# taz.de -- Allein unter Senioren während Corona: Zuhören, nicht selbst perfo… | |
> Im Krankenhaus ist unsere Autorin mit Abstand die Jüngste. Auch sonst hat | |
> die Gesellschaft sehr viel älterer Menschen ihre Vorzüge. | |
Bild: Beste Gesellschaft im Krankenhaus: die Alten | |
„Ich mag alte Menschen lieber als alle anderen Menschen. Sie sind schon | |
irgendwie durch mit dem ganzen prätentiösen Teil des Lebens“, dringt es | |
über Kopfhörer an mein Ohr. Die Stimme, die das sagt, gehört Sarah Kuttner, | |
der Gedanke ihrem Hauptcharakter Jule aus dem Roman „180 Grad Meer“. 2015 | |
ist er erschienen, für mich entdeckt habe ich ihn erst jetzt und auch nur | |
als Hörbuch. | |
Zum Lesen habe ich gerade ohnehin nicht die Kraft, ich habe Schmerzen und | |
liege auf einem höhenverstellbaren Krankenhausbett. Mit mir im Zimmer sowie | |
in den umliegenden sind außer mir nur alte Menschen mit kaputten | |
Handgelenken, Knien und Hüften, aber auch mit nicht mehr ganz | |
funktionsfähigen Köpfen. | |
Einer von ihnen ist Herr U. – ich weiß seinen Namen nur, weil er auf einem | |
selbst bemalten DIN-A4-Blatt an seiner Zimmertür klebt. Er ist schon etwas | |
eingegangen, hat kaum mehr Haare, und seine Ohren stehen weit vom Kopf ab. | |
Er erinnert mich an eine Mischung aus Nosferatu und Dobby, den Hauselfen | |
aus den „Harry Potter“-Filmen. Sein Alter kann ich nicht schätzen, | |
eigentlich wirkt er eher kindlich als greisenhaft. | |
Er ist noch mobil, äußerst sogar, denn gleich um welche Tageszeit, hört man | |
ihn auf seinen Adiletten durch den Flur schlappen. Seiner Bettflucht folgt | |
meist die Suche nach selbigem. Mehrmals täglich stapft er in unser Zimmer, | |
fest davon überzeugt, es wäre seines. Weist man ihm den Weg zu seinem | |
Zimmer, nickt er dankbar, nur um weniger Minuten später abermals | |
umherzustreifen. | |
Friedlich schlafende Menschen | |
Sprechen tut er nicht viel. Nur einmal erfahre ich etwas, das mir einen | |
Blick in ein, wie ich annehme, schon vergangenes Leben gewährt. „Heute habe | |
ich kein Glück“, lässt er mich wissen. Er wolle doch eigentlich ins | |
Jüdische Krankenhaus, seine Frau liege dort. „Aber da sind Sie gerade“, | |
versuche ich zu erklären, ahne aber schon, dass es nicht die richtige | |
Antwort ist. „Nicht wirklich“ – seiner Antwort folgt ein verschmitztes | |
Lächeln, als wüsste er etwas, was mir und allen anderen entgangen ist. | |
Flaniert er nicht gerade durch die Station, macht Herr U. sich nützlich; | |
sortiert herumstehende Rollstühle und Transportwägen, wischt das hölzerne | |
Geländer mit einem violetten Staubtuch oder hilft bei der Essenausgabe. | |
Nachts liegt er einmal in seinem Bett im Flur vor dem Schwesternzimmer. | |
Unter Beobachtung, denke ich mir, denn ein ums andere Mal hat er bereits | |
versucht, zum Rauchen auszubüxen. | |
Eigentlich will ich mir nur Ohrstöpsel gegen das Schnarchen meiner | |
Zimmergenossin holen. Doch dann kann ich die Augen kaum von diesem | |
friedlich schlafenden Menschen wenden. „[Alte Menschen] haben sich oft | |
bereits abgefunden mit dem Jetzt, ihre Masken sind größtenteils schon | |
abgebröckelt, darunter nur noch purer alter Mensch“, kommt mir ein weiterer | |
Satz aus Kuttners Geschichte in den Sinn. Erst hier, in diesem Krankenhaus, | |
fällt mir auf, wie beruhigend ich selbst die Gesellschaft alter Menschen | |
finde. | |
Nicht performen müssen | |
Viele meiner Millennial-Freund*innen empfinden es als Zumutung, Zeit mit | |
ihnen zu verbringen, selbst wenn es sich um die nächsten Verwandten | |
handelt. Wie etwas Lästiges werden alljährliche Feiertagsbesuche ungeduldig | |
und möglichst schnell abgearbeitet, Fragen der Älteren standardisiert | |
beantwortet – so genau verstehen die ja ohnehin nicht, was man beruflich | |
tut. | |
Für mich ist das anders; seit Monaten freue ich mich auf ein Wiedersehen | |
mit Großeltern, -tanten, -onkeln. Seit Monaten ist da aber auch diese | |
Sorge, die mich manchmal heimsucht und daran erinnert, wen diese Pandemie | |
besonders gefährdet. | |
Was genieße ich eigentlich so an der Gesellschaft der viel Älteren? | |
Vielleicht ist es genau das; in ihrer Gegenwart kann ich einfach nur | |
zuhören, muss nicht performen oder Eindruck schinden. Oder um es mit | |
Kuttner zu sagen: „[Alte Menschen] vermitteln einem nicht, dass man ihnen | |
etwas schuldet, zu wenig ist.“ | |
16 Jul 2020 | |
## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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