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# taz.de -- Alt werden: Eine abschreckende Zukunftsvision
> Opa spricht nicht, Oma hört nichts mehr. Beim Anblick der Großeltern
> kommen Zweifel daran auf, dass das Lebensende lebenswert ist.
Bild: Altern ist selten rosig: Das Gehen wird beschwerlich und die Sinne schwin…
Warum will man heutzutage noch alt werden? Damit will ich nicht das
Klischee von „live fast, die young“ wiederbeleben, aber jenseits der 70
[1][sieht es doch oft recht traurig aus]. Vor wenigen Jahren spielte mein
Opa noch Tennis und kaute seinem Umfeld sämtliche Ohren ab – jetzt wird er
von einer Heimapotheke an Tabletten und Tröpfchen am „Leben“ gehalten.
Immobil und unkommunikativ. Umsorgt von einer Haushaltshilfe, seiner
Tochter, und seiner Frau.
Letztere, meine Oma, ist aber selbst schon 82 Jahre alt und damit noch eine
Dekade jünger als mein Großvater. Sie pendelt von einem Arzt zum nächsten.
Die Hörgeräteakustikerin hat ihr nun Hörtrainingsaufgaben mitgegeben, die
ihr aus ihrer der Nahezutaubheit geschuldeten Isolation helfen sollten.
Der eine kann nicht sprechen, die andere nicht hören – aber an letzterem
soll ja die freundliche Stimme aus dem Lautsprecher etwas ändern.
„La-ke-fi-sa-do“, tönt es. Oma soll genaues Zuhören trainieren, anhand von
ausgedachten Silbenkombinationen aber auch anhand von Märchen und
akustischen Kreuzworträtseln. Oma guckt hilflos. Opa röchelt vor sich hin.
Eigentlich sollte meine Großmutter allein in der Lage sein, ihre
Hausaufgaben zu erledigen, doch es scheitert schon am Einschalten des
CD-Players. Also hat meine Mutter eine weitere Aufgabe, zusätzlich zu Arzt-
und Apothekenbesuchen, dem Kochen und Rollstuhlausfahrten mit ihrem Vater:
Sie hört sich Märchen an und erklärt Oma das Prinzip von Kreuzworträtseln.
## Allein ist das nicht zu schaffen
Wenn ich aus Hamburg zu Besuch komme in das niedersächsische
400-Seelen-Dorf, wo meine Großeltern schon immer wohnen, helfe ich
natürlich aus. Allerdings komme ich nur einmal im Monat, denn ich habe ja
auch ein Leben, eine Miete zu bezahlen und meine mentale Gesundheit zu
bewahren. Meine aktuell größte Rolle innerhalb der Familie ist die der
Zuhörerin. Wenn meine Mutter, in ihrem neuen, wahnsinnigen Alltag zu
versinken droht, ruft sie mich an und erzählt: Wer versteckt sich wie wir
einst zur Schulzeit vor den Hausaufgaben oder wer ist schon wieder
ausgebüxt ohne Bescheid zu sagen wohin.
Antwort: Oma tut so, als höre sie einen nicht und geht in einen anderen
Raum, wenn sie sich ihren Hörhausaufgaben widmen soll und Opa hat
plötzliche Energieschübe, und taucht in seiner alten Mühle, die er bis vor
20 Jahren betrieben hat, und bei den nicht mehr ganz so neuen Bewohnern
auf.
Während dieser langen Telefonate wird mir immer wieder bewusst: Alleine
werde ich es in 30 oder 40 Jahren nicht schaffen, mich um meine Mutter zu
kümmern. Meine Großeltern haben vier Kinder und das Geld für Hilfe von
außen. Doch wie sollen wir, die wir keine oder wenige Kinder und [2][kein
gute Rente in Aussicht] haben, unsere Epilogedurchstehen? Hat die Medizin
versagt, dass sie uns zu langen und mühseligen Lebensabenden verdammt?
Wenn man den Hausherren fragt, ob er noch möchte, konzentriert er sich ganz
stark, bringt all seine Energie auf und krächzt ein überzeugtes „ja“. War…
ist uns allen ein Rätsel. Es könnten die wenigen guten Momente sein, wie
etwa als wir im Herbst nach dem Trubel seines 92. Geburtstages auf der
Terrasse an einem Feuer saßen und ich einen solchen Schluckauf bekam, dass
er mich glücklich auslachte und schlussendlich mit einem bisschen Wasser
aus seinem Schmerztröpfchenschnapsglas heilte. Wieso das funktioniert hat,
wird er wohl nie beantworten können.
## Den eigenen Vater weinen sehen
Ich frage mich: Wird es noch schlimmer? Die Antwort lautet: Ja. Mein Opa
spricht immer weniger, Worte und Laute verschwinden aus seinem Vokabular.
Seine Laufwege werden kürzer und häufiger durch Rollstuhlfahrten ersetzt.
Oma guckt hilflos. Opa röchelt vor sich hin.
Alle Treppenlifte, Hörgerate und Rollstühle der Welt ändern nichts daran,
dass es den beiden, so wie den 4,5 Millionen über 80jährigen in Deutschland
nie wieder richtig „gut“ gehen wird.
Meine Mutter hat ihren Vater zum ersten Mal weinen sehen, als vor ein paar
Monaten seine Frau kollabiert war und er ihr nicht helfen konnte. Wer im
rechten Winkel am Rollator hängt, kann niemandem aufhelfen. Und selbst,
wenn er es geschafft hätte, jemanden anzurufen, wären seine Hilferufe nicht
zwingend als solche zu verstehen gewesen.
Aber ein Hoch auf die Tabletten, ohne die er vielleicht nicht mehr da wäre.
Altern ist eine Epidemie, die dafür sorgt, dass sich gestandene Menschen zu
Kindern zurück entwickeln. Sie müssen jederzeit umsorgt werden, können sich
nicht richtig artikulieren, müssen gezwungen werden, ihre Teller zu leeren
und machen Mittagsschläfchen.
## Nicht auf die Pflege der Eltern vorbereitet
Die Evolution hat uns darauf vorbereitet, uns um unsere Nachkommen zu
kümmern. Aber sie hat uns nicht darauf vorbereitet, diese Jahre der Pflege
später zurückzugeben.
Ich bin froh, dass ich noch Großeltern habe, das ist keine
Selbstverständlichkeit. Aber manchmal ist es schwer, sie nicht nur mehr als
eine abschreckende Zukunftsvisionen zu sehen.
Bis dann ab und an ein Sonnenstrahl in die dörfliche Tristesse fällt:
Letztes Jahr: Das Kartenspiel mit dem Familienoberhaupt, als ihm die
Schadenfreude aus dem Gesicht sprang, weil der den nächsten Spieler zur
Aufnahme von vier Karten zwang. Oder beim gemeinsamen Ausflug zum Volksfest
Hamburger Dom. Meine Oma mit leuchtenden Augen in der Riesenradgondel.
„Schön wie Weihnachten ist das“, sagte sie immer wieder. Solche Momente
muss man sich in Erinnerung rufen, wenn es gerade wieder so aussieht, als
würde es nur noch bergab gehen.
18 Apr 2019
## LINKS
[1] /Altern-in-Deutschland/!5446689
[2] /Koalition-uneinig-ueber-Heils-Reformplaene/!5570371
## AUTOREN
Sola Steinke
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