# taz.de -- Neue Wege in der Pflege: So viel Zeit muss sein | |
> Anziehen, waschen, weiter – in der häuslichen Altenpflege fehlt häufig | |
> die Zeit für die menschlichen Gesten. Ein Pilotprojekt will das ändern. | |
Bild: Mehr Zeit für kleine Dinge, die nicht im Abrechnungskatalog stehen | |
EMSDETTEN taz | Um 8.05 Uhr hat Andreas Mühl schon ein beachtliches | |
Arbeitspensum hinter sich. Er hat Annemarie Puntke geweckt und gewaschen, | |
sie zur Toilette begleitet, ihren Verband kontrolliert, ihre Haare geföhnt | |
und ihr die Kleidung angezogen. Und, auch das ein Ritual, er hat ihr ihre | |
Lieblingskette um den Hals gelegt. Solche Details sind dem Pfleger wichtig. | |
„Prima, Frau Puntke“, sagt Mühl, als die 82-jährige Seniorin auf dem | |
Treppenlift Platz genommen hat. Noch vor einem Jahr hätte der Pfleger nun | |
aus dem Haus hasten müssen, weiter zum nächsten Klienten. An diesem Tag | |
aber setzt er sich an den Küchentisch und trinkt mit ihrem Ehemann Werner | |
Puntke noch eine Tasse Kaffee. „Das hätte es früher nicht gegeben“, sagt | |
Mühl, während er die erbrachten Leistungen in einer Aktenmappe notiert. | |
„Jetzt ist alles ein bisschen anders.“ | |
Andreas Mühl arbeitet bei einem ambulanten Pflegedienst in Emsdetten, einer | |
deutschen Kleinstadt 50 Kilometer vor der niederländischen Grenze. Die Nähe | |
zum Nachbarland ist wichtig, denn Mühl und sein Team testen ein | |
Arbeitsmodell, das in den Niederlanden schon länger funktioniert. | |
Dort entscheiden die Pflegekräfte selbst, wie viel Zeit sie bei einem | |
Patienten verbringen. Sie organisieren sich in kleinen Teams von maximal | |
zwölf Personen und treffen eigenständige Entscheidungen: Über die | |
Pflege-Leistungen, das Budget, den Dienstplan, die Einstellung neuer | |
Kollegen. | |
Noch wichtiger aber: Die Fachkräfte sind nicht mehr allein, sondern | |
bekommen Unterstützung. Das Konzept heißt nicht umsonst „Buurtzorg“, zu | |
Deutsch: Nachbarschaftshilfe. So sollen Nachbarn, Angehörige oder Freunde | |
jene Aufgaben übernehmen, für die nicht unbedingt eine Fachkraft | |
erforderlich ist: Kleidung anziehen, Essen zubereiten, Medikamente | |
verabreichen. Im Gegenzug bleibt den Profis mehr Zeit für die eigentliche | |
Pflege. Und für die kleinen Dinge, die im stressigen Alltag sonst auf der | |
Strecke bleiben. | |
## Eine 180-Grad-Wende | |
Bei Andreas Mühl ist es die Tasse Kaffee am Küchentisch. Bei anderen mag es | |
ein Plausch über das Wetter sein. „Man sollte diese Zeit nicht | |
unterschätzen“, sagt Mühl und meint damit nicht nur die menschliche Geste. | |
Auch das Gesundheitssystem könne profitieren, wenn Pfleger ein paar Minuten | |
gewinnen. | |
„Stellen Sie sich vor, ein älterer Herr klagt am Morgen über | |
Bauchschmerzen“, erzählt Mühl. Normalerweise müsste er einen Arzt rufen; | |
der Mann käme ins Krankenhaus. „Wenn wir aber Zeit zum Reden haben, erzählt | |
er mir vielleicht, dass er am Vortag frische Bohnen gekauft hat. Wir haben | |
die Ursache der Bauchschmerzen geklärt und einen unnötigen Aufenthalt im | |
Krankenhaus verhindert.“ | |
Buurtzorg funktioniert aber nur, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt | |
sind: Zum einen braucht es genügend Freiwillige, die bereit sind, bestimmte | |
Aufgaben zu übernehmen. Ob das nur in Emsdetten der Fall ist oder auch in | |
anderen, größeren Städten, ist eine von vielen offenen Fragen. | |
Zum anderen muss das neue Modell in das bestehende Abrechnungskorsett | |
gepresst werden. Bisher bekommen Pflegedienste in Deutschland einzelne | |
Leistungen pauschal erstattet: Stützstrümpfe anziehen, Haare waschen, | |
Aufrichthilfe benutzen – alles einzelne Kostenstellen. Bei Buurtzorg | |
wiederum soll nur noch nach Zeit bezahlt werden, was nichts Geringeres als | |
eine 180-Grad-Wende bedeutet. | |
Ob ein solch radikaler Schnitt in Deutschland funktioniert, soll durch das | |
Modellprojekt herausgefunden werden. Die Vorzeichen dafür sind gut, denn im | |
Pflegesektor herrscht akuter Personalmangel. Die Schätzungen reichen von | |
25.000 bis zu 80.000 fehlenden Pflegekräften. Fest steht: Die | |
Arbeitsbedingungen gelten als hart und unattraktiv. Der Wille, etwas zu | |
ändern, ist groß. Aber klappt das auch? | |
„Am Anfang war es sehr holprig“, räumt Cornelia Gang ein. Als | |
Geschäftsführerin des Pflegedienstes „Impulse“, bei dem auch Andreas Mühl | |
arbeitet, ist sie ein großer Fan des Buurtzorg-Konzepts. In der Praxis | |
gestaltete sich die Umstellung aber komplizierter als gedacht. „Das war | |
erst einmal Stress für die Mitarbeiter“, sagt Gang, denn die | |
Buurtzorg-Teams müssen sich nun komplett selbst organisieren. Eine separate | |
Bürostelle, die Dienstpläne erstellt, sich mit Ärzten austauscht oder | |
Personalgespräche führt, gibt es nicht mehr. „Damit ist viel | |
Eigenständigkeit und Verantwortung verbunden“, sagt Gang. „Das ist nicht | |
für jeden etwas.“ | |
## Finanziell rechnet sich das neue Modell noch nicht | |
In ihrer Firma existieren deshalb beide Modelle parallel: 24 Fachkräfte | |
arbeiten nach dem klassischen Konzept, fünf haben Ende 2018 auf Buurtzorg | |
umgestellt. Finanziell rechnet sich das neue Modell laut Gang noch nicht. | |
„Momentan zahlen wir drauf. Aber genau deshalb machen wir dieses Projekt – | |
um herauszufinden, was die Umstellung im Alltag bedeutet.“ Dazu gehören | |
auch ständige Verhandlungen mit den Krankenkassen: Wenn nicht mehr nach | |
einzelnen Leistungen, sondern nach Zeit abgerechnet wird, welcher | |
Stundensatz ist dann fair? „Für uns ist das ein Lernprozess“, antwortet | |
Gang. „Es dauert bestimmt noch ein Jahr, bis sich die Dinge eingespielt | |
haben.“ | |
Der Verband der Ersatzkassen (vdek) unterstützt das Modellprojekt in | |
Nordrhein-Westfalen und spricht von einem „innovativen Versorgungsansatz“. | |
Aber: „Eine Schwierigkeit bei Buurtzorg ist das Abrechnungssystem“, bemerkt | |
Dirk Ruiss, Leiter der Landesvertretung in NRW. „In der Pflege werden die | |
Leistungen abgerechnet, während Buurtzorg pauschal die Zeit abrechnet. Wir | |
wollen sicherstellen, dass die Leistungen beim Pflegebedürftigen ankommen. | |
Das Modellprojekt wird auch klären, wie dies gelingt.“ | |
Auch in der Schweiz, die mit ähnlichen Problemen wie Deutschland kämpft, | |
ist Buurtzorg in der Diskussion. Die Fachhochschule Nordwestschweiz hat | |
untersucht, ob sich das niederländische Modell auf schweizerische | |
Verhältnisse übertragen ließe. „Einfach wird dies nicht“, schlussfolgern | |
die Autoren der Studie. Denn: „Dies ist kein Modell, das nur zum Ziel hat, | |
die (mittlere) Führungsebene abzuschaffen oder die Kosten zu reduzieren.“ | |
## Patient als Kostenfaktor oder Milchkuh | |
Da die Teams ihr Budget selbst verwalten, sei eine Kultur des Vertrauens | |
entscheidend. „Das Schwierige dabei ist: Diese Kultur kann nicht verordnet | |
werden“, heißt es in der Studie. „Man muss sie leben, entwickeln, pflegen | |
und immer wieder erneuern.“ | |
Wenn diese Hürden aber überwunden werden – da sind sich die Wissenschaftler | |
einig –, dann könnte Buurtzorg ein Gewinn für das Schweizer | |
Gesundheitssystem darstellen. Ähnlich sieht es Pierre-André Wagner vom | |
Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK). | |
„Wir wollen den Systemwechsel“, sagt Wagner, „denn aktuell wird der Patie… | |
entweder als Kostenfaktor oder als Milchkuh gesehen.“ Beides führe zu einer | |
hohen Frustration in der häuslichen Pflege, ähnlich wie in Deutschland. | |
„Wir haben einen riesigen Bürokratie-Apparat, aber vom Geld kommt am Ende | |
beim Patienten kaum etwas an. Diese Entwicklung ist katastrophal und muss | |
gestoppt werden.“ | |
Buurtzorg könnte gewissermaßen das Gegenmittel darstellen. „Als | |
Berufsverband sind wir von diesem Modell begeistert“, sagt Wagner. Wenn | |
Nachbarn, Freunde und andere Freiwillige die Fachkräfte unterstützten, | |
könnten Pflegebedürftige länger in ihrem Zuhause bleiben. „Am Schluss wird | |
die Qualität so gut sein, dass auch die Kosten gedämpft werden“, ist sich | |
Wagner sicher. Aber: „Auch in Holland waren die Leute am Anfang skeptisch. | |
Bei uns muss dieser Umdenkprozess erst starten.“ | |
## Euphorie und viele offene Fragen | |
Trotz aller Euphorie gibt es nämlich viele offene Fragen. Werden sich auch | |
in Großstädten genügend Menschen finden, die ihren Nachbarn helfen? Könnte | |
die Umstellung zur reinen Zeit-Abrechnung Missbrauch begünstigen? Und gibt | |
es überhaupt genügend Pflegekräfte, die zu einer solchen grundsätzlichen | |
Umstellung bereit wären? | |
Auch in Emsdetten, wo das deutsche Modellprojekt läuft, sind diese Fragen | |
noch nicht gänzlich beantwortet. Werner Puntke, der Ehemann, ist aber schon | |
heute überzeugt. „Wir fanden dieses Prinzip von Anfang an sehr gut“, sagt | |
der 86-Jährige. Durch die kleineren Teams kämen maximal fünf verschiedene | |
Pfleger ins Haus. „Darauf kann sich meine Frau viel besser einstellen.“ | |
Dass nicht jedes Mal eine Fachkraft kommen muss, um Medikamente zu | |
verabreichen oder das Frühstück zu richten, ist für den älteren Herrn der | |
Normalfall. „Wir haben eine große Familie, die uns sehr unterstützt“, sagt | |
Puntke. „Im Grunde leben wir die Buurtzorg-Idee schon immer.“ | |
4 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Steve Przybilla | |
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