# taz.de -- Der Hausbesuch: „Ich hab noch ein bisschen Zeit“ | |
> Sie hat ihren Mann geliebt – aber dann ging es nicht gut. Nach der | |
> Trennung begann für die 84-jährige Marlene Schnoor eine Zeit der | |
> Freiheit. | |
Bild: Marlene Schnoor, 84, hat den Bombenhagel über Hamburg erlebt und ist ger… | |
Nach ihrer Scheidung reißt sie aus und reist durch die Welt. In ihrer | |
Wohnung in Kiel erinnert sich Marlene Schnoor an frühere und letzte Reisen. | |
Draußen: Von Weitem riecht es nach Meer. Im Kieler Vorort Pries reihen sich | |
zweistöckige Häuschen aneinander, ein Naturkostladen, ein moosbewachsenes | |
Gemeinschaftshaus. Blumenbeete, Schafe blöken. Sechzig Personen leben in | |
den ehemaligen Scheunen – so steht es auf einer Liste in Klarsichtfolie von | |
Marlene Schnoor. Sie wohnt in dem Haus mit der Nummer 24. | |
Drinnen: Ein Schlafzimmer, ein Bad, ein Wohnzimmer. Die Terrassentüre führt | |
in den Garten, ein Strandkorb hier, alles ebenerdig. Es soll | |
behindertengerecht werden, sagt Marlene Schnoor, während ihre Arme auf den | |
Lehnen eines Sessels ruhen. So wollen es die Töchter. Sie weigert sich, | |
noch. Bücherregale bis zur Decke, vor ihnen steht ein Rollator. Die Uhr des | |
Großvaters von 1902 ist auf halb sechs stehen geblieben. Ein goldener | |
Brieföffner liegt neben dem Fernsehprogramm, der Fernseher aber schweigt. | |
Marlene Schnoor sagt, sie sei vorhin einfach eingeschlafen. Vor Kurzem habe | |
sie einen leichten Herzinfarkt gehabt, seitdem sei sie öfters müde. | |
Marlene Schnoor: 84, Goldkettchen, tapetenweiße Haare und rote | |
Outdoor-Sandalen, ist die älteste Bewohnerin im generationsübergreifenden | |
Wohnprojekt Hof Pries. Mit beiden Händen hält sie das Telefon: „Bist du von | |
den Toten auferstanden?“, ruft sie in den Hörer. Es ist Gundel, die | |
Nachbarin, noch zehn Jahre jünger und gerade aus dem Krankenhaus entlassen. | |
„Ich bringe dir später einen Kaffee vorbei“, verspricht sie. Schnoor, der | |
Nachname käme von der Schnur oder dem Tau, sagt sie, und würde sofort | |
verraten, dass sie aus dem Norden stamme. | |
Kindheit im Krieg: Schnoor wird 1934 in Alveslohe geboren. Eine ihrer | |
ersten Erinnerungen: als sie ein Gespräch von ihrem Vater, Werkzeugmacher, | |
und einem Kunden mithört. Kommt der Zweite Weltkrieg oder nicht, | |
spekulieren sie. Schnoor ist sieben Jahre alt, als sie den Bombenhagel über | |
Hamburg sieht. | |
Dunkle Zeiten: „Ich weiß nicht, ob ich Angst hatte“, sagt sie über die | |
Momente, in denen die Familie sich bei Bombenalarm unter die schützenden | |
Türrahmen stellte. Die wimmernde Tante nervte sie. Früh entscheidet sie | |
sich, keine Angst zu haben, während sie im stockfinsteren Keller liegt und | |
wartet, dass es wieder knallt oder der Strom ausfällt. Nachts läuft sie an | |
den Bahnschienen entlang nach Hause. Ihrem Tastsinn traut sie mehr als | |
ihren Augen. Als Kind schielt sie, ist fast blind. | |
Endlich Durchblick: Es ist René, ein Kriegsgefangener aus Frankreich, der | |
ihr eine Brille besorgt. Er nennt sie liebevoll „petite Marlene“. Anders | |
als die anderen Gefangenen darf er mit ihnen am Tisch essen. Auch er weinte | |
viel aus Angst, erinnert sie sich, und an eine Szene besonders: Als 1945 | |
die Briten kommen, klaut er eine Pistole und schützt den Hof vor den | |
Plünderern: „Hier nix, Chef gut.“ Nach dem Krieg kommen zu den | |
Kriegsgefangenen Flüchtlinge ins Dorf, erzählt Schnoor, während neben ihr | |
die Lokalzeitung liegt. Der Titel: Asylstreit. Ein Bild von Seehofer und | |
Merkel. „Es hat schon immer Flucht und Vertreibung gegeben“, sagt sie. Das | |
Aufstreben der Rechten heute aber mache ihr Angst. | |
Emanzipation: Im Krieg waren die Frauen die Starken. Weil die Männer im | |
Krieg sind, fährt sie selbst das Feuerwehrauto, die anderen Frauen löschen. | |
Kaum zu glauben, dass sie in dieser Zeit ohne die Erlaubnis ihres Mannes | |
arbeiten durften, Schnoor lacht. Nach der Handelsschule fängt sie als | |
Schreibkraft im Landtag von Schleswig-Holstein an: 400 Silben pro Minute in | |
Steno, eigentlich so schnell, wie man spricht. „In der untersten Liga“ | |
arbeitet sie im Landtag, als 1987 die Barschel-Affäre diskutiert wird. „Mit | |
der Schreiberei konnte ich durchs Leben gehen“, sagt Schnoor. Sie arbeitet | |
beim Spiegel, schreibt irgendwann ihre eigene Biografie. Sie fischt den | |
Text aus dem Regal, zwischen einer Bibel aus dem Jahr 1945, aus der ein | |
Brief des Großvaters fällt. Mit dem Finger fährt sie über die mit lila | |
Filzstift zensierten Textstellen. Nicht an alles könne sie sich erinnern. | |
Auf …: Ihren späteren Ehemann lernt sie bei einer Zugfahrt nach | |
Süddeutschland kennen. Monatelang schreiben sie sich Briefe, dann lässt er | |
sich für sie einen Telefonanschluss legen. Anfang der goldenen 60er | |
heiraten sie, bauen ein Haus und kaufen sich einen Fiat 500, hellblau mit | |
Rolldach. | |
… und ab: „Ich hab ihn wirklich geliebt“, Schnoor räuspert sich. Anfang … | |
achtziger Jahre, die zwei Töchter waren gerade aus dem Haus, erwischt sie | |
ihren Mann mit seiner Affäre auf offener Straße. Nur ein einziges und | |
letztes Mal sieht sie ihn später, als der Stolperstein für seinen jüdischen | |
Großvater gelegt wird. Er sagt nicht Hallo, kein Wort. „Er konnte noch nie | |
gut sprechen“, sagt Schnoor. Warum er in der Ehe nicht zufrieden war, wird | |
sie nie erfahren. „Ich hätte gerne noch jemand gehabt“, sagt sie und | |
lächelt: „zum Tanzen“. | |
Und weiter: Ohne die Scheidung wäre sie aber wohl nie auf Reisen gegangen, | |
sagt Schnoor vor einer Wand voller DIN-A4-Fotografien. Sie zeigen Dünen in | |
Namibia, eine Gruppe Jäger in Kanada, erinnern an Reisen in die Türkei, | |
Sansibar, Indien, Wanderungen auf 5.000 Meter Höhe, eine eisige Nacht im | |
Schlafsack im Himalaja, den Anblick von Lawinen und Schneeleoparden. Nach | |
der Trennung hätte sie die „taktische Freiheit“ gehabt, überall hinzugehen | |
und niemanden mehr fragen zu müssen, sagt sie. Sie erinnert sich an die | |
erste Reise mit einer Freundin und ihrem Wohnmobil. Sie sei jetzt im Heim. | |
„Es gäbe noch so viel, was ich sehen möchte.“ | |
Kopf-und-Körper-Diskrepanz: Als sich Schnoor beim Fahrradfahren die Hüfte | |
bricht, weiß sie, dass es mit dem Reisen vorbei ist. Fünfzehn Operationen, | |
zwei neue Knie, ein Herzbypass. Eigentlich hatte sie immer ihre | |
körperlichen Grenzen übergangen, erzählt sie. Die letzte Reise war deshalb | |
eine gewesen, die auf ganz andere Art abenteuerlich war: Sie war auf Kur in | |
Bad Griesbach. Immerhin, von ihrer vorletzten Reise nach Zypern hat sie | |
„Snoopy“ mitgenommen. Der Hund ist heute ihr treuester Freund. Man wäre ja | |
sonst langsam einsam, sagt sie. Sechs ihrer Freundinnen sind in letzter | |
Zeit gestorben: „So ist das halt.“ Dann klingelt es an der Türe: „Da kom… | |
er ja.“ Die Nachbarin war heute mit Snoopy spazieren. Hundert Menschenjahre | |
ist der weiße Straßenhund mittlerweile alt. Erschöpft rollt er sich auf | |
seinem Kissen auf dem Fußboden zusammen, auch er hat Rückenschmerzen. | |
Das Altern: „Früher ist man einfach tot umgefallen“, sagt Schnoor. Ihr | |
Großvater, 91, ein Schnupfen und fertig. Ihr Bruder dagegen sei im | |
Krankenhaus elendig „verreckt“. Schnoor stellt sich ihren Lebensabend | |
anders vor: Im Schlafzimmerschrank liegt die Patientenverfügung. „Es ist | |
auch okay, wenn ich gehe.“ Seit 24 Jahren geht sie denselben Weg mit Snoopy | |
im Wald spazieren. Sie spürt beim Laufen ihr Herz und sie weiß mit jedem | |
Schritt, die kleinste Überanstrengung könnte ihr Ende bedeuten. Sie | |
beobachte das Gefühl und trotzdem die immer neuen Farben und Gerüche auf | |
dem altbekannten Weg. Vor Kurzem sah sie jemand gleichen Namens unter den | |
Todesanzeigen: „Aber ich hab noch ein bisschen Zeit“, sagt sie und lächelt. | |
Auf dem Tisch liegt eine Häkeldecke für das Urenkelkind. Am 3. Oktober ist | |
es zur Welt gekommen. Lone, ein Mädchen. | |
7 Dec 2018 | |
## AUTOREN | |
Ann Esswein | |
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