# taz.de -- Flanieren durch Berlin: Die Überstunden des Nervensystems | |
> Ist das, was auf dem Bildschirm passiert, die Welt? Oder bildet die Welt | |
> nur das ab, was auf dem Bildschirm passiert? Ein psychogeografischer | |
> Essay. | |
Bild: Social Distancing haben wir durch digitale Netzwerke längst perfektionie… | |
Meine Welt ist 13 Zentimeter lang und 7 Zentimeter breit. Ich browse durch | |
die Feeds. Sprache ist nur eine endlose Kette aus Befehlen. Ich lausche der | |
Partitur der Wohnung: Echos von Stimmen, Autos, die kommen und gehen wie | |
Meeresbrandung, und Vögel wie Synthesizer. Ich kann mich nicht | |
konzentrieren. | |
Ich klicke durch die Anerkennung der Anerkennung der anderen. Ist das Ich | |
nur ein Experiment, das auf einen Bildschirm starrt? Ist das, was auf dem | |
Bildschirm passiert, die Welt? Oder bildet die Welt nur das ab, was auf dem | |
Bildschirm passiert? | |
Wenn ich auf den Straßen Berlins spaziere, scheint sich die Welt nicht groß | |
von der digitalen zu unterscheiden, nur dass weniger Müll rumliegt. Ich bin | |
wie eine Figur in einem J.-G.-Ballard-Roman, deren Leben nur im Inneren | |
stattfindet. | |
Ich begegne Menschen, ohne ihnen zu begegnen, nehme sie wahr wie sie | |
vielleicht mich, aber nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen. Alle | |
Körper sind eine potenzielle Gefahr. So geht Biopolitik. Innen und außen | |
ist akribisch getrennt, aber beides fühlt sich an wie das jeweilige | |
Gegenteil. | |
Drinnen sollst du den ganzen Tag lang als kleiner blinkender Punkt auf der | |
digitalen Landkarte herumirren und so viele Daten wie möglich hinterlassen. | |
Draußen merkst du, dass diese Landkarte überall sein könnte. Berlin ist | |
[1][zu einem Dorf geschrumpft], in dem nichts los ist außer ein paar | |
Baustellen. | |
## Wo ist hier die Gegenwart? | |
An der Supermarktkasse werde ich von Frustrierten als Schwuchtel | |
„beschimpft“, weil ich mich angeblich vorgedrängelt habe, und im Park | |
bedrängen mich Gitarrenakkorde, die pastorale Idyllen heraufbeschwören, als | |
sei 1979. | |
Wo ist hier die Gegenwart? Wie bekomme ich diese Stadt und ihre | |
Verheißungen zurück? Den Schauer der Entfremdung beim Flanieren, die | |
unrealistischen Versprechungen der Kunst, die Breakbeats und Reese-Bässe im | |
Club, die meine Wahrnehmung angenehm verzerren und neu justieren? | |
Fast alle chauvinistischen Rundumschläge, die über die Pandemie zu lesen | |
sind, bemühen die Metapher, sie wirke wie ein Brennglas. Doch hat sie nicht | |
vielmehr den schönen Instagram-Filter zwischen Ich und Wirklichkeit | |
gelöscht, sodass jetzt alles klar zu sehen ist? Es gab nie eine | |
märchenhafte Welt, in der Gefühle oder der Wind in den Bäumen noch echt | |
wären. [2][Schwarze und People of Color] mussten immer schon mit dem | |
Schlimmsten rechnen, wenn sie Blaulicht erblicken. | |
Sexarbeiter*innen, Pflegedienste, Senior*innen, Migrant*innen, | |
Kulturarbeiter*innen, Künstler*innen und, ja, auch Kinder waren schon immer | |
ziemlich unfrei. Und [3][ich als weißer Mann] wurde zwar nicht ständig | |
diskriminiert, beleidigt oder bedroht, aber verbringe schon seit Jahren den | |
größten Teil des Tages vor dem Bildschirm. | |
Ich habe Social Distancing perfektioniert, ohne es so zu nennen, während | |
das System von meinem prekären Dasein profitiert, weil vereinzelte Wesen | |
keine Gruppen mit physisch präsenten Körpern bilden, sondern höchstens | |
Netzwerke, die keine Gewerkschaften haben. Und hatte mein Nervensystem | |
nicht schon seit Jahren täglich zu viele Überstunden gemacht? | |
## Gruppen ohne Körper sind immerhin noch Netzwerke | |
Frage ich mich, als ich zu Hause ankomme. Erst mal durchatmen, meinen | |
Bruder anrufen, „Buzz Lightyear“ von Lady Likez oder „Tender is the Touch | |
of White Liberal Complicity“ von [4][Kepla & DeForrest Brown] hören oder | |
so. Gruppen ohne Körper sind immerhin noch Netzwerke. | |
Ihre Welten sind zwar klein (13 Zentimeter lang, 7 Zentimeter breit), | |
lassen sich aber erweitern. Vor kurzem las ich, dass es kaum mehr eine | |
Stadt mit Brachflächen gebe, die ja immer auch symbolische Inseln für | |
Unverfügbarkeit sind. | |
Selbst in Berlin darf keine Fläche ungenutzt bleiben. Wäre es nicht ein | |
Anfang, solche Orte jetzt im Digitalen zu errichten, um sich die | |
Produktionsmittel der Subjektivität zurückzuerobern? Eine S-Bahn schleicht | |
sich in mein Sichtfeld und klingt wie eine langsame, zurückgespulte Melodie | |
von Boards Of Canada. | |
Vielleicht sagt sie: Mach es so wie ich, bleib immer in Bewegung, schau dir | |
alles an, aber mach dich mit nichts gemein, schlag keine Wurzeln, glaub an | |
nichts, das fest ist: Sei unverfügbar! | |
20 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Kulturtipps-im-Netz/!5668890 | |
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[3] /Vorstoss-gegen-Rasse-im-Grundgesetz/!5693371 | |
[4] https://soundcloud.com/arcanepatterns/arcane-patterns-w-deforrest-brown-jr | |
## AUTOREN | |
Philipp Rhensius | |
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