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# taz.de -- Pflegekräfte in der Coronakrise: Systemrelevant und schlecht bezah…
> Mit dem neuen Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst bekommen
> Pflegekräfte bald mehr Geld. Davon profitiert aber nur ein kleiner Teil.
Bild: Ende September demonstrierten Pflegekräfte auf dem Berliner Kurfürstend…
Berlin taz | Ende September demonstriert die Krankenpflegerin Lena Hillers
auf dem Berliner Kurfürstendamm, um Jens Spahn mit den Problemen in ihrem
Beruf zu konfrontieren. Die Auszubildende aus Hamburg hat sich dafür extra
von der Berufsschule freistellen lassen. Nach der
Gesundheitsministerkonferenz hält sie mit ihren Mitstreiter*innen
Transparente mit 12.500 Fotos von wütenden Pflegekräften in die Höhe.
Zu diesem Zeitpunkt verhandelt die Gewerkschaft Verdi mit dem
Arbeitgeberverband den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD).
Einen knappen Monat später einigen sich beide Parteien auf [1][eine
Lohnerhöhung von 8,7 Prozent für Pflegekräfte]. Lena Hillers profitiert
davon nicht.
Die 21-jährige Pflegerin arbeitet in einem Krankenhaus in kirchlicher
Trägerschaft. Damit gehört sie zu den Pflegekräften, die nicht nach dem
neuen Tarifvertrag bezahlt werden. Auch die meisten Pflegekräfte in privat
geführten Kliniken haben eigene Vereinbarungen. Verhandelt wurde für die
Angestellten bei Bund und Kommunen.
Für sie erkämpfte Verdi mitten in der zweiten Welle der Coronapandemie 8,7
Prozent mehr Lohn bei einer Laufzeit von 28 Monaten, für Intensivkräfte
rund 10 Prozent. Hinzu kommen Zulagen und eine Prämie von bis zu 600 Euro.
Der Vertrag gilt als ein Zeichen der Wertschätzung. Verdi-Vorsitzender
Frank Werneke lobte „deutliche Verbesserungen“. Bundesinnenminister Horst
Seehofer (CSU) sprach gar von einem „historischen Durchbruch“.
## „Viele Pflegekräfte resignieren“
Auf Lob und Klatschen seit der ersten Welle im Frühjahr folgt nun
tatsächlich eine monetäre Aufwertung – allerdings nur für einen Teil der
Pflegekräfte. Rund 1,7 Millionen Menschen sind laut der Bundesagentur für
Arbeit in der Alten- und Krankenpflege beschäftigt. Nach Angaben von Verdi
gilt der neue Vertrag bundesweit für 200.000 Pflegekräfte.
„Ich gönne es den Leuten auf jeden Fall und irgendwo muss ja der Anfang
gemacht werden“, sagt Krankenpflegerin Hillers. „Aber auf lange Sicht muss
das angeglichen werden, damit es gerecht ist.“ Sie hat sich solidarisch an
der Demonstration in Berlin beteiligt. Auch weil sie hofft, dass der
Abschluss nun Einfluss auf nachfolgende Verhandlungen hat. „Viele
Pflegekräfte resignieren, weil sie seit Jahrzehnten kämpfen und die
Zustände sich nie deutlich verbessert haben“, sagt sie.
Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell kritisiert, dass in der
Öffentlichkeit nun der Eindruck entstanden sei, dass alle Pflegekräfte die
Erhöhung erhalten. „Ob die freigemeinnützigen Träger oder, noch schlimmer,
die privatwirtschaftlichen Träger diese tariflichen Verbesserungen
übernehmen, ist jedoch erst einmal eine ganz offene Frage“, sagt er. Und
selbst wenn, gebe es noch immer eine Zeitverzögerung, die je nach
Verhandlungsfristen erheblich sein könne. „Dass auch die Altenpflege gleich
mit abgefrühstückt wurde, ist absoluter Unsinn, weil der Anteil der
kommunalen Träger in diesem Bereich sich auf unter fünf Prozent beläuft.“
Die Gehaltsunterschiede in der Pflege machen je nach Bundesland und
Einrichtung mehrere hundert Euro pro Monat aus. Pflegefachkräfte, die nach
dem TVöD bezahlt werden, verdienen nach Angaben von Verdi ab April 2021
nach 15 Jahren 3.659,56 Euro im Monat. Zum Vergleich: Bei einem der
privaten Träger liegt ihr Gehalt derzeit bei 3.140 Euro.
## Ein Vertrags-Wirrwarr
Fachkräfte in der Altenpflege verdienen generell weniger. Das
durchschnittliche Gehalt liegt nach Berechnungen des Instituts für
Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei 3.032 Euro. Auch die Zahl der
Wochenstunden oder Urlaubstage, ob und in welcher Höhe Wechselschichten und
Überstunden vergütet werden, sind je nach Vertrag unterschiedlich.
In der Krankenpflege gibt es ein komplexes Geflecht aus Verträgen mit
unterschiedlichen Verhandlungspartnern: Viele Universitätskliniken
verhandeln auf Landesebene. Kommunale und Bundeskrankenhäuser zählen zum
öffentlichen Dienst. Freigemeinnützige Einrichtungen werden nach
kirchlichen Tarifbestimmungen bezahlt. Privatwirtschaftliche Träger haben
häufig Hausverträge.
Dabei gibt es immer wieder Sonderfälle: In Brandenburg profitieren nur die
Beschäftigten von zwei der insgesamt 22 kommunalen Krankenhäuser von dem
TVöD. Die Mehrheit der Kliniken hat den Vertrag aufgekündigt. Einige
private Träger haben den Tarifvertrag hingegen übernommen, im Schnitt
verdienen Pflegekräfte bei privaten Trägern jedoch noch immer am wenigsten.
Gleichzeitig steigt der Anteil an privaten Kliniken, während die Zahl der
kommunalen Träger schrumpft. Waren laut Erhebungen des Instituts Arbeit und
Qualifikation der Universität Duisburg-Essen 1992 noch 44,6 Prozent der
Kliniken in kommunaler Hand, sind es 2018 nur noch 28,7 Prozent. Im selben
Zeitraum hat sich der Anteil an Kliniken mit privater Trägerschaft von 15,5
Prozent auf 37,6 Prozent mehr als verdoppelt.
## Der große Wurf blieb aus
Diese Entwicklung hängt mit der Einführung der Fallpauschalen zu Beginn der
2000er Jahre zusammen, in dessen Zuge viele Kommunen ihre Krankenhäuser an
private Unternehmen verkauften. In diesem System wird für jeden
Krankheitsfall eine feste Pauschale festgelegt. Dauert die Genesung länger,
zahlt das Krankenhaus drauf. Um wirtschaftlich zu arbeiten, sparen viele
Krankenhäuser daher beim Personal.
Ulrich Mönke hat diese Entwicklung miterlebt. Er ist seit über 40 Jahren
Krankenpfleger. Von dem neuen Tarifvertrag profitiert auch er nicht. „Seit
ich in diesem Beruf arbeite, gibt es diese Unterschiede“, sagt er. Er sei
froh, dass die Pflege bei den Verhandlungen dieses Mal abgekoppelt wurde.
„Aber wenn mehr Leute in den Beruf kommen sollen, hätte das der große Wurf
sein müssen und das ist nicht der Fall.“
Die Wertschätzung für den Beruf lasse sich ohnehin nicht an Geld
festmachen, sagt Krankenpflegerin Rita Müller. „Die Arbeitsbelastungen,
unter denen wir arbeiten, sind vielen Menschen nicht bewusst.“ Sie hofft,
dass aus dem neuen Tarifvertrag eine Entlastungsbewegung für die Pflege
entsteht. Ihren richtigen Namen will sie nicht nennen, weil sie in der
Vergangenheit nach öffentlichen Äußerungen Probleme mit ihrem Arbeitgeber
bekam. Die 32-Jährige sieht ein Spaltungspotenzial durch die ungleichen
Verhältnisse. „Das haben wir auch auf der Intensivstation durch die
unterschiedlichen Auszahlungen der Coronaprämie“, sagt sie.
Sozialwissenschaftler Sell beobachtet in der Krankenpflege eine Tendenz,
dass private Träger die Löhne anheben, um Personal anzuwerben. In der
Altenpflege sei dies aber nicht der Fall, obwohl dort ein großer
Personalmangel herrsche. Im stationären Bereich seien etwa 50 Prozent der
Einrichtungen in privatwirtschaftlicher Trägerschaft. Im Bereich der
ambulanten Pflege, in dem die Angestellten am schlechtesten bezahlt werden,
liege der Anteil bei zwei Dritteln. „Wenn die einen Haustarif haben, ist
das schon euphemistisch, wenn man sagt, der orientiere sich am öffentlichen
Dienst“, sagt der Sozialforscher. Zuerst müsse man Krankenpflege und
Altenpflege auf ein Lohniveau bringen.
## Das Problem: Gewinnstreben
Verdi hat kürzlich einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen und
mit dem Arbeitgeberverband einen Mindestlohn für die Altenpflege
verhandelt. Ab Januar 2023 sollen Angestellte je nach Ausbildungsgrad 14,15
bis 18,50 Euro erhalten. „Dem Lohndumping, insbesondere von kommerziellen
Trägern, wird so ein Riegel vorgeschoben“, erklärte Verdi-Vorstandmitglied
Sylvia Bühler.
Auch Altenpflegefachkraft Tatjana Sambale sieht das Problem bei den
privaten BetreiberInnen. Die 34-Jährige arbeitet selbst in einem Heim in
Nürnberg, in dem es keinen Tarifvertrag gibt. „Die Frage ist doch, warum am
Ende des Tages [2][bei anderen Leuten ein Gewinn auf dem Konto entstehen
muss]“, sagt sie. Es gehe in dieser Logik nicht um die bestmögliche
Personalausstattung und Versorgung, sondern darum, dass die Zahlen stimmen.
Auch wenn sie von der Erhöhung ausgeschlossen ist, macht ihr der neue TVöD
Hoffnung. „Es zeigt, dass Spielraum da ist, wenn wir entschlossen genug
kämpfen.“ Das sei ein wichtiges Signal für die Altenpflege, in der die
gewerkschaftliche Organisation sehr gering sei. Die Krankenpflegekräfte
stünden zwar durch die Akutversorgung der Coronapatienten im Fokus, die
Altenpflege werde durch höheren Schutzbedarf in den Heimen jedoch auch
stark herausgefordert. „Die Probleme sind dort am größten, wo die
Öffentlichkeit weniger hinguckt“, sagt Sambale.
Lea Urban findet, dass die Situation der ambulanten Pflegedienste zu wenig
beachtet wird. Die 35-Jährige arbeitet als Pflegeleitung in dem
Familienbetrieb ihrer Eltern im Saarland. Sie sieht das Problem in der
Finanzierung der Pflegedienste. Mit den Krankenkassen verhandeln die
Dienste Preise für Leistungen wie etwa „kleine Morgentoilette“. Bezahlt
werden diese mit der Pflegeversicherung, welche die Pflegebedürftigkeit der
Betroffenen einstuft. Reicht der Betrag nicht aus, müssen sie den Rest
selbst bezahlen oder Sozialhilfe beantragen. „Ich möchte meinen
Mitarbeitern gerne 5 Euro mehr die Stunde bezahlen, aber ich weiß nicht
wie, wenn ich das dann meinen Kunden aus der Tasche hole“, sagt Urban.
Laut Wissenschaftler Sell wurde mit dem Tarifabschluss verpasst, die
Situation der Pflegekräfte insgesamt auf einer strukturellen Ebene zu
verbessern. „Gerade wenn man argumentiert, dass der TVöD eine
Ausstrahlungsfunktion hat, wäre eine strukturelle Aufwertung umso wichtiger
gewesen“, sagt er. Diese Möglichkeit sei nun für die lange Laufzeit von 28
Monaten blockiert.
Zurück vom Protest in Berlin bereitet sich Krankenpflegerin Hillers auf die
Tarifverhandlungen in ihrem Krankenhaus vor. Für sie steht dabei jedoch
nicht das Geld an erster Stelle, sondern mehr Personal. Sie arbeite gerade
in der Onkologie, erklärt sie. Mit der Gegenwärtigkeit des Todes könne sie
umgehen. Mit einer anderen Sache nicht. „Wenn ich nach der Schicht nach
Hause kommen, fühle ich mich oft schlecht“, sagt sie. Das Gefühl, ihre
PatientInnen nicht nach bestem Wissen und Gewissen versorgt zu haben, raube
ihr den Schlaf. Denn obwohl der Personalschlüssel bei ihrem Arbeitgeber
noch vergleichsweise hoch sei, reiche die Zeit nicht, um menschenwürdig zu
pflegen. „Wenn sich das nicht ändert, werde ich nicht lange in der Pflege
bleiben“, sagt sie.
18 Nov 2020
## LINKS
[1] /Tarifabschluss-fuer-oeffentlichen-Dienst/!5720642
[2] /Kapitalisierung-des-Pflegesektors/!5713294
## AUTOREN
Alessandra Röder
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