# taz.de -- 100-jährige Zwillingsschwestern: Und am Abend ein Glas Bier | |
> 1920 wurden die Zwillingsschwestern Anna Zitzelsberger und Katharina | |
> Schwarzbauer geboren. Ein Besuch im Bayerischen Wald. | |
Bild: Die hundertjährigen Zwillingsschwestern mit zwei Verwandten | |
Ach, der Rollator, den will Katharina Schwarzbauer nicht mitnehmen auf dem | |
Weg in den Garten. „Ich kann ohne den Wagen laufen“, sagt sie zu ihrer | |
Nichte, die beiden fassen sich an der Hand. Auch Schwarzbauers Schwester | |
Anna Zitzelsberger ist noch zu Fuß unterwegs, aber etwas schwerfälliger. | |
Jetzt lässt sie sich lieber im Rollstuhl schieben. Seit Anfang August sind | |
sie in einem Doppelzimmer untergebracht im Pflegeheim St. Laurentius in | |
Ruhmannsfelden, Landkreis Regen, Bayerischer Wald. | |
[1][Die Schwestern sind Zwillinge] und wurden am 4. Mai 1920 geboren. Sie | |
sind Hundertjährige, und sie leben beide noch. Ihre Jahrhundertleben lang | |
waren sie immer eng miteinander verbunden. Auf die Frage, wie es geht, sagt | |
Katharina Schwarzbauer: „Ich bin pumperlgesund.“ Es ist ein schöner, noch | |
warmer Herbsttag. Die beiden Töchter von Zitzelsberger sind sie besuchen | |
gekommen, wie mehrfach in der Woche. Die Marktgemeinde mit ihren 2.000 | |
Einwohnern liegt im Osten Bayerns, die Gegend ist geprägt von Wald, viel | |
Wald. „Ich war nie groß krank“, meint Katharina Schwarzbauer und zuckt mit | |
den Schultern. So viel zum Thema, wie man 100 wird, und das als Zwillinge. | |
Die Schwester sagt kaum etwas, sie ist sehr schwerhörig. | |
Im Bayerischen Wald waren die Menschen früher bitterarm, die Gegend lag | |
abgeschieden, es ging rau zu. [2][Viel Schnee, die Sommer waren kurz]. Die | |
Schwestern wurden als die jüngsten von elf Kindern einer Bauernfamilie | |
geboren, die Leute lebten hauptsächlich von der Land- und Forstwirtschaft. | |
Der Hof gehörte zum Dorf Oberried und lag mitten im Wald. „Eine Stunde sind | |
wir in die Schule gelaufen, in Holzschuhen“, erzählt Katharina | |
Schwarzbauer. „Und eine Stunde wieder zurück.“ Der Schnee reichte manchmal | |
nicht nur bis zu den Knien, sondern bis ans Becken, sie deutet es mit der | |
Hand an. Nach der Schule trieben sie die Kühe auf die Weide und am Abend | |
wieder zurück in den Stall. | |
Diese Kindheit und Jugend zeigen eine heute archaisch wirkende, lange schon | |
versunkene Welt auf dem Land. „Ich habe meine Jugend im Wald verbracht“, | |
sagt Schwarzbauer. Und: „Ich habe immer Holz gehauen.“ | |
Tatsächlich ist ihr niederbayerischer Dialekt so stark, dass die beiden | |
Nichten Margot Wagner und Christine Haimerl immer wieder übersetzen müssen. | |
Der Vater der Zwillinge war nicht nur Bauer, sondern auch Wilderer, erzählt | |
die 100-Jährige und lächelt verschmitzt. Die erlegten Tiere verkaufte er | |
schwarz an die umliegenden Gasthöfe, wie das so üblich, aber nicht legal | |
war. | |
Nach sieben Jahren war Schluss mit der Schule, die Mädchen wurden als volle | |
Arbeitskräfte auf dem Hof gebraucht, 1933 war das. Vom Nationalsozialismus | |
und dem Zweiten Weltkrieg haben die Schwestern manches in Erinnerung. Sie | |
erzählen die Geschichte, dass Geflüchtete gekommen waren. Ein Pole wurde | |
versteckt und arbeitete in der Landwirtschaft mit. Das hat jemand dem | |
Gauleiter gemeldet, die Gendarmerie holte den Polen. Was aus ihm wurde, | |
erfuhren sie nicht. Oder: Nach Kriegsende quartierten sich amerikanische | |
Soldaten ein. Die Schwestern hätten Angst vor ihnen gehabt – „aber sie | |
waren sehr nett“. | |
Sie sind zwei kleine, zartgliedrige Frauen. Weihnachten 2019 stürzte Anna | |
Zitzelsberger im Alter von 99 Jahren und 8 Monaten in ihrem Haus. Sie | |
erlitt einen Beckenbruch. Kurze Zeit darauf fiel die Schwester hin und | |
brach sich die Brustwirbelsäule. Vom Krankenhaus kamen die beiden, wenige | |
Monate vor ihrem 100. Geburtstag, in eine 20 Autominuten entfernte | |
Pflegeeinrichtung. Die haben sie in keiner guten Erinnerung. | |
Gertrud Wagner, die 65-jährige Tochter und Nichte, hat aufgeschrieben, was | |
ihnen in dieser Zeit widerfahren sein soll. Dabei haben Wagner und die | |
Schwester Christine Haimerl volles Verständnis für das zeitweise bestandene | |
Besuchsverbot wegen Corona. Doch die Situation war, so sagen sie, auch | |
davor und danach gleich. So habe das Pflegepersonal in dem Heim die | |
Schränke im Zimmer der Schwestern zugesperrt und den Schlüssel weggenommen | |
– mit der Begründung, so Wagner, dass sie „die Wäsche | |
durcheinanderbringen“. Christine Haimerl meint: „Sie brauchen es, in ihrer | |
Wäsche zu kruschteln.“ Auch seien ihrer Mutter die Stricksachen weggenommen | |
worden. Katharina Schwarzbauer sagt: „Da waren wir eingesperrt.“ Die | |
Leitung des Heims weist die Vorwürfe gegenüber der taz zurück. Die Kleidung | |
im Schrank habe regelmäßig zu erheblichem Streitigkeiten zwischen den | |
Bewohnerinnen geführt, heißt es in einer Stellungnahme. Das Wegsperren habe | |
„dem Schutz“ einer Bewohnerin gedient. | |
## Schön und grausig | |
Alois Zitzelsberger, der Mann von Anna, kam mit abgerissenen Beinen aus dem | |
Zweiten Weltkrieg. Erst war er in Russland, dann in Serbien. Als der Krieg | |
aus war, sollten die Soldaten von dort aus nach Hause. Auf der Heimfahrt | |
wurde er vom Zug überfahren. Josef Schwarzbauer, Ehemann von Katharina, | |
betrieb den Hof bis 1960. Und er verdiente Geld als Musiker – in einem | |
Volksmusik-Ensemble spielte er Trompete. | |
Es sind schöne Geschichten, und es sind grausige Geschichten, die die | |
Schwestern erzählen. Waffen gab es viele im Bayerischen Wald. Ihr ältester | |
Bruder kam ums Leben, als ihn ein Gastwirt aus Versehen erschossen hatte. | |
Ein anderer Verwandter wiederum war bei einem Neujahrsschießen erschossen | |
worden, auch ein Unfall. | |
Schwarzbauer nähte zehn Jahre lang in einer Gardinenfirma. Oft wurde bis in | |
die Nacht hinein Böhmisch Watten gespielt und Zwicken – bayerische | |
Kartenglücksspiele, die kaum mehr bekannt sind. „Wir haben immer um Geld | |
gespielt, manchmal um viel Geld“, sagt die Hundertjährige entschieden. „Und | |
danach gab es eine saure Milchsuppe“ – eine Speise aus der bäuerlichen | |
Küche. | |
Andere Länder haben sie auch gesehen, mit Busreisen nach Österreich und | |
Italien. Anna Zitzelsberger hat sechs Kinder, die alle noch leben, und | |
zwölf Enkel. Katharina Schwarzbauers drei Kinder sind schon gestorben – der | |
erste Sohn im Alter von einem Jahr an Diphtherie, der zweite mit 21 bei | |
einem Verkehrsunfall, und die Tochter war 40 Jahren alt, als sie einem | |
Krebsleiden erlag. | |
Im neuen Heim St. Laurentius machen die Hundertjährigen viel mit beim | |
Basteln, Singen oder Tanzen. Sie stricken [3][und lesen die Lokalzeitung, | |
den Viechtacher Bayerwald-Boten]. Sie fühlen sich sehr wohl. Mit den | |
Verwandten gehen sie regelmäßig eine Runde spazieren, kaufen Schuhe oder | |
setzen sich auf einen Kaffee und einen Kuchen ins Café Mader. Abends | |
schauen sie fern und trinken manchmal ein Glas Bier. | |
21 Oct 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Der-Hausbesuch/!5624007 | |
[2] /Bayerischer-Wald/!5579651 | |
[3] https://www.pnp.de/lokales/landkreis-regen/viechtach/ | |
## AUTOREN | |
Patrick Guyton | |
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