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# taz.de -- Senior:innen und die Coronakrise: Alter, da geht was!
> Seit Corona existieren alte Menschen nur noch als Risikogruppe. Dabei ist
> Altsein so viel mehr. Sechs Protokolle von Berlinern zwischen 74 und 82.
Bild: Raus und bewegen, egal welches Wetter: die 82-jährige Karin Schilff läu…
Das Alter gehört zum Leben wie Geburt und Tod. Keiner entgeht ihm. Und
trotzdem ist keine Lebensphase so tabubesetzt. Selbst Hochbetagte
unterliegen noch dem gesellschaftlichen Jugendwahn, hat Elke Schilling
festgestellt. „In eine Begegnungsstätte für Senioren gehe ich nicht,“
hätten ihr 87-Jährige erzählt. „Da sind ja nur alte Leute.“
Schilling, mittlerweile selbst 76, war Seniorenvertreterin im Bezirk Mitte.
2018 hat sie Silbernetz ins Leben gerufen – ein telefonisches
Gesprächsangebot für alte Menschen. Zunächst hieß das Telefon
Einsamkeitstelefon. Aber da rief kaum jemand an. Einsam? Ich doch nicht!
Dann könnten Leute ja denken, man habe ein soziales Defizit. Erst die
Coronapandemie und das Zurückgeworfensein auf die eigenen vier Wände hat
Einsamkeit bei Jung und Alt gesellschaftsfähig gemacht. 40.000 Anrufe hat
Silbernetz seit März dieses Jahres verzeichnet.
Aber auch das hat Covid-19 bewirkt: Alte Menschen existieren vorrangig als
Risikogruppe. Von den vielen Dingen, die das Altsein eigentlich ausmachen,
spricht niemand mehr. Die taz hat sechs Berlinerinnen und Berliner zwischen
74 und 82 aus unterschiedlichen Milieus gefragt, wie es sich anfühlt, alt
zu sein. Ist es wirklich so, wie es einem die Alten erzählt haben, als man
jung war? Was ist von Belang, und wie wird man von der Umgebung
wahrgenommen?
Berichtet wird in den Gesprächen auch von körperlichen Veränderungen und
Gebrechen und von angsteinflößenden Erlebnissen in der unmittelbaren
Nachbarschaft. Einsam, vergessen, tot: Dass zwei alte Leute wochenlang in
ihrer Wohnung gelegen haben, bis es auffällt. Wie oft in Berliner
Haushalten Menschen verwesen, darüber wird offenbar keine Statistik
geführt. Weder die Polizei noch die Senatsverwaltung für Gesundheit konnte
der taz darüber Auskunft geben.
Berlinweit haben 19,1 Prozent der Bevölkerung die 65 überschritten. Nach
Hamburg ist die Hauptstadt das zweitjüngste Bundesland. In Sachsen-Anhalt
gibt es mit 27 Prozent am meisten Alte.
## „Je ärmer, umso kränker“
Glück und Zufriedenheit im Alter hängen von unzähligen Faktoren ab. Eine
große, wenn nicht die größte Bedeutung für das Wohlbefinden im Rentenalter
spielen die materielle Situation und die Gesundheit. Das Bezirksamt Mitte
hat in seinem 2020 veröffentlichten Sozialbericht die Altersarmut
untersucht: In Mitte beziehen 12,5 Prozent der über 65-Jährigen
Altersgrundsicherung – was Hartz IV entspricht. Das sind mehr als doppelt
so viele wie im Berliner Durchschnitt, der 6,1 Prozent beträgt.
Die finanzielle Lage hat große Auswirkungen auf das gesundheitliche
Befinden. „Grundsätzlich gilt: Je ärmer, umso kränker“, sagt der Soziolo…
Jeffrey Butler, der den Sozialbericht regelmäßig erstellt. Unabhängig davon
nehmen chronische Erkrankungen im Alter grundsätzlich zu. Berlinerinnen
haben mit 83,4 Jahren im Durchschnitt eine um 5 Jahre höhere
Lebenserwartung als Berliner. In der Altersgruppe der 85- bis 90-Jährigen
ist das männliche Geschlecht laut Statistischem Landesamt
Berlin-Brandenburg nur noch mit 36 Prozent vertreten. Ab 95 wird es für die
Frauen richtig einsam: In dieser Altersgruppe gibt es nur noch 19 Prozent
Männer.
Folgt man einer Studie des Deutschen Instituts für Altersvorsorge, fühlen
sich die Deutschen im Schnitt allerdings 10 Jahre jünger, als sie sind.
Mehrheitlich werden erst über 70-Jährige als „alt“ angesehen. Große
Unterschiede gibt es bei den Berufsgruppen. Während ungelernte Arbeiter am
häufigsten sagen, dass das „Alter“ schon mit 60 Jahren einsetzt, beginnt es
für jeden fünften Freiberufler sogar erst ab 80 Jahren.
Der Ausstieg aus dem Erwerbsleben in den Ruhestand ist für die meisten ein
großer Sprung. Man muss sich neu definieren. Die einen empfinden das als
Freiheit, andere fallen in ein tiefes Loch. Nicht jeder ist in einer
Partnerschaft aufgehoben, hat Familie und/oder Freunde.
Dazu kommt die große Frage: Was passiert, falls wir nicht mehr so können,
wie wir wollen, oder gar nicht mehr wissen, wie wir heißen und wer wir
sind? Wer sorgt für uns, wo finden wir ein Zuhause?
## Der Lebensort Vielfalt
Noch immer gibt es viel zu wenige Angebote, die sich an den individuellen
Bedürfnissen der Bewohner:innen ausrichten, sagt Dieter Schmidt vom
Netzwerk Anders Altern der Berliner Schwulenberatung. Für den Lebensort
Vielfalt etwa, in dem seit acht Jahren vor allem schwule ältere Männer
wohnen und auch gepflegt werden können, gibt es eine Warteliste von 400
Menschen – bei gerade mal 24 Wohnungen und einer Pflege-WG. Weitere
Angebote sollen nun folgen.
„Es geht uns hier aber nicht um eine Extrawurst für unsere Community“, sagt
Schmidt. „Sondern generell um diversitätssensible Pflege, um gelebte
Vielfalt.“ Wenn man diese Vielfalt in den Fokus nehme, werde es plötzlich
ganz leicht, sagt Schmidt. „Dann kann man wirklich anders altern.“
Dass sich die meisten Menschen mit diesen Fragen erst beschäftigen, wenn
sich das Alter nicht mehr leugnen lässt, mag Verdrängung sein. Als ob die
eigene Vergänglichkeit erst wahr würde, wenn man sich mit ihr befasst. Die
Beschäftigung mit dem Alter und mit alten Menschen macht doch nicht alt,
sagt die 82-jährige Karin Schilff. „Da wirste jung dabei.“
Elke Schilling von Silbernnetz geht noch weiter. Es gebe einfach Dinge, die
könne man nur als alter Mensch tun. „Wenn ich das nicht sehe, weil mir
meine Vorurteile im Weg stehen, versäume ich ganz viel.“
## „Ich laufe Marathon, um anzugeben“
Von Karin Schilff lässt sich wahrlich etwas lernen über innere Jugend. Die
82-Jährige ist viel mehr als nur Berlins älteste Marathonläuferin
1938 wird Karin Schilff geboren. Aus dem kleinen Dorf hinter Posen fliehen
Großeltern, Mutter und drei Kinder im Winter 1944 in einem
Flüchtlingstreck, die Familie wird um ein Haar erschossen. Ein Zimmer in
Prenzlauer Berg wird zum Gefängnis der drei kleinen Schwestern, die Mutter
schließt sie stundenlang ohne Essen und Trinken dort ein. Als der Vater aus
der Kriegsgefangenschaft kommt, verschwindet die Mutter. Der Vater ist so
gewalttätig, mit Siebenstriemer und Gürtel, dass die Kinder bei der Polizei
bitten, ins Heim zu kommen. Ohne Erfolg.
Einen Schulabschluss wird Schilff nie machen, mit 16 beginnt für sie die
jahrzehntelange Akkordarbeit in der Fabrik. Mit 17 begegnet Schilff dem
Mann, der sie aus dem Haus des Vaters holt. 53 Jahre leben sie zusammen,
bekommen einen Sohn, ziehen an den Rand des Grunewalds. Sie reisen in alle
Welt, Indien, Südafrika, Brasilien, Ägypten. Gemeinsam trainieren sie für
den Berliner Marathon, sind im Wanderverein. Vor 13 Jahren stirbt der
Ehemann. Karin Schilff wollte in diesem Jahr eigentlich ihren 23.
Berlin-Marathon laufen.
Heute bin ich losgelaufen, mit H. in den Grunewald, bei trübem Wetter, was
soll’s. Und dann brechen da die Wolken auf, die Sonne kommt raus, und ich
denke, was bin ich glücklich. Aber dann haben wir uns doch tatsächlich
verlaufen im Grunewald, so was! Zurück beim Rad bin ich mit 100 Sachen
hierher, sonst wäre ich doch zu spät gekommen, halb im Stehen bin ich
gefahren. Und da freue ich mich. Mensch, was du noch machst mit deinen 82
Jahren! Dann bin ich auch ein bisschen stolz.
Laufen, um fit zu bleiben, den Gedanken habe ich bis heute nicht. Ich laufe
Marathon, um anzugeben. Ja wirklich. Aber jetzt kommt es: Wenn die anderen
immer sagen, wo sie überall studiert und gearbeitet haben, erste Tür vorm
Chef. Haben ja auch alle zwei Autos. Und dann fragen die mich: „Wo haben
Sie denn mal gearbeitet, was haben Sie denn gelernt?“
## Mit offenen Augen, offenen Ohren
„Ich bin nur eine Fabrikarbeiterin, immer im Akkord“, sage ich dann. „Aber
sind Sie schon mal Marathon gelaufen?“ Das ist das Einzige, wo ich denke,
ich kann mich hervortun. So schlimm das klingt, ich habe doch sonst nichts
vorzuweisen. Alles, was ich gelernt habe … das Leben ist meine Schule. Mit
offenen Augen, mit offenen Ohren und immer nachdenken, bevor ich etwas
sage.
Ich nehme alles wahr, und ich kriege auch alles mit. Weil ich selber mal
eine Gebeutelte war, haben sich alle meine Sinne erhalten. Diese kindliche
Neugier, weil ich nicht erwachsen werden konnte. Und mich interessiert
alles: Geschichte, Bilder, alte Bauwerke. Das ist auch meine Erklärung,
warum ich trotz allem, trotz des Verlusts meines Manns, trotz dessen, dass
mich niemand so richtig wahrnehmen will, so einen Spaß habe am Leben.
Ich bin ja ein Außenseiter geworden, weil ich kein Internet habe. Im
Fernsehen sagen die dann: „Wenn sie mehr wissen wollen, dann schauen sie
unter www …“ Ich könnte mir das kaufen, will ich aber nicht. Das ist doch
einer der Gründe, warum mein Umfeld behindert wird. Die sitzen nur noch vor
ihrem Smartphone und bewegen sich nicht mehr. Ich will nicht überall Fotos
machen, und ich will auch nicht überall welche kriegen. Wenn ich das sehe:
Auch im Wald, da laufen die schon so rum, mit dem Bildschirm vorm Gesicht.
Ich höre beim Laufen das Vogelzwitschern. Ich will doch alles wahrnehmen.
Wenn ich was wissen will, dann google ich das hier in meinem Brockhaus. Hat
mein Mann schon immer gesagt: „Du musst nachschlagen, Puppe!“ Der Brockhaus
ist von 1957, das ist das Jahr, in dem wir geheiratet haben. Die da
drinstehen, die leben ja alle nicht mehr.
## Heute klingelt keiner mehr spontan
Ach, wenn ich daran zurückdenke, wie ich meinen Mann kennengelernt habe,
manchmal wenn ich allein im Schlafzimmer liege, da ist er ja auch
verstorben. Dann will ich das doch alles noch mal fühlen. Das war so schön,
bleibt schön. Ewig schön.
Wir hatten früher immer volles Haus, unsere Tür war immer offen. Jemanden
einladen, das mussten wir doch gar nicht. Wenn es geklingelt hat, schnell
alles, was rumlag ins Schlafzimmer, das räumen wir später auf. Hauptsache,
rein die Leute, und schon saßen wir da zu acht in der kleinen Wohnung. Ich
fand das gemütlich.
Heute klingelt keiner mehr spontan, das ist vorbei. Der eine sagt, ach, da
muss ich so weit fahren. Der andere macht Punkt 12 Mittag. Die andere kommt
nicht mehr, weil ich Witwe bin und sie noch einen Mann hat, was soll der
denn dann machen …
Ich hätte gern jemanden, der mit mir ins Museum geht. Ich kenne viele
Menschen, aber kaum jemanden, der meine Interessen teilt. Ich mit meiner
romantischen Art. Wenn ich mir Bilder anschaue, dann sehe ich mich darin.
Aber alleine, nee. Ich muss doch sagen können: Guck mal, findste dit nich
schön?!
## Da ist Licht, und da sind Leute
Einsamkeit spielt eine Rolle, ja. Ab 16 Uhr ist es dunkel, dann ist die
Nacht so lang, ich geh nicht vor eins schlafen. Es gibt da diesen Spruch:
„Das Bewusstsein ist nur ein Tropfen, aber das Unterbewusstsein ist der
Bodensee.“ Alles, was man mit sich rumschleppt, das ganze Leben, alles, was
ich verdrängt habe – ich bin doch eine Verdrängungskünstlerin, das war mein
Überleben.
Aber manchmal kommt ein Bläschen hoch, dann geh ich raus, dann sitze ich
hier nicht alleine rum. Mit dem Fahrrad über die Brücke, nach Halensee. Da
ist Licht, und da sind Leute. Und dann fühle ich mich wohl. Dann kaufe ich
da auch was, Kartoffeln oder Brot oder was, nur noch Gesundes. Und dann
sehe ich, wie sich da eine ältere Dame am Regal reckt, und ich sage:
„Kommen Sie, ich hole Ihnen das runter.“ Und dann schaut die mich an und
sagt: „Sie? Sie können doch selber nicht mehr.“ Doch, ich kann. Ich
vergesse dann, dass ich alt bin.
Wenn ich dieses Jahr noch mal den Marathon hätte laufen können … Ich hätte
auf Teufel komm raus trainiert, dass ich das schaffe. Nach mir sind ja
immer noch 2.000 Läufer reingekommen, ich war nicht die Letzte mit dem
Besenwagen, obwohl ich so alt bin. Nächstes Jahr? Ich glaub nicht, dass das
noch mal was wird. Irgendwann ist vielleicht doch Schluss.
Ich laufe immer in Weiß, von oben bis unten. Bin ich die Einzige. Auf dem
Rücken steht dann: „Karin läuft jetzt den soundsovielten Marathon.“ Ganz
groß, ab dem 10. Berliner Marathon steht das da. Und wenn mich welche von
hinten überholen, da sehen die doch nicht, dass ich über 80 bin: Schlank,
ganz in Weiß, blonder Zopf, 22. Marathon. Und dann, wenn die vorbeikommen
und mich von vorn sehen – diese Überraschung! Ich muss jedes Mal so lachen.
Soll man ja eigentlich nicht, weil man dann aus dem Tritt kommt.
## Bewegen, bewegen, bewegen
Der Gedanke, dass ich gebrechlich werden könnte, der hat bei mir noch
keinen Raum genommen. Gebrechlich, was heißt das überhaupt? Die Leute
werden krank, brechen sich ein Bein oder was, und dann bewegen sie sich
nicht mehr. Dann nehmen sie zu und dann bewegen sie sich noch weniger. Dann
fahren sie nur noch Rolltreppe und überall mit dem Auto hin. Du musst dich
aber bewegen, bewegen, bewegen.
Das war auch das Erste, was ich in der Altenpflege gelernt habe. Nach der
Wende war ich arbeitslos, die Fabrik ist ja weggezogen. Da habe ich in der
Altenpflege angefangen, ambulant bei den Leuten zu Hause. Haben alle
gesagt: „Was, mit den alten Leuten? Da wirste doch selber alt.“ Stimmt ja
gar nicht, da wirst du jung dabei. Da kommst du rein, und die sagen:
„Mädchen, komm mal her, du Jungspund.“ Ich war da über 50, aber bei denen
war ich unglaublich jung.
Und ich habe den Leuten so gern zugehört. Irgendwann hieß es dann von der
Einsatzleitung: „Karin, die fragen immer alle nur noch nach ‚Zöpfchen‘�…
so nannten sie mich wegen dem langen Zopf. „Was machst du da eigentlich mit
den alten Leuten“, hat die Einsatzleitung gefragt. „Ich mache doch nichts,
ich höre einfach nur zu“, habe ich gesagt. Die hatten immer ganz rote
Bäckchen, wenn ich gegangen bin.
Und ich bin so froh, dass ich das gemacht habe, weil jetzt weiß ich, wie
wichtig das ist. Die Geschichten, die will doch sonst keiner hören. Und
wenn ich jetzt mal erzählen kann, dann bin ich auch froh. Wenn unser
Gespräch heute zu Ende ist, bin ich erschöpft. Aber angenehm erschöpft. Mit
roten Bäckchen. Protokoll: Manuela Heim
## „Wenn die Zeit kommt, herzlich willkommen!“
Hassan Fayez, Jahrgang 1946, hat eine Fluchtgeschichte. Das Wichtigste für
ihn sind die Familie und Freunde und seine ehrenamtliche Arbeit
Hassan Fayez wird 1946 in einem Dorf in Galiläa nahe der libanesischen
Grenze geboren. Seine Eltern gehören zu rund 850.000 Palästinensern, die
1948 im Zuge des sogenannten israelischen Unabhängigkeitskrieges vertrieben
werden. Die Palästinenser sprechen von Nakba – Katastrophe. In einem
Flüchtlingslager im Nordlibanon wächst er auf. In Beirut verdingt er sich
mit Jobs, flüchtet 1973 mit seiner Frau und zwei Kindern nach Berlin.
Obwohl er einen Job auf dem Bau hat, wird er 1981 abgeschoben.
Über den Flughafen Berlin-Schönefeld (DDR) reist er illegal wieder ein und
kommt erneut in Abschiebehaft. Eine Aufenthaltserlaubnis ermöglicht es ihm,
weiter auf dem Bau zu arbeiten. 1990 erhält er die deutsche
Staatsbürgerschaft. Die Baufirma macht pleite, auch die Pizzeria, mit der
er sich selbstständig machte, läuft nicht. Die letzten zehn Jahre seines
Berufslebens verdingt er sich mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und
1-Euro-Jobs. Fayez lebt von Altersgrundsicherung.
Ich bin ein glücklicher Mensch, Gott sei Dank. Das Wichtigste in meinem
Leben sind meine Frau und meine Familie und meine Freunde und Bekannten.
Die meisten meiner Freunde sind alte Palästinenser – so wie ich. Wir
treffen uns immer mittags im Nachbarschaftsladen in Schöneberg, trinken Tee
oder Kaffee und quatschen. Der Jüngste ist 62, ich bin mit meinen 74 Jahren
der Älteste. Solange wir unter uns sind, sprechen wir arabisch. Wenn jemand
anderes dazukommt, sprechen wir deutsch, niemand soll sich ausgeschlossen
fühlen.
Ich lebe von meiner Rente und Altersgrundsicherung. Wenn das Geld nicht
reicht und ich eine neue Hose oder Schuhe brauche, springen meine Kinder
ein. Alle leben in Berlin und sind mit Palästinensern verheiratet. Ich habe
drei Töchter, zwei Söhne und 15 Enkel.
## Es zieht mich raus
Mit meinen Kindern bin ich sehr zufrieden, Gott sei Dank. Alle haben Arbeit
und können gut davon leben. Ich hoffe, dass sie niemals arbeitslos werden,
damit sie, wenn sie alt sind, eine gute Rente haben und keine
Sozialempfänger werden müssen. Dass viele alte Leute einsam sind, liegt
wahrscheinlich daran, dass sie keine Familie haben und keine Cousinen und
Cousins. Das ist nicht ihre Schuld. Wenn man als Einzelkind geboren wird,
hat man keine Verwandten. Das ist traurig.
Mit meiner Frau lebe ich in einer Zweizimmerwohnung. Um 5 Uhr morgens stehe
ich auf. Ich bin ein Frühaufsteher. Ich schleiche mich aus dem Haus, um
meine Frau nicht zu wecken. Es zieht mich raus. Ab 7 Uhr bin ich immer im
Nachbarschaftsladen in der Steinmetzstraße in Schöneberg. Ich räume auf,
kümmere mich um die Pflanzen in den Rabatten, sammele den Müll auf der
Straße auf. Über Nacht wird es hier immer ziemlich schmutzig. das mache ich
alles ehrenamtlich.
Die Nachmittage verbringe ich meistens mit meiner Frau. Wir sitzen zusammen
und bequatschen alles. Meine Frau fährt vormittags oft zu den Kindern. Eine
meiner Töchter ist schwer krank. Abends passiert nicht mehr viel.
Spätestens um 21 Uhr bin ich im Bett.
Früher habe ich auf dem Bau gearbeitet. Ich war Werkzeugverwalter, aber ich
habe auch Schubkarre geschoben und Beton gegossen. Gott sei Dank hat mir
das körperlich nicht geschadet. Ich habe keine Rückenschmerzen, alles gut!
## Das kann man nicht ändern
Unter meinen deutschen Kollegen gab es welche, die sind ganz früh
gestorben, kurz vor der Rente oder kurz danach. Mehrere … „Jens ist
gestorben, Johnny, Frank“ – auf der Baustelle hast du das oft gehört. Das
waren sehr gute Menschen. Ich habe immer lieber mit den Deutschen
gearbeitet, weil – einer hilft dem anderen. Sie waren nicht krank, das ist
es ja gerade. Im Gegenteil. Sie waren stabil wie eine Eiche. Sie hatten
nichts mehr von ihrem Alter und ihrer Rente – leider. Das hat mir im Herzen
wehgetan. Aber das kann man nicht ändern.
Kürzlich hatten wir bei uns im Nachbarschaftszentrum eine Trauerfeier, der
Vater eines Freundes ist gestorben. Wir haben den Trauernden mit anderen
Geschichten abgelenkt, damit er seinen Kopf frei bekommt. Natürlich redet
man auch über das Sterben. Meine Eltern sind im Libanon gestorben. Mein
Vater war Mitte 60, er hatte Krebs. Meine Mutter ist 95 geworden und meine
Oma, die Mutter von meinem Vater, sogar 110.
Ich bin bei Tripoli im Libanon in einem Flüchtlingslager aufgewachsen.
Meine Eltern wurden 1948 von den Israelis aus Galiläa vertrieben, da war
ich zwei. Die ersten Jahre haben wir im Libanon in einem Zelt gelebt. Wir
hatten es mit Lehm abgedichtet, damit das Wasser im Winter nicht reinläuft.
Wie fast alle Palästinenser waren wir arm, aber wir konnten überleben.
Als Jugendlicher habe ich bei meiner Cousine in Beirut gelebt und in Cafés
und Tankstellen gearbeitet. Meine Eltern haben meine Frau für mich
ausgesucht. 1973 sind wir zusammen nach Berlin gegangen.
## Das ist das normale Leben
Ich glaube an Gott, an Allah, weil das Leben nicht von allein gekommen ist.
Ich bete auch regelmäßig. Ich habe keine Angst vor dem Tod, um Gottes
willen. Man wird geboren, wird erwachsen, und am Ende geht es unter die
Erde. Das ist das normale Leben. Man darf darüber nicht traurig sein. Wenn
die Zeit kommt, herzlich willkommen!
Niemand bleibt übrig, selbst die Propheten nicht. Noah ist 950 Jahre alt
geworden, die anderen waren 100, 200 oder 300 Jahre alt. Aber am Ende sind
sie alle gestorben.
Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen Jungsein und Altsein. Als
junger Mensch war ich voller Kraft. Jetzt sitze ich manchmal lieber rum.
Aber ich laufe jeden Tag mindestens zwei Stunden, immer alleine. Manche
alte Leute hocken den ganzen Tag zu Hause vor dem Fernseher, statt
rauszugehen und sich zu bewegen. Ich erledige eigentlich fast alles zu Fuß.
Laufen ist gut für den Körper. Ich denke dabei an nichts Besonderes.
Nachdenken über Probleme macht das Herz kaputt. Probleme schiebe ich weit
von mir weg. Da rein, da raus (zeigt auf seine Ohren).
Meine Frau ist meine Liebe und mein Leben. Sie hatte ein hartes Leben. Sie
hat fünf Kinder groß gezogen und als Reinigungskraft gearbeitet. Weil sie
immer viel zu viel gemacht hat, hat sie Bluthochdruck und Probleme mit
ihrer Schulter. Ich habe Angst, dass ich den Verstand verliere, wenn sie
vor mit stirbt. Protokoll: Plutonia Plarre
## „Ich mache mir keine Illusionen über das Alter“
Annelore W., Jahrgang 1945, ist von Beruf Kinderkrankenschwester. In den
Sommermonaten arbeitet sie als Toilettenfrau in einem Biergarten – und hält
sich auch sonst fit
Anne W. wird 1945 in Berlin geboren. Mit 18 macht sie eine Ausbildung zur
Kinderkrankenschwester. Nachdem ihre Ehe zerbricht, zieht sie mit ihrer
kleinen Tochter 1970 nach Italien. Dort arbeitet sie in Krankenhäusern und
als Sekretärin. 1999 kehrt sie nach Berlin zurück. Nicht nur um die schmale
Rente aufzubessern, arbeitet sie in den Sommermonaten als Toilettenfrau in
einem Biergarten. Ihre Tochter lebt nach wie vor in Italien. Ihre Mutter
ist im Alter von 100 Jahren gestorben.
Die alten Leuten hatten recht: „Du wirst schon sehen. Das wird dir auch mal
so gehen“, haben sie immer gesagt. Ich wollte es auch nicht glauben, als
ich jung war. Alles stimmt. Alles!
Du wirst ja nicht von heute auf morgen alt. Das ist ein langsamer Prozess.
Du hörst nicht mehr so gut, die Zähne klappern, du kannst nicht mehr so gut
beißen. Man muss aufpassen, dass man sich nicht überfordert, weil man sich
etwas beweisen will. Da fällt man immer auf die Schnauze.
Ich nehme es so, wie es ist. Das ist am besten. Und ja, es stimmt: Ich habe
einsame Momente. Natürlich liegt es auch an einem selbst.
## Wie kann so was passieren?
Ich hatte eine Nachbarin, die ist verstorben, die lag drei Wochen in ihrer
Wohnung. Wie kann einem so was passieren in einem Seniorenwohnhaus? Zwei
Türen weiter, auf meinem Flur. Ich hatte sie oft gefragt: „Wenn Sie was
brauchen, sagen Sie mir bitte Bescheid“! Das war im Sommer, ich musste zur
Arbeit. Ich habe zu der Hauswartsfrau gesagt, dass das stinkt auf unserer
Etage wie Gorgonzola. Hier wohnen vor allem alte Männer. Die riechen ja
nichts.
Hey, das hat mir Angst gemacht! Ich habe zwar Kontakt zu Leuten im Haus,
aber davor bin ich auch nicht geschützt. Ab und zu gehe ich mal einkaufen
oder fahre auf den Friedhof nach Steglitz. Und eigentlich habe ich meine
Gruppen: die Walking-Gruppe und die Gymnastik-Gruppe, aber die finden wegen
Corona jetzt leider nicht statt.
Um meine Rente aufzustocken, arbeite ich im Sommer immer als Toilettenfrau
in einem Biergarten. Der Körper verändert sich, man lernt seine Grenzen
kennen. In diesem Sommer habe ich zum ersten Mal nur samstags und sonntags
gearbeitet. Früher war ich jeden Tag da. Ich habe den Job seit 2003. Mit
800 Euro Rente kommste nicht weit. Schon allein die Miete kostet 350 Euro.
Wenn ich die Festkosten abziehe, bleibt kaum was übrig. Ich könnte
natürlich Sozialunterstützung beantragen, Wohngeld und so. Aber das wollte
ich bisher nicht. Ich habe immer gesagt: Vater Staat ist nicht mein Vater.
Ich muss selbst für mich sorgen, solange ich kann. Außerdem kann ich nur so
meine Reisen finanzieren.
In dem Biergarten habe ich vier Fußball-Weltmeisterschaften mitgemacht. Der
Job als Toilettenfrau gibt mir das Gefühl, dass ich noch gebraucht werde.
Wenn ich da mittags angekommen bin und hatte Rückenschmerzen und jemand
rief „Hallo Anne!“ waren die Schmerzen sofort weg. Und ich habe eigentlich
immer Schmerzen. Ich hatte viele Operationen. Du wirst abgelenkt, du kannst
nicht dasitzen und die Füße hochlegen, dann kriegst du auch kein Trinkgeld.
Manchmal habe ich vor dem Toilettenhäuschen Kerzen angezündet und ein
bisschen Musik aufgedreht.
## Mein Leben war sehr turbulent
Nee, Klo putzen ist nicht unter meiner Würde, auf keinen Fall. Ich komme
aus dem Krankenhausbereich. Da habe ich Windeln wechseln müssen und
Nachttöpfe geschleppt. Wobei ich sagen muss, die Leute haben eigentlich
keinen Respekt mehr. Sie sehen, dass ich mit der Bürste über der
Kloschüssel hänge, und machen direkt neben mir Dreck. Das wird immer
schlimmer.
Mein Leben war sehr turbulent, ich habe wahrscheinlich mehr erlebt als
viele andere. Ich war 30 Jahre in Italien, ich spreche fließend
italienisch. Meine Tochter ist in Italien geblieben, sie lebt und arbeitet
dort. Weihnachten fahre ich immer zu ihr. Da tanke ich Wärme und soziale
Kontakte. Aber jetzt, wegen Corona, weiß ich gar nicht, ob ich meine
Tochter besuchen kann. Da habe ich ein bisschen Angst, was die Zukunft
betrifft.
Bei mir zu Hause läuft der Fernseher von morgens bis abends. Da bin ich
ganz ehrlich. Damit sich was bewegt und eine Geräuschkulisse da ist. Ich
gucke nicht richtig, natürlich habe ich meine Serien. Ich habe auch ein
Tablet. Wenn einer sagt, der Fernseher läuft bei mir nicht, glaub ich das
nicht, oder er hat viel zu tun.
Mein Leben war nicht immer einfach, aber viele Probleme machen sich die
Leute doch selbst. Was wirklich schlimm war: Ich konnte meiner Mutter nicht
helfen, als meine Brüder verstorben sind. Wir waren drei Geschwister. Erst
ist mein kleiner Bruder mit 18 bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen.
Mein großer Bruder ist mit 45 zu Tode gekommen. Er hatte mich oft in
Italien besucht. Das war schon ein Schicksalsschlag. Ich frage mich immer,
wie meine Mutter das weggesteckt hat. Sie ist ja 100 Jahre alt geworden. Im
Sommer 2018 ist sie verstorben.
## Das schwarze Schaf
Die letzten Jahre habe ich mich intensiv um sie gekümmert. Meine Mutter hat
allein gewohnt, ich bin immer zu ihr nach Nauen gefahren, auch wenn wir nie
ein gutes Verhältnis hatten. Ich war das schwarze Schaf, weil ich so weit
weg in Italien war.
Ich mache mir keine Illusionen über das Alter. Das sehe ich ganz nüchtern.
Die Schwächephasen kommen, auch wenn man das nicht zugeben mag. Mittags
lege ich mich manchmal ein, zwei Stunden auf die Couch. Danach muss ich
mich zum Teil richtig aufraffen. Wenn du merkst, du bist heute schon den
zweiten Tag zu Hause, obwohl die Sonne scheint, musst du aufpassen. Dann
musst du dich zwingen: Lore, jetzt ist Schluss. Jetzt gehst du raus, eine
Stunde Walken, auch alleine. Danach geht’s wieder besser, auch wenn es nur
Einkaufen ist.
Wenn du Glück hast, triffst du draußen jemanden, dass du wenigstens ein
paar Worte wechselst. Ich bin sehr kontaktfreudig, Begegnung mit anderen
Menschen fehlen mir sehr. Wenn es mir mal nicht so gut geht, muss ich
aufpassen, dass sich meine Tochter keine Sorgen macht. Wir erzählen uns
jeden Abend am Telefon, wie der Tag war. Das ist sehr schön, aber sie merkt
sofort, wenn ich nicht so fröhlich bin wie sonst.
Ich kann verstehen, dass alte Leute auf den Enkeltrick reinfallen: Es ist
das Gefühl, gebraucht zu werden, auch wenn du nur Geld gibst. Manche
wünschen sich wirklich, dass auf einmal ein Enkel auftaucht. Die
Trickbetrüger haben das so gut drauf. Die haben sich genau informiert und
erzählen dann Sachen, die eigentlich nur dein Enkel wissen kann.
## Eine Win-win-Situation
Ich brauche immer was, worauf ich mich freuen kann: Koffer packen, in
Urlaub fahren. Meine letzte Reise war im Januar nach Ägypten, ich bin
gerade rechtzeitig vor Corona zurückgekommen. Aber im Moment weiß man gar
nichts. Ohne Pläne, ohne Wünsche, was ist denn das für ein Leben?
Bei einem Urlaub in Kenia, das ist noch nicht so lange her, hatte ich einen
ständigen Begleiter. Das ist da überhaupt kein Problem. Viele Touristen
machen das so, das sind meistens ältere Damen. Gesellschaft und Zuneigung
durch Geld erkaufen. Jeder hat was davon. Für beide Seiten ist das eine
Win-win-Situation.
Manchmal schreibt mir der Kenianer noch: Mein Vater ist krank, mein Sohn
ist krank, ich brauche 200 Euro. Manchmal schreibe ich zurück, ich habe
selber kein Geld, und dann ist es gut. Man muss auch nein sagen können. In
Kenia, das muss ich sagen, werden die älteren Leute viel respektvoller
behandelt. Hier wirst du zum Teil schief angeguckt, dass du überhaupt noch
lebst. Dass du eigentlich nicht mehr da sein solltest. Protokoll: Plutonia
Plarre
## „Den Rollator mal ich golden an“
Klaus Becker ist 76 und im Lebensort Vielfalt zu Hause, einem Wohnprojekt
vor allem für schwule ältere Männer. Er sagt: „Es kommt ja immer noch etwas
Neues“
Klaus Becker wird 1944 in einer holsteinischen Kleinstadt geboren, die
Mutter bleibt nach dem Krieg allein mit vier Kindern. In Marburg, München
und Kiel studiert er Medizin und promoviert, beschließt Frauenarzt zu
werden. Die erste Stelle findet er in Berlin und zieht von dort weiter an
den Kilimandscharo, Tansania, Ostafrika. Drei Jahre bleibt er, dann geht
Becker nach San Francisco und bringt von dort seinen Freund mit nach
Berlin. Anfang der 1980er übernimmt er eine Praxis im Wedding, die er 1999
aufgeben muss. Seit 21 Jahren ist Klaus Becker in Rente.
Wenn ich in den Spiegel gucke, morgens, entspreche ich nicht meinem
Schönheitsideal. Ich sehe, dass ich alt bin. Das hat nicht irgendwann
abrupt angefangen, das ist etwas Schleichendes. Ja, schleichend, das passt
gut.
Ich habe mir in den Achtzigern schon einmal Gedanken über Vergänglichkeit
und den Tod gemacht – machen müssen. Ich bekam die Diagnose HIV, das hieß
damals: Sterben.
Freunde von mir sind gestorben. Ich wollte gern noch zwei Jahre haben. Aber
selbst wenn ich sofort tot umgekippt wäre, hätte ich damals sagen können,
das war ein volles Leben. Sie müssen sich vorstellen, in den Fünfzigern war
der Krieg gerade mal 10 Jahre vorbei, das ist nicht viel. Ich habe mir mit
16 selbst einen Austausch nach Frankreich arrangiert und bin nach Poitiers
gefahren. Dort habe ich fürs ganze Leben gelernt: Anderswo funktionieren
die Dinge anders, aber sie funktionieren auch.
## Gewaltiges Glück
Zwei Jahre nach der HIV-Diagnose habe ich in den Spiegel geschaut und
gedacht, Mensch, du bist ja immer noch da. Ohne die Medikamente, ohne den
medizinischen Fortschritt säße ich nicht hier. Und ich war mir dessen immer
bewusst. Verdient hatte ich es nicht, das war Glück, gewaltiges Glück.
Meine Arztpraxis konnte ich lange halten, da war ich eingespannt von
morgens bis abends und abends bis morgens. Als es mir dann immer schlechter
ging, war klar, das geht nicht mehr. Ich habe dann alles durchgespielt: Was
mache ich mit der Praxis, kann ich von der Rente leben, was mache ich mit
den Angestellten? Und dann bin ich in Rente gegangen. Mit 55. Nicht sehr
alt.
Ich habe auf das Loch gewartet. Eine Woche, einen Monat. Aber es kam kein
Loch. Ich habe schon immer gemalt, also habe ich mir ein Atelier genommen.
Es ging mir auch körperlich besser, die Medikamente wurden ja immer besser.
Aber irgendwann habe ich gemerkt, ich werde wirklich älter. Ich habe damals
in Zehlendorf gewohnt, eine schöne Wohnung. Aber sie war im dritten Stock
und ich konnte immer schlechter laufen. Und Zehlendorf ist wunderbar, aber
da kommt auch nicht mal eben jemand spontan vorbei. Außerdem endete meine
Freundschaft, 20 Jahre waren wir zusammen gewesen. 69 war ich da und
dachte: Jetzt ist es aus. Vorbei das Leben. Ein Jahr habe ich mich
verkrochen.
## Als schwuler Mann leben
Aber nee, das ging auch nicht. Also habe ich geschaut, was gibt es, wenn du
Ende sechzig bist und unter Leute willst als schwuler Mann. Ich bin dann in
eine schwule Sportgruppe und in eine deutsch-französische Gruppe, und dann
hörte ich von diesem Haus hier, Lebensort Vielfalt, ein Wohnprojekt vor
allem für schwule ältere Männer, mit eigenen Wohnungen, aber auch einer
Pflege-WG. Das fand ich toll. Ein Ort, an dem man auch bleiben kann, wenn
man nicht mehr weiß, wie man heißt, und an dem man nicht erklären muss, was
es bedeutet, als schwuler Mann zu leben. Das Haus wurde damals noch
umgebaut, und ich habe mich auf die Warteliste setzen lassen.
Als ich als junger Arzt in Afrika gelebt habe, gab es einen großen Komplex,
in dem die Ärzte, alle Angestellten gewohnt haben. Da kannten sich alle, da
hat man mal den besucht und mal den. Das war eine tolle Gemeinschaft, aber
ohne Verpflichtungen. Das hatte ich im Hinterkopf, als ich vor fünf Jahren
hierher gezogen bin. Und so hat es sich für mich auch erfüllt.
Am Eingang zu meiner Wohnung ist ein kleiner Abreißkalender. Jeden Tag
reiße ich dort ein Blatt ab. Und wenn meine Nachbarn sehen, dass das Blatt
nicht abgerissen ist – einmal war ich verreist, da haben sie mich gleich
angerufen. So ist das hier.
Und dann passieren Dinge im Alter, die sind ganz unerwartet. Dass man
plötzlich den Handlauf benutzt beim Treppensteigen. Oder dass man sich
verliebt. Ja, das kam ganz unerwartet. Ich bin seit fünf Jahren
verheiratet. Ja, wirklich! Das erste Mal.
## Risikogruppe – das ist neu
Dass ich jetzt in der Coronakrise zur Risikogruppe gehöre, ist auch
unerwartet und neu. Während der Aidskrise gab es die vielen Selbsthilfe-
und Unterstützungsgruppen, da war ich sehr aktiv. Ich gehörte zu einer
Gruppe von Frauenärzten, die sich speziell um Frauen mit HIV gekümmert
haben. Ich war immer bei denen, die Hilfe anboten und gaben. Und nicht bei
denen, auf die man Rücksicht nehmen muss. Wenn ich heute bei der
Ärztekammer oder beim Gesundheitsamt anrufe und sage, ich bin Arzt, wenn
ihr Bedarf habt, ich komme – da kommt keine Reaktion, weil ich zur
Risikogruppe gehöre. Das stört mich auch ein bisschen.
Dass ich weniger schmecke und rieche. Dass ich vier oder fünf Lesebrillen
brauche, damit ich immer eine habe. Dass ich den Schlüssel immer in die
Hand nehme, damit ich ihn nicht vergesse. Dass ich mir in den Mantel helfen
lasse, das sind die kleinen, unerwarteten Dinge. Auch da muss ich mich dran
gewöhnen.
Wie ich meinen Mann kennengelernt habe? Ja, das passt sehr gut zu dem Thema
hier. Ich bin in einer Gruppe schwuler Männer für gemeinsame Aktivitäten.
Einmal sind wir auf den Alten Sankt-Matthäus-Friedhof. Die Gebrüder Grimm,
Virchow, Hochhuth und vor allen Dingen viele Leute, die an Aids gestorben
sind, liegen dort. 2013 war ich im Krankenhaus, ich bin fast gestorben. Und
da dachte ich, wenn es so weit ist, dann wäre doch der
Sankt-Matthäus-Friedhof was.
Ich habe mit den anderen aus der Gruppe gesprochen und es kristallisierte
sich eine Handvoll Menschen heraus, die mitmachen wollten. Der Roland war
auch dabei in der Grabgruppe. Er hatte mir gleich gefallen. Wir wollten uns
umeinander kümmern, haben wir beschlossen. Vor fünf Jahren waren wir beim
Standesamt, seitdem trägt er meinen Namen.
## Hier gehörst du hin
Das mit dem Grab war mir wichtig. Klar, wenn du tot bist, bist du tot. Aber
es ist ähnlich wie mit dem Einzug hier im Lebensort Vielfalt: ein Gefühl,
angekommen zu sein. Hier gehörst du hin. Das ist ein sehr angenehmes
Gefühl.
Mein amerikanischer Freund damals in den Achtzigern, der wollte nicht älter
als 40 werden. Er ist ja tatsächlich nur 43 geworden. Aber woher wusste er
das? Man muss das Leben doch erfahren. Und wenn es dann Mist war, dann hat
man eben das erfahren. Aber es kommt ja immer noch etwas Neues. Manches ist
unerfreulich, vieles witzig. Aber alles überraschend. Mir passiert es ja
auch das erste Mal, dass ich 76 bin.
Es hängt viel mit der Einstellung zusammen. Es gibt Leute, die sich darüber
ärgern, was sie nicht haben. Dazu gehöre ich nicht. Damals nach der
kritischen Phase mit HIV, da habe ich mich gefreut, dass ich noch da bin.
Ich habe mich nicht geärgert, dass ich HIV habe. Mit dem Alter ist es das
Gleiche.
Ich hatte nie Angst vorm Alter. Ich bin jetzt 76 und ich hadere nicht,
nein. Man wird alt, so ist es. Und dass man es sieht, das gehört so.
Darüber braucht man nicht zu reden. Der Schritt zur Gebrechlichkeit ist
noch einmal ein anderer. Nicht nur Hilfe zu nehmen, sondern darauf
angewiesen zu sein. Der Schritt zum Rollator, das finde ich ganz
schrecklich. Wenn es so weit ist, na gut, dann male ich den golden an.
Immerhin. Protokoll: Manuela Heim
## „Ein großer Vorteil des Alters: Ich muss nichts mehr müssen“
Peter G., Jahrgang 1942, ist Buddhist, lebt in Gemeinschaft und hat keine
materiellen Sorgen
Peter G. wird 1942 in Stettin geboren, zum Kriegsende flieht er mit der
Mutter als Heimatvertriebener nach Süddeutschland. Er macht eine Ausbildung
zum Chemotechniker. 1960, kurz vor Mauerbau, geht er nach Berlin, holt das
Abitur nach und studiert unter anderem Indologie und Philosophie. 1963 wird
Peter G. Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS). Während
und nach der Studienzeit, die in die Zeit der Studentenbewegung fällt,
betätigt er sich politisch. Peter G. übt in seinem Leben viele Tätigkeiten
aus, unter anderem als Handwerker, PC-Trainer und Unternehmensberater; seit
2007 ist er in Rente. Als Autor und Übersetzer widmet er sich
buddhistischen Texten.
Ein Glück, dass ich das nicht mehr erleben muss – als ich jung war, habe
ich diesen Satz von alten Menschen des Öfteren gehört. Ich sage das
inzwischen auch manchmal, was die Zukunft und unsere Umweltkatastrophen
betrifft. Nicht ständig, aber ich merke, dass ich mich in der Welt nicht
mehr so zu Hause fühle.
Ich lebe sehr gerne! Aber Leben heißt nun mal, älter zu werden. Und es
heißt natürlich auch, dass du dem Tod immer näher kommst. Auf Retreats habe
ich mir das bewusst gemacht: Mit jedem Atemzug rücke ich dem Tod näher. Ich
bin Buddhist und meditiere viel, aber ich glaube nicht an Wiedergeburt, ich
gehe also davon aus, dass der Tod wirklich das Ende meiner Existenz ist.
Wenn du weitab von zu Hause diese Art von Meditation machst, schaltet es
irgendwann in dir um. Plötzlich siehst du, wie großartig und zugleich auch
schrecklich Leben ist. Du siehst Menschen, die sich offenbar lieben, aber
auch welche, die streiten. Du siehst Kinder spielen, du siehst eine Art von
Schönheit …
## Der Tod rückt langsam näher
Und du siehst auch, wie Sterben und Tod ununterbrochen auch um dich herum
stattfindet. Wenn du unterwegs bist, siehst du auf dem Weg überfahrene
Regenwürmer oder tote Mäuse am Straßenrand. Oder – das fand ich besonders
beeindruckend – da war ein Baum, es war im späten Herbst, ein Ast war
abgerissen, hing aber noch mit ein paar Fasern am Stamm. Der Ast war das
Einzige am ganzen Baum, was Knospen ausgetrieben hatte. Ich sah: Der Ast
versucht vergeblich am Leben zu bleiben. Genau das tun wir ja auch, wir
versuchen am Leben zu bleiben.
Der Tod rückt langsam näher. Du merkst es auch daran, dass immer mehr
Menschen in deinem persönlichen Umfeld sterben, nicht nur ältere. Ein guter
Freund, den ich vor 60 Jahren auf dem Bau kennengelernt habe, ist dieses
Jahr gestorben. Ich war die letzte Zeit viel mit ihm zusammen. Er hatte
seit fünf Jahren Krebs. Der Tod eines nahestehenden Menschen ist immer ein
Verlust. Er reißt ein Loch ins Leben.
Zurzeit fühle ich mich noch ziemlich fit. Mir ist aber klar, dass das
weniger werden wird. Wenn ich überhaupt vor irgendetwas richtige Angst
habe, dann vor einem geistigen Verfall. Das könnte geschehen. Mir geht dazu
durch den Kopf, was wahrscheinlich viele denken: Wenn es schlimm wird,
bringe ich mich lieber um. Wie ich das genau machen könnte, habe ich
ziemlich klar. Die Frage ist nur: Kriege ich rechtzeitig die Kurve?
Es gibt viele Beispiele von Menschen, die so ähnlich dachten, aber die
Kurve nicht bekommen haben. Etwa weil sie dement geworden sind und
vergessen haben, dass sie es wollten. Bei Walter Jens war das wohl so.
Seine Geschichte hat mich sehr beeindruckt. Genau in diesen Zustand, in dem
er dann war, wollte er nie kommen.
## Materielle Sorgen haben wir nicht
Ich lebe mit meiner Lebensgefährtin und einer sehr guten Freundin zusammen.
Unsere Kinder wohnen in der Nähe, wir haben eine sehr gute Beziehung.
Völlig allein zu leben, wie es ja viele tun, kann ich mir nicht vorstellen.
Auch materielle Sorgen haben wir nicht. Das alles ist ein großes Privileg.
Mit dem Alter kommt natürlich auch der Rückblick auf das eigene Leben. Ich
habe sehr viele unterschiedliche Dinge in meinem Leben ausprobiert. Unter
anderem war ich – der Reihe nach – Chemotechniker, Abendschüler, Student,
Handwerker, PC-Trainer, Unternehmensberater, immer links orientiert. Ich
bin nach wie vor der Überzeugung, dass der Kapitalismus eine Katastrophe
ist, aber gleichzeitig erkenne ich auch, dass wir Menschen in der Mehrheit
es wohl nicht anders wollen. „Kein Kommunismus ist eben auch keine Lösung.“
Mein Leben verläuft nicht besonders strukturiert. Ich gebe hier und da
Nachhilfe, übersetze buddhistische Texte aus dem Pali und dem Sanskrit, ein
bisschen aus dem Tibetischen. Ich möchte ein Buch, das ich schon mal
veröffentlicht habe, überarbeiten und neu herausbringen. Ich möchte bereits
erschienene Übersetzungen überarbeiten. Das Gleiche gilt für Texte, die
noch nirgends erschienen sind. Ob mir dafür die Zeit noch bleibt, weiß ich
natürlich nicht.
Manches am Alter ist ein bisschen anstrengend. Wir wohnen im fünften Stock.
Ich komme noch sehr gut die Treppen hoch, aber vor zehn Jahren ging das
noch besser. Auch dass ich schwerhörig bin, macht mir Probleme. Ich habe
ein Hörgerät, aber wenn bei unserem Familienessen zehn Leute
durcheinanderreden, komme ich nicht mehr mit. Die vielen Stimmen und der
Nachhall machen mir zu schaffen. Ich fühle mich nicht ausgeschlossen, aber
es ist schade. Andererseits nimmt mir keiner übel, wenn ich den Tisch
verlasse und etwas anderes mache. Sich das erlauben zu können ist ein
großer Vorteil des Alters: Ich muss nichts mehr müssen. Protokoll: Plutonia
Plarre
## „Zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Herrin meiner selbst“
Elke Schilling, Jahrgang 1944, hat das Seniorentelefon Silbernetz in Berlin
gegründet. Sie ist ein Workaholic, lebt allein und versucht, jeden Tag
etwas Sinnvolles zu tun
Elke Schilling wird 1944 in Leipzig geboren. Die Diplom-Mathematikerin ist
von 1994 bis 1998 Staatssekretärin für Frauenpolitik in Sachsen-Anhalt
(B90/Grüne); danach arbeitet sie freiberuflich als Beraterin und
Mediatorin. Seit 2009 ist sie Rentnerin. Schilling ist Gründerin und Motor
des Seniorentelefons Silbernetz: Ein dreistufiges Angebot für Menschen ab
60 mit Einsamkeitsgefühlen. In Berlin ging die Hotline im Herbst 2018 ans
Netz, seit dem Frühjahr 2020 existiert sie bundesweit und ist unter der
kostenlosen Rufnummer 0800 4 70 80 90 zu erreichen – dort haben seit März
bislang rund 40.000 Menschen angerufen.
Ich bekomme öfter zu hören, dass ich eine junge Stimme habe. Für meinen
Begriff liegt das daran, dass ich sehr gern lache. Das hält die Stimme
frisch. Meine Enkeltöchter sagen: Oma, du bist ganz anders als andere Omas.
Es freut mich natürlich, dass sie so positiv auf mich reagieren.
Von Hause aus bin ich Diplom-Mathematikerin, habe aber auch in etlichen
anderen Berufen gearbeitet. Von der Erwerbstätigkeit in die Rente, das war
für mich ein ungeheuerlicher Gewinn an Freiheit. Zum ersten Mal in meinem
Leben war ich wirklich Herrin meiner selbst. Vorher war ich immer von
irgendwelchen Notwendigkeiten abhängig: Gebraucht, gedrängt, eingeengt. Das
ist jetzt anders.
Ich habe eine Rente, die nicht üppig ist, aber leben lässt. Das ermöglicht
mir, das zu machen, wozu ich Lust habe. Das heißt auch, was ich an
Kenntnissen und Fertigkeiten erworben habe, sinnvoll einzusetzen.
## Wow, eine neue Herausforderung
Als Erstes bin ich von Sachsen-Anhalt nach Berlin zurückgezogen. Drei
Monate später habe ich am Rathaus Wedding den Aushang gesehen:
Seniorenvertreter werden gewählt. Da habe ich gedacht: Wow, eine neue
Herausforderung. Als Seniorenvertreterin kann ich nutzen, was ich kenne –
IT, Verwaltung, Strukturen des öffentlichen Lebens, Umgang mit den Medien.
Neu war die Auseinandersetzung mit Alter.
Ich war sieben Jahre Senioren-Vertreterin. Da ist mir das Thema Einsamkeit
bewusst geworden. Mir fiel auf, dass ein nicht unerheblicher Anteil der
Alten aus der Öffentlichkeit verschwindet, einfach nicht mehr erreichbar
ist. Den letzten Anstoß erhielt ich, als mein alter Nachbar drei Monate tot
in seiner Wohnung gelegen hat. Ja, mein unmittelbarer Nachbar, Wand an Wand
mit mir.
Als ich merkte, wie er sich zurückzog, hatte ich ihm Hilfe angeboten, was
er abwehrte. Er wurde gefunden, nachdem ich den Vermieter anrief, weil in
meiner Wohnung immer mehr Fliegen waren. Danach bin ich aktiv geworden. Ich
bin nach London gefahren und habe mir das Seniorentelefon Silverline
angeschaut. Und dann habe ich ein solches Telefon in Berlin gegründet:
Silbernetz. Damit ältere Menschen nicht dieses Ende nehmen: einsam,
vergessen, tot.
Ich bin immer ein Mensch gewesen, der in der Gegenwart lebt. Der das Hier
und Jetzt genießt. Die Zeit rennt, aber sie läuft mir nicht davon. Mein
Gefühl ist, dass ich jeden Tag irgendetwas mache, was Sinn hat. Oftmals bin
ich viel zu erschöpft, um abends Bilanz zu ziehen. Ich bin ein Workaholic.
## Ich fahre Rad, sooft ich kann
Es gibt natürlich Dinge, die sind nicht mehr so easy wie vor zwanzig
Jahren. Meine 81 Stufen renne ich nicht mehr ganz so schnell hoch. Aber
geistig und auch, was die Reaktionsschnelligkeit angeht, habe ich noch
keine Veränderungen festgestellt. Ich fahre Rad, sooft ich kann, 10 oder 15
Kilometer am Tag. In Berlin muss man ja höllisch aufpassen. Neulich kam mir
ein Autofahrer in die Quere, ich kam vor ihm zum Halten.
Wenn ich mich in der Öffentlichkeit umschaue, gibt es nur zwei Bilder von
den Alten: Die pflegebedürftigen Multimorbiden und die topfitten,
hochgestylten Power-Alten. Es gibt kein Dazwischen; ich bin dazwischen. Die
Vielfalt wird nicht sichtbar.
Ich habe zwei Töchter und fünf Enkel. Wenn ich sie wirklich brauche, sind
sie da. Aber ich bin froh, dass ich sie noch nicht brauche. Ich selbst lebe
allein, auch das ist ein Teil dieser Autonomie, die ich sehr schätze. Nach
drei Trennungen von unterschiedlichen Partnern und Partnerinnen habe ich
festgestellt, dass ich zu nahen Beziehungen nicht fähig bin.
Natürlich gibt es Momente, wo ich denke, es wäre schön, gerade jetzt mal in
den Arm genommen zu werden. Und dann gucke ich mir den Preis dafür an und
sage mir: ach, lieber nicht. Es gibt einfach Gewohnheiten, auf die ich um
einer engen Beziehung willen nicht mehr verzichten würde. Ich bin
glücklich, dass ich viele gute Bekannte habe und auch zwei Freundinnen. Der
einen bin ich seit 57 Jahren verbunden.
## Jede Medaille zwei Seiten hat
Wenn ich über den Tod nachdenke, dann in diesem Sinne: Ich lebe mit aller
Leidenschaft, die mir zur Verfügung steht, und wenn es zu Ende ist, dann
ist es auch gut so. Ich bin froh, wenn ich im Bekanntenkreis von einem
Todesfall höre, wo jemand von jetzt auf gleich gegangen ist.
Ich bin eine, die Konsequenzen zieht, wenn es unerträglich wird. Ich ziehe
Grenzen und bin sehr neugierig. Als Mathematikerin war mir Logik immer
wichtig. Das Soziale hat sich mir eigentlich erst später erschlossen. Dazu
gehört auch die Erkenntnis, dass immer auch Gutes im Schlechten ist und
umgekehrt. Dass jede Medaille zwei Seiten hat. Das zu erkennen ist ein
Geschenk.
Als alter Mensch bestimmt sich mein Wert nicht mehr aus dem, was ich mit
Arbeit verdiene. Es geht um Sinn und Selbstwert. Was kann ich? Was will
ich? Was macht mich glücklich? Wenn jemand den Drang verspürt,
gesellschaftlich sinnvoll tätig zu sein – ja!
Alter ist ein Tabu. Als Senioren-Vertreterin bin ich innerlich
zusammengezuckt, als eine Dame von 87 zu mir sagte: „Wissen Sie, in eine
Begegnungsstätte gehe ich nicht. Da sind nur alte Leute.“ Viele Alte hängen
in solchen negativen Stereotypen, das ist schade. Dahinter verbirgt sich
der Jugendwahn unserer Gesellschaft und die Ignoranz gegenüber den
Reichtümern des Alters.
Es gibt einfach Dinge, die kann ich nur als alter Mensch tun. Wenn ich das
nicht sehe, weil mir meine Vorurteile im Weg stehen, versäume ich ganz
viel. Ich erlebe keinen Generationenkonflikt – ganz im Gegenteil: Nicht nur
beim Silbernetz wollen Junge und Alte miteinander reden. Protokoll:
Plutonia Plarre
6 Dec 2020
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Plutonia Plarre
Manuela Heim
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