| # taz.de -- Umfrage in Berlin-Mitte: Alt sein in einem Bezirk der Jungen | |
| > Verdrängung ist gerade für Ältere ein Problem. Um mehr über die Lage der | |
| > Menschen über 60 zu erfahren, startet der Bezirk Mitte nun eine Umfrage. | |
| Bild: In Mitte wohnen vergleichsweise wenig Alte, der Bezirk ist der zweitjüng… | |
| Alten Menschen gehe es in mancher Hinsicht oft nicht viel anders als | |
| jungen, sagt Elke Schilling, bis 2018 Seniorenvertreterin im Bezirk Mitte: | |
| „Viele haben große Angst, durch Gentrifizierung ihre Wohnung zu verlieren.“ | |
| Anders als bei jüngeren Menschen allerdings seien die Folgen für manche | |
| Ältere kaum zu bewältigen. Ihre Nachfolgerin, Elisabeth Graff, formuliert | |
| das so: „Für jemanden, der 70 Jahre in einem Kiez gewohnt hat, ist das ein | |
| Heimatverlust.“ | |
| Das Bezirksamt Mitte hat gerade eine Seniorenbefragung gestartet: 7.000 | |
| Bewohner über 60 Jahre werden in den nächsten Tagen einen 13-seitigen | |
| Fragebögen in ihren Briefkästen vorfinden. Es ist die zweite solche Umfrage | |
| in Mitte binnen zehn Jahren. Das Ziel, einst wie jetzt: Die Arbeit der | |
| bezirklichen Fachstellen und Einrichtungen bedarfsgerechter zu gestalten. | |
| Auch Bezirke wie Friedrichshain-Kreuzberg oder Steglitz-Zehlendorf haben | |
| ähnliche Umfragen gemacht. Eine berlinweite Seniorenbefragung indes gibt es | |
| nicht. | |
| „Die Alten sind die Stummen, sie haben keine Lobby“, sagt Elke Schilling. | |
| Sie war nicht nur Seniorenvertreterin, sie ist auch Initiatorin des | |
| Kontakttelefons Silbernetz, das im vergangenen September an den Start ging. | |
| Alte Leute, die sich einsam fühlen, können dort anrufen. 5.000 Gespräche | |
| sind laut Schilling bislang geführt worden, 15.000 Anrufversuche | |
| verzeichnete das Projekt, 60 Prozent erfolgten nachts. | |
| Wenn es in Berlin einen Bezirk gibt, der mit einer aktiven Seniorenpolitik | |
| positiv auffällt, sei das Marzahn-Hellersdorf, sagen Leute, die sich | |
| auskennen. Mitte gehöre nicht dazu. Das liege vermutlich auch daran, dass | |
| Mitte demografisch gesehen der zweitjüngste Bezirk der Stadt ist. Lediglich | |
| 12,9 Prozent der Bevölkerung sind älter als 65. Noch weniger Alte gibt es | |
| nur in Friedrichshain-Kreuzberg (10 Prozent). | |
| Die meisten Senioren leben in Steglitz-Zehlendorf (25,7) und Reinickendorf | |
| (23,7). In den Ostbezirken führt Treptow-Köpenick mit 22,5 Prozent die | |
| Riege der Alten an, gefolgt von Lichtenberg (19,7) und Marzahn-Hellersdorf | |
| (19,4). Berlinweit haben 19,1 Prozent der Bevölkerung die 65 überschritten. | |
| ## Großer Frageblock zur Wohnsituation | |
| Die Daten sind dem Sozialbericht 2018 von Mitte entnommen. Jeffrey Butler | |
| heißt der Mann, der den Bericht im Bezirksamt geschrieben hat und nun auch | |
| die Altenerhebung betreut. Gefragt werden über 60-Jährige nach ihrer | |
| Gesundheit, ihrem psychischen und sonstigen Wohlbefinden, Arbeit, Hobby, | |
| Kontakten und Freundschaften. Ein großer Frageblock bezieht sich auf die | |
| Wohnsituation. | |
| Bei der Formulierung haben sich die Verfasser ganz offensichtlich Mühe | |
| gegeben. „Wie viel Anteilnahme und Interesse zeigen andere Menschen an dem, | |
| was Sie tun?“ „Wie oft nutzen Sie die Parks und Grünanlagen in Ihrer | |
| Wohngegend?“ „Können Sie sich vorstellen, mit jüngeren Menschen | |
| zusammenzuleben, mit denen Sie nicht verwandt sind?“ Antworten kann man, | |
| indem man eines von vier oder fünf Kästchen ankreuzt. Dazu gibt es einen | |
| Weißraum für Anmerkungen, etwa wenn einem etwas fehlt oder für besondere | |
| Probleme. | |
| Die erste Alten-Umfrage hatte Mitte 2009 durchgeführt. Was den Namen | |
| betrifft – LISA 2 – hat man sich bei der aktuellen an der Vorgängerin | |
| orientiert: LISA steht für „Lebensqualität, Interessen und | |
| Selbstständigkeit im Alter“. | |
| Der Grad der Repräsentativität werde bei LISA 2 aber größer sein als bei | |
| der ersten Umfrage, hofft Butler, der Soziologe ist. Die Namen der 7.000 | |
| über 60-Jährigen habe man nach dem Zufallsprinzip aus dem | |
| Einwohnermelderegister gezogen. Erforderlich sei ein Rücklauf von | |
| mindestens einem Prozent. Ein Test im Vorfeld habe gezeigt, dass es 25 bis | |
| 75 Minuten dauere, die Bögen auszufüllen. Um die Beteiligung zu erhöhen, | |
| verlost das Bezirksamt laut Butler „attraktive Preise“ wie eine Reise zu | |
| zweit nach Mallorca oder Antalya. | |
| ## Ernüchternde Rückmeldungen | |
| Auch die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Mitte hat sich im Vorfeld | |
| mit LISA2 befasst, wie die taz erfuhr. Was LISA1 ergeben habe, seien die | |
| Verantwortlichen von BVV-Mitgliedern gefragt worden. Die Rückmeldungen | |
| seien ernüchternd gewesen. Die erste Umfrage war in der Zeit des großen | |
| Sparzwangs erfolgt. Die Ergebnisse, so war zu erfahren, hätten vor allem | |
| dazu gedient, bereits bestehende Angebote zu sichern. | |
| Wichtige Bewegungsangebote für Senioren etwa habe man erhalten können. | |
| Auch die Finanzierung von Beratungsangeboten in zwei Mehrgenerationshäusern | |
| sei gesichert worden. „Insgesamt wurden mit LISA1 kleine Brötchen | |
| gebacken“, bestätigt Butler. „Bei dieser zweiten Durchführung haben wir | |
| mehr vor.“ | |
| Elke Schilling erzählt, dass nach LISA1 eine große Begegnungsstätte für | |
| migrantische Senioren geschlossen wurde. In Butlers Sozialbericht von 2018 | |
| steht, 51,9 Prozent der Bevölkerung von Mitte habe Zuwanderungserfahrung. | |
| Der Anteil der über 65-jährigen Migranten liegt den Angaben zufolge nur bei | |
| 18,7 Prozent. | |
| Auch zum Thema Armut steht etwas im Sozialbericht: In Bezirk Mitte beziehen | |
| 12,5 Prozent der über 65-Jährigen Altersgrundsicherung – was Hartz IV | |
| entspricht. Das sind mehr als doppelt so viele wie im Berliner Durchschnitt | |
| (6,2 Prozent). | |
| Bisher, erzählt Schilling, sei in Mitte Altenpolitik eher getreu der Devise | |
| erfolgt: „Das erledigt sich durch Verdrängung von selbst.“ Viele Senioren | |
| könnten ihre Wohnungen nicht mehr bezahlen, bestätigt Elisabeth Graff. Die | |
| Bewohner einer Senioreneinrichtung am Hackeschen Markt etwa seien nach | |
| Marzahn umgesiedelt worden. Was aus ihnen wurde? Da könne sie nur mutmaßen, | |
| sagt Graff. Sie sagt: „Einen alten Baum kann man nicht verpflanzen.“ | |
| 22 Jul 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Plutonia Plarre | |
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