dass er „der
Einzige war, der keine umfassende Skin-Care-Routine hatte“, dann ragt das
zwar arg ins Parodistische, andererseits ist die Sorge um eine „von
Trockenheit zerfickte Haut“ auch echt und sogar existenziell markiert in
einer Welt, die sich anfühlt, „als würde sie sich langsam häuten“.
Verschaltungen von Witz und Aufrichtigkeit, echtem Anliegen und schräger
Verschiebung begegnet man im Roman immer wieder. Es scheint fast so, als
würden Augenzwinkern und berührender Ernst einander bedingen. Als müsste
man einer verdrehten und übersteuerten Welt mit Verdrehung und
Übersteuerung begegnen, um – mit Donna Haraway gesagt, deren Denken einen
wichtigen Bezugspunkt für Groß’ Schrieben darstellt – antwortfähig und
verantwortungsfähig zu bleiben.
Oder wie Joshua Groß es in einem poetologischen Essay selbst formuliert:
„Wer es nicht permanent schafft, gleichzeitig Ironie, Selbsthass,
Nostalgie, Affirmation und Konterrevolution in sich selbst auszuhalten, ist
ein Hurensohn, der die Schichtungsverhältnisse der Gegenwart nicht
verstanden hat.“
Oft kreiert Groß schon auf konzeptioneller Ebene Szenarien, Denkfiguren
eigentlich, die mit ihren leichten Verschiebungen im Realitätsgefüge auf
eine interessante Weise stimulieren. Allein das Setting der
Skisprungschanze in einer Tiroler Sumpflandschaft mit Riesenlibellen, die
kurz davor sind, die tonangebenden Player im speziesübergreifenden
Zusammenleben zu werden.
## Alles muss fließen
Oder der aus einem Museum gestohlene Meteoroid, der Joshua „intensiv mit
der Tiefenzeit konfrontiert“, den er dann aber in einem Minigolf-Match
setzt, um seiner Oma ein Date zu organisieren. Auch wenn man kaum eine
Möglichkeit habe, seine eigene „Grobschlächtigkeit gutzumachen“, müsse m…
„sich dagegen wehren, dass die Zukunft schon feststehen soll“.
Oder die Chupa Chups, die Joshua in Anspielung auf Ursula K. Le Guins „The
Carrier Bag Theory of Fiction“, ein Manifest gegen die männliche
Heldengeschichte, in einem selbstgenähten Beutel stets bei sich trägt, „ein
bisschen druidenhaft, na ja, aber auch mondän und komplett sinnlos und
geil“.
Süßigkeiten und Softdrinks scheinen überhaupt gut reinzupassen in diesen
Lebensstil, der sich der Verstricktheit in kaum zu ahnende
„Vernichtungszusammenhänge“ und „andere geisteskranke Kontinuitäten“
bewusst ist, gleichzeitig aber „jeglicher Future-Flauheit“ abschwört, mit
der man gelegentlich auf die Welt deutet und meint, man könne nichts tun.
Hier kommen nun auch Skispringen und das titelgebende Prana ins Spiel.
„Komplette Verkeilung, Egosumpf, Selbstverherrlichung“ seien ein riesiges
Problem, erklärt Coach Johanna einmal, weil es die Anpassungsfähigkeit an
sich ständig verändernde Rahmenbedingungen einschränke. Ihren Bruder möchte
sie dazu bringen, dass Skispringen zu einer „Transzendenzerfahrung“ für ihn
werde. „Prana muss ungehindert zwischen Scheitelpunkt und Beckenboden
fließen“, nur so erreiche man „fortlaufende Verflüssigung“.
Das ungefähr meint das aus dem Hinduismus kommende „Prana“ nämlich: eine
Veränderung hin ins Offene, indem man sich, mit den Worten Joshuas, „in die
vierte Dimension hochmeditiert beispielweise“.
## Liebe, Team und Transformation
Realness und echte Erfahrung in einer sich [1][medial und simulacrum-mäßig
enthebenden Welt] spielten auch schon in den Vorgängerbüchern von Groß eine
zentrale Rolle. Neben dem Prana-Motiv, das deutlich auch auf den [2][sich
häutenden Planeten] anspielt, der eine Transformation von Lebenspraktiken
unumgänglich macht, akzentuiert „Prana Extrem“ ein zweites Thema in neuer
Prägnanz: Gemeinschaft.
„Entkommen wird nie ein individueller Akt sein“, sagt Joshua einmal zu
seiner Mutter, als sie sich darüber unterhalten, wie man für „sich selbst
neue Formen“ findet. Bereits am Ende von „Flexen in Miami“ löst sich die
psychotische Verlorenheit, die den Roman durchzieht, in einem Zusammenleben
auf, das ganz im Zeichen von [3][Haraways] Konzept der
Gefährt:innenschaft steht, in dem Hunde und Katzen genauso eine Rolle
spielen wie Kühlschränke oder Reinigungsroboter.
In „Prana Extrem“ steht nun von Anfang an eine „guerillamäßig“ versch…
Clique, die empfindsam und high durchs brütende Tirol stept.
Gravitationszentrum und Herzstück der Gemeinschaft: die Liebesbeziehung
zwischen Lisa und Joshua. Neben Oma Suzet, die nach dem Verlust ihres
Lebensgefährten mit Einsamkeit und Resignation zu kämpfen hat, und der
totkranken Gertrude Rhoxus, der vielleicht einzigen Figur, die über ein
noch extremer ausgebildetes Empfindungsvermögen verfügt als Joshua, gehören
die Szenen zwischen Lisa und Joshua zu den berührendsten des Romans.
Das ununterbrochen harmonische Gekicher, bei dem selten auch mal eine
bestimmte Art von Young Adult Fiction anvibet, scheint dabei wieder nur
jene Form von Augenzwinkern zu sein, die in der Folge Passagen ermöglicht,
die in einem so offenen, unverstellten und verletzlichen Ton geschrieben
sind, dass der Rezensent gelegentlich das Buch auf die Knie sinken lassen
musste.
## Poetisierung der Gegenwart
Überhaupt empfiehlt es sich, „Prana Extrem“ langsam zu lesen. Zwar ist auch
der Plot abgefahren und unterhaltsam, die große Stärke des Texts liegt aber
in seiner Sprache. Es sind vor allem einzelne Formulierungen, die hängen
bleiben, etwa als Joshua und Lisa verschwitzt einen Berg besteigen und
Joshua freudig feststellt: „Wir sind so trill gemeinsam in Tirol.“
Groß’ Sprache ist hochgradig reflektiert und dabei gleichsam spielerisch,
witzig und ernst. Mühelos wechselt er zwischen Gamerlingo, Rap-Jargon,
[4][poststrukturalistischen] Theoriebegriffen und poetisierenden
Anachronismen wie „dräuend“ oder „gülden“. In der Kollision dieser
Sprachbereiche, aber auch in ihrer virtuosen motivischen Verschränkung,
werden Funken geschlagen, die in ihrer sprühenden Leuchtkraft genauso
faszinierend wie rätselhaft sind.
Naturbeschreibung gefolgt von einem [5][zeitphilosophischen] Gedankengang
gefolgt von einem Lil-Wayne-Zitat gefolgt von einem selbstironischen „Na
ja“. In der Überlagerung entstehen oft so etwas wie kleine
Transzendenzmomente, nicht als Transzendierung dessen, was da ist, sondern
im Sinne seiner hypersensiblen Durchdringung.
Die Welt morpht sich, um es mit einem Lieblingspräfix Joshuas zu sagen, in
ihn und die Lesenden „rein“. Als hätte man ein „klein bisschen Acid in d…
Dämmerung“ gedippt oder momenthaft die Skills einer Libelle inkorporiert,
die „so viel schneller als Menschen“ realisieren; ein Skill, den sich
Joshua im Sinne seines „Pranatrainings“ versucht anzueignen.
## Neu in der deutschen Gegenwartsliteratur
Zentrales Anliegen der Poetik von Joshua Groß ist es – und das ist auch
unter politischen Gesichtspunkten interessant –, aus dem Vorgefertigten der
Gegenwart herauszukommen, ohne das Vorgefundene eskapistisch auszublenden.
Gelingen tut ihm das dank einer trippig-sensiblen Prosa, die gleichsam
formbewusst wie welthaltig ist.
Mit das Spannendste daran: Obwohl Groß mit realistischen Erzählkonventionen
bricht und gerade auf sprachlicher Ebene durchaus experimentell arbeitet,
verschließt sich der Text nicht. Es sind eher zarte Verschiebungen, die das
Vorstellungsvermögen kitzeln und die Gehirnhaut zum Kribbeln bringen.
Verschmitzt und empfindsam hovert Groß durch die Hemmnisse, die uns
umgeben, und etabliert einen Ton in der deutschen [6][Gegenwartsliteratur],
der neu ist.
Innerhalb der Literaturszene wird der 33-jährige Joshua Groß viel
diskutiert, gerade unter jüngeren Autor:innen. Darüber hinaus ist er noch
ein Geheimtipp.
21 Oct 2022
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## AUTOREN
Valentin Wölflmaier
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