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# taz.de -- Corona und Altenheime in Bayern: „Man kann an Vereinsamung sterbe…
> In Bayerns Altenheimen dürfen sich Bewohner nicht näher als 1,5 Meter
> kommen. Eine Petition will das ändern und fordert: Weniger Abstand, mehr
> Würde.
Bild: In Bayern derzeit verboten: Körperkontakt von Bewohnern in Altenheimen
München taz | Richard Reich ist auf dem Sprung. Er und seine Frau wollen
gleich noch deren Tante besuchen. Was gar nicht so unkompliziert ist, wie
es klingt. Denn die Tante wohnt im Altenheim, und bayerische Altenheime
gleichen derzeit Hochsicherheitstrakten – nur dass es in diesem Fall darum
geht, die [1][„Insassen“ vor der Allgemeinheit zu beschützen.]
88 Jahre ist die Tante jetzt alt und braucht Betreuung. Sie leidet unter
Depressionen und beginnender Demenz. Bis vor einem Jahr konnte sie noch zu
Hause gepflegt werden, doch dann starb der Mann, und es gab keine andere
Lösung mehr: Sie zog ins Heim. Anfangs gefiel es ihr dort ganz gut. Aber
dann kam Corona.
Wie alle anderen Heimbewohner in Bayern durfte wie wochenlang überhaupt
keinen Besuch mehr empfangen. Und auch innerhalb des Heims hieß die Devise:
Abstand. Eine Regelung, die noch immer gilt. In der Allgemeinverfügung des
Gesundheitsministeriums zu Regelungen in Pflegeeinrichtungen heißt es: „Es
ist jederzeit und von jeder Person in der Einrichtung grundsätzlich ein
Mindestabstand zu weiteren Personen von mindestens 1,5 Metern einzuhalten.“
Ausgenommen davon sind lediglich pflegerische Tätigkeiten des Personals,
bei denen das Abstandhalten nicht möglich ist.
Eine Entfernung, die besonders weit ist, wenn diesseits und jenseits dieser
1,5 Metern zwei Menschen sitzen, die vielleicht schon sehr schwerhörig sind
oder an Demenz leiden und ohnehin nur noch auf Kommunikation durch
Berührung reagieren. „Sie will auch körperliche Nähe“, sagt Richard Reich
über die Tante. Seit Corona habe sie kognitiv und psychisch dramatisch
abgebaut. „Wir waren erschüttert, wie schnell das geht.“
## Schutzmaßnahmen nicht im Interesse der Senioren
Jetzt versuchen Reich und seine Frau mit der alten Dame wenigstens während
der Besuchszeiten nachzuholen, was noch nachzuholen ist. Meist holen sie
sie dann für kurze Zeit aus dem Heim. Heute gehen sie mit ihr ins Café. Den
Platz auf der Terrasse, wo man etwas abseits sitzen kann, haben sie bereits
reserviert. Oder letztens, da haben sie eine kleine Spritztour gemacht. Die
alte Frau sei richtig aufgedreht, habe lauthals mitgesungen, als Reich eine
CD mit Liedern aus ihrer Jugend aufgelegt hat. Musik aus einem
Marika-Rökk-Film: „Maske in Blau“. Ausgerechnet.
Aber jedes Mal kommt dann der Moment des Abschieds, und der fällt der
88-Jährigen immer schwerer. Warum sie denn nicht noch mit reinkommen, fragt
sie dann, versteht es nicht, wird wütend. Und muss schließlich allein
wieder zurück in die Isolation. „Ihr wurde ein Stück weit der Lebensmut
genommen“, sagt Reich.
Was aber bringt das Leben, wenn der Lebensmut fehlt? Sind die
Schutzmaßnahmen tatsächlich noch im Interesse der alten Menschen? Nein,
finden drei Mitarbeiterinnen eines Coburger Altenheims und haben jetzt eine
Onlinepetition auf den Weg gebracht. Der Titel: [2][„Abstand heißt
Einsamkeit“]. Die Petition, die sich an das bayerische
Gesundheitsministerium richtet, hat eine einzige Forderung: das
Abstandsgebot innerhalb eines Wohnbereichs eines Altenheims fallen zu
lassen, also in der Regel für Gruppen von rund 20 bis 30 Personen.
Sie wollten keine Vermischung der Bewohner verschiedener Wohnbereiche,
stellen die drei Initiatorinnen der Petition klar, auch keine Lockerung der
Abstandsregelung für Mitarbeiter und Besucher. „Wir wollen lediglich die
Bewohnerinnen und Bewohner von der Abstandsregelung zueinander befreien und
ihnen ein Stück Normalität, Gemeinschaft und Bedürfnisbefriedigung
ermöglichen“, schreiben sie in der Petition. „Aktuell lassen wir unsere
Bewohner sehenden Auges vereinsamen.“
## „Es sind nicht mehr die gleichen Menschen“
Die drei Frauen wollen das Sprachrohr der Alten sein, die sich meist selbst
nicht mehr artikulieren können. Noch bis zum 25. Oktober kann man
unterschreiben.
Die Altenpflegerinnen kritisieren, dass die Maßnahmen im Heim dieselben
seien, die man aus dem öffentlichen Raum kenne. Für die Heimbewohner
betreffe das jedoch ihr Zuhause. „Wir können zumindest zu Hause ein
normales Leben führen – wie vor Corona“, sagt Czwielongs Kollegin Gabriele
Schier. „Aber genau das ist den Heimbewohnern verwehrt. Und wir sehen ja
bei der tagtäglichen Arbeit, wie die Leute drunter leiden, wie sie abbauen.
Es sind einfach nicht mehr die gleichen Menschen.“
Regelmäßig werden die Heimmitarbeiterinnen Zeuginnen der Verzweiflung der
alten Menschen und ihrer Versuche, dem vermeintlichen Schutz zu entgehen.
Czwielong erzählt von einer Bewohnerin, die einer anderen einen Kaffee
einschenken wollte, aber die trennende Plexiglasscheibe nicht gesehen hat.
„Dann ist sie immer wieder mit der Kaffeekanne gegen diese Scheibe gestoßen
und schließlich unheimlich wütend und verzweifelt geworden. Ich musste
dazwischen gehen, damit die Plexiglasscheibe nicht umfällt.“
Oder die beiden fast hundertjährigen Frauen, die vor der Pandemie jeden Tag
miteinander verbracht haben, eine saß im Rollstuhl, die andere schob sie
durchs Haus. Die Corona-Schutzmaßnahmen hätten diese Freundschaft nun
beendet – wenn die beiden Frauen sich daran gehalten hätten. Tun sie aber
nicht. Sie besuchen sich heimlich weiterhin, verstecken sich im Zimmer und
gehen schnell auseinander, sobald eine Schwester kommt. „Muss man sich mit
fast 100 Jahren verstecken – weil man seine Freundin trifft?“, fragen die
Heimmitarbeiterinnen. „Durch die Abstandsregeln entstehen Situationen, die
für uns nichts mehr mit Würde zu tun haben.“
## Psychische Gesundheit in Gefahr
Und gefährden die beiden tatsächlich sich und andere durch ihr verbotenes
Handeln? Ist ihre gelebte Freundschaft ein Sicherheitsrisiko? „Die Gefahr
ist so gering, dass diese Abstandsregelung einfach unverhältnismäßig ist“,
argumentiert Gabriele Schier. „Schutzmaßnahmen sind wichtig, aber was für
einen Sinn macht es, nur den Körper zu schützen, wenn die Seele leidet? Man
kann auch an Vereinsamung sterben.“
Natürlich sitzt der [3][Schock von Würzburg] noch tief. Dort hatte das
Virus zu Beginn der Pandemie im Altenheim St. Nikolaus gewütet. Mehr als
die Hälfte der Bewohner infizierte sich, 25 starben. Richard Reich plädiert
dennoch für einen „angstfreieren Umgang“ mit dem Virus. Im März und April
sei man kalt erwischt worden. „Aber jetzt haben wir eine andere Situation.
Wir können testen, wir können für mehr Sicherheit sorgen.“
Ob er schon unterschrieben habe? Andreas Krahl freut sich über die
Erinnerung. Nein, aber das werde er gleich nach dem Telefonat nachholen.
Krahl ist Landtagsabgeordneter der Grünen und in seiner Fraktion für die
Themen Pflege und Senioren zuständig, hat selbst lange in der Krankenpflege
gearbeitet. Natürlich gebe es das Restrisiko einer Ansteckung, sagt er.
„Aber wie kommt denn das Virus rein? Das fliegt ja nicht einfach durch die
Tür.“
Entscheidend sei daher, die Maßnahmen zu verstärken, die das Virus erst gar
nicht ins Heim ließen. Krahl fordert regelmäßige Tests für die Menschen,
die zur Arbeit in die Heime kämen. Und eine bessere Schutzausrüstung. So
sollten FFP2- oder FFP3-Masken flächendeckend zur Verfügung gestellt
werden. Aber für die Bewohner eines Wohnbereichs sollte man die
Vorschriften lockern, das findet auch Krahl. „Das ist doch die gleiche
Situation wie in einem Privathaushalt. Zu Hause trage ich auch keine
Maske.“
## Gesundheitsministerin konzentriert sich auf Besuche
Warum die bayerischen Regelungen dennoch so streng sind, ist ihm genauso
wie den Heimmitarbeiterinnen aus Coburg unbegreiflich. „Die anderen
Bundesländer sind da deutlich lockerer“, sagt Gabriele Schier. Der
Landkreis Coburg grenzt direkt an Thüringen. „Da gibt es das überhaupt
nicht. Da können die Heimbewohner ganz normal leben.“
Warum also ist das in Bayern nicht möglich? Gesundheitsministerin Melanie
Huml antwortet auf Anfrage der taz schriftlich und ausweichend: Gerade bei
Demenzerkrankten seien Berührung und Nähe ein wichtiges Mittel zur
Kommunikation, räumt die CSU-Politikerin einerseits ein und verspricht:
„Wie wir diese wichtige Nähe in der aktuellen Situation ermöglichen können,
prüfen wir derzeit.“ Andererseits betont sie: „Das A und O ist der
Mindestabstand von 1,5 Metern.“ Das Abstandsgebot könne „mit geringem und
zumutbarem Aufwand“ eine Ansteckung verhindern. Dies könne auch helfen,
Besuchsmöglichkeiten aufrechtzuerhalten.
Überhaupt legt die Gesundheitsministerin ihren Schwerpunkt auf das Thema
Besuche, nicht auf den Kontakt der Heimbewohner untereinander. „Der Schutz
der Pflegedürftigen vor Einsamkeit liegt mir sehr am Herzen“, sagt sie, und
deswegen setze sie alles daran, drastische Maßnahmen wie etwa ein
generelles Besuchsverbot zu vermeiden. Im Gegenteil: Sie drängt die Heime
sogar dazu, Besuche auch auf den Zimmern der Bewohner zuzulassen.
Das komme überhaupt nicht in Frage, sagt Cornelia Thron, Chefin der Caritas
im Landkreis Kronach, die dort beispielsweise das Alten- und Pflegeheim St.
Elisabeth betreibt. Der Umgang mit den Besucherregeln sei ja gerade das,
was ihr Bauchschmerzen bereite. Schließlich ist die Infektionsgefahr bei
Besuchen um einiges höher als innerhalb des Heims.
Und der Mindestabstand zwischen den Bewohnern – wie geht sie damit um? Gar
nicht. Innerhalb eines Wohnbereichs von St. Elisabeth müssten die
Heimbewohner keinen Mindestabstand einhalten. Auch Plexiglasscheiben gebe
es hier nicht. Und das alles mit dem Segen des Gesundheitsamtes. Auch die
Heimaufsicht sei bereits da gewesen und habe nichts zu beanstanden gehabt.
Vielleicht kommt es ja doch nur auf die richtige Auslegung der
ministeriellen Vorgaben an.
18 Oct 2020
## LINKS
[1] /SeniorInnen-in-der-Coronakrise/!5689181
[2] https://www.openpetition.de/petition/online/abstand-heisst-einsamkeit-alten…
[3] /Wuerzburger-Seniorenheim-ist-Hotspot/!5674965
## AUTOREN
Dominik Baur
## TAGS
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