| # taz.de -- Eltern und Kinder: Lasst uns keine Freunde bleiben | |
| > Eltern werden immer älter, 80, 90, 100 und entdecken plötzlich ein Leben | |
| > nach der Familie. Was das für ihre Kinder bedeutet. | |
| Bild: Liebe Freunde, auf Wiedersehen! Euer „Vater und Sohn“ | |
| Vergangenen Herbst wurde meine Mutter 80. Als ich leicht verspätet zu dem | |
| Lokal kam, wo die Feier stattfand, blieb ich erst mal in der Tür stehen. | |
| War ich hier richtig? Außer den engeren Familienmitgliedern war unter den | |
| Gästen niemand, den ich besser als vom Sehen kannte. Offensichtlich hatte | |
| das Umfeld meiner Eltern radikale Wandlungen erfahren, die mir entgangen | |
| waren. Aber seit wann eigentlich? | |
| 15 Jahre zuvor, beim 70. Geburtstag meines Vaters, waren sie doch alle noch | |
| da gewesen, die Freundinnen und Kollegen meiner Eltern, mit denen ich | |
| aufgewachsen war. Es war ein rundes Jubiläum, aber auch ein Fest zum Ende | |
| des aktiven Berufslebens der Älteren – eines, das die Kindheit von uns | |
| Jüngeren endgültig abschloss, eine Art Stabübergabe: Ab jetzt waren wir die | |
| Bestimmenden, die Verantwortlichen. Jenes Fest war ein Anfang, aber auch | |
| ein Ende, ihre Saison war vorbei, die neue konnte beginnen, mit einer | |
| Verlängerung hatte ich nicht gerechnet. Oder spielten meine Eltern jetzt in | |
| einer ganz anderen Liga? | |
| 15 Jahre später stand ich jedenfalls beim Fest für meine Mutter ohne | |
| organische Bindung an die fröhlich gemeinsame Erlebnisse besprechende | |
| Gemeinde. Niemand der „Neuen“ hatte meine Mutter als junge Frau erlebt, | |
| niemand mich oder meine Geschwister als Kinder; niemand kannte die Wohnung, | |
| in der wir aufgewachsen waren, all unsere familiären Tragödien und Freuden | |
| gehörten hier nicht her. Meine Mutter forderte mich auf, ihre neuen Freunde | |
| kennenzulernen, ich wollte das auch, aber ich kam nicht in Stimmung. Ich | |
| blieb gehemmt, ich spürte ein Ziehen in der Brust, ich war erleichtert, als | |
| das Essen zu Ende ging und ich mich ins Nachtleben absetzen konnte. Aber | |
| das Gefühl, dass hier etwas nicht mehr stimmte, ließ sich nicht durch ein | |
| paar Bier vertreiben. | |
| Die letzten 2.000 Jahre war die Sache klar: Siebzig Jahre leben wir – | |
| wenn's hoch kommt, werden es achtzig. So steht es in den Psalmen der Bibel. | |
| Heute hat meine 1938 geborene Mutter statistisch gute Chancen, 90 Jahre alt | |
| zu werden. Und wenn sie dieses unbiblische Alter erreicht haben wird, dann | |
| können wir beide – ich bin gerade 50 geworden – auf sechs gemeinsame | |
| Jahrzehnte zurückblicken: So viel Zeit wie heute hatten Eltern und Kinder | |
| noch nie miteinander – bei den Lebenserwartungschampions in der Schweiz | |
| kommen jeden Tag sechs Stunden hinzu. Und wie immer, wenn Menschen mehr | |
| Zeit haben, stellt sich ihnen die Frage, was sie mit ihr eigentlich | |
| anfangen wollen. | |
| Die Alltäglichkeit der Begegnung | |
| Die TV-Moderatorin und Autorin Charlotte Roche hat wie so oft die Nase | |
| vorn. Sie sieht die „hohe Lebenserwartung“ als Problem für Eltern und | |
| Kinder. „In den Zeiten der Pest“, schreibt Roche für das SZ-Magazin, | |
| „konnte man schon um 20 rum ein echter Erwachsener sein, weil Eltern so um | |
| die 40 gestorben sind. Man ist nämlich erst richtig erwachsen, wenn man | |
| keine Eltern mehr hat. Wenn sie noch leben, bleibt man immer irgendwie | |
| Kind. Wenn heutzutage alle 90, 100, 120 Jahre alt werden und wenn zum Pech | |
| noch Unglück dazu kommt, überleben sie einen, und man stirbt ohne je selbst | |
| in den Genuss zu kommen, wie es sich anfühlt, ein echter eigener, freier, | |
| selbstständiger Erwachsener zu sein.“ Roche schrieb, sie habe sich von | |
| ihren Eltern getrennt. | |
| So radikal war ich nicht – oder doch? Ich hatte mich auf dem 80. meiner | |
| Mutter einfach nur überflüssig gefühlt, bei den Menschen, von denen ich | |
| gedacht hatte, dass sie mir am nächsten stünden, dass ich für sie am | |
| wichtigsten wäre, weil sie doch den Kern meiner Familie bildeten. | |
| In den letzten Jahren hatte ich mich oft danach gesehnt, meinen Eltern | |
| näher zu sein. Wir wohnen weit voneinander entfernt, wir telefonieren oft. | |
| Aber was mir fehlte, hatte ich gemerkt, war die Alltäglichkeit der | |
| Begegnung, eine beiläufig-zärtliche Berührung, eine Hilfestellung im | |
| Alltag, ein gemeinsames Erlebnis. Aber nun war ich da gewesen und hatte | |
| festgestellt: Die hier feierten, waren sozusagen eine andere Mutter und ein | |
| anderer Vater. Und wer hier versammelt war, um meine Mutter zu ehren, die | |
| neuen Freunde, Nachbarn vor allem, die – so sagte es einer meiner Brüder in | |
| seiner Rede sehr treffend, sehr radikal eben – die waren nun „Familie“. | |
| Herrschaftsform in der Antike | |
| Wenn das so war – was sollte das überhaupt noch, dieses Konzept Familie in | |
| Zeiten einer immer längeren Lebenserwartung mit immer neuen, noch nie da | |
| gewesenen Lebenskapiteln? Was bedeutet Familie? | |
| Es waren die alten Römer, die neben vielen anderen praktischen Dingen auch | |
| die „Familie“ erfunden haben. Sie verstanden darunter die „Gesamtheit der | |
| Dienerschaft“ (famulus bedeutet Diener, Sklave). In dieser römischen | |
| Veranstaltung familia hatte der Vater, der pater, die absolute Macht über | |
| Leben und Tod. Er durfte straflos alle Familienangehörigen töten, die gegen | |
| seine Regeln verstießen. | |
| So, als Herrschaftsform, trat die Familie aus der privaten in die | |
| öffentliche Sphäre. Und als solche hat sie sich über die Jahrtausende gegen | |
| alle Versuche, sie zu schwächen oder durch ein antiautoritäres Modell | |
| abzulösen, mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit behauptet. Wenn wir gar nicht | |
| anders können, als uns nach den Riten und dem Mief der Familie zu | |
| verzehren, dann auch deswegen, weil Familie die berühmte Keimzelle des | |
| Staates ist, der seinerseits nichts anderes darstellt als die | |
| institutionalisierte Form der „Gesamtheit der Dienerschaft“. Als Unfreie | |
| werden wir geboren, und unfrei sollen und wollen wir in unserer | |
| Familienhysterie bleiben. | |
| Und ich, als Jüngster von drei Söhnen, fiel mir küchenpsychologisch ein, | |
| hatte vielleicht einfach nicht genug mitbekommen von unserer ehemaligen | |
| Großfamilie mit Großeltern, Tanten, Onkeln und Verwandten. Während sich | |
| meine Brüder und Eltern dankend von der traditionellen Familienidee | |
| verabschiedet hatten, hinkte ich – nicht zum ersten Mal, fiel mir ein – | |
| sentimental hinterher, so wie früher, als ich der Einzige war, der noch | |
| aufgeregt mitkommen wollte, um die Oma vom Bahnhof abzuholen, während meine | |
| Brüder sich noch tiefer in ihre Legokonstruktionen versenkten. | |
| Kam daher dieses Ziehen in der Brust? Konnte ich mich deswegen nicht zu | |
| einem nüchternen Bild von Familie durchringen? Wollte ich vielleicht gar | |
| kein „echter Erwachsener“ sein, wie Roche es formuliert? | |
| ## Von meinem Vorher weiß ich nichts | |
| Meine Erinnerung setzt mit ungefähr drei Jahren ein, mit einem Besuch bei | |
| den Urgroßeltern, im Frühjahr 1972. Von diesem Besuch ist mir ein vager | |
| Geschmack von Erdbeer-Eis geblieben, ein Geruch von Flieder, ein hinter | |
| Schleierfetzen durchblitzendes erstes Bild von mir selbst vor | |
| Teppichstangen. Es war das erste Mal, dass ich mich von außen sah, dass ich | |
| mir meiner Existenz bewusst wurde. | |
| Von einem Vorher, meinem Vorher, weiß ich nichts. Ich war bewusstlos, | |
| wehrlos, ein Mensch im Ausnahmezustand, wie der Philosoph Giorgio Agamben | |
| das sagt – vollkommen der Gewalt anderer ausgeliefert. Es war die | |
| Entscheidung meiner Eltern, ob sie mich liebten oder vernachlässigten, ob | |
| sie mich wiegten oder tot schüttelten, ob sie mich missbrauchten oder | |
| beschützten. | |
| Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber: Mir läuft es jetzt, da ich das | |
| schreibe, kalt den Rücken herunter. Würde sich irgendwer von uns freiwillig | |
| in eine solche Lage begeben? Zudem mit Leuten, die man gar nicht kennt? | |
| Das ist nicht nur ein Witz: Denn die Familie – meine, unsere, Ihre – ähnelt | |
| auch darin der „Gesamtheit der Dienerschaft“, als die Kinder ja sozusagen | |
| zugekauft werden. Sie haben kein Mitspracherecht über ihre Entstehung und | |
| ihren Status und ihren Preis, was ziemlich relevant ist für die derzeitige | |
| Diskussion über globale Menschenrechte: Denn warum soll das Leben eines | |
| zufälligen Deutschen, der auf die Idee kommt, Steine auf ein zufällig als | |
| Flüchtling in Libyen geborenes Kind zu werfen, mehr wert sein als eben das | |
| dieses Kindes – dem man ja nun nicht schön neoliberal vorwerfen kann, es | |
| habe halt nichts aus seinem Leben gemacht (dem Deutschen schon eher)? | |
| Aber ich will nicht abschweifen, nicht zu weltläufig werden. Ich bleibe | |
| hier noch ein vielleicht letztes Mal in der warmen Grießbrei-mit-Haut-Welt | |
| des westdeutschen Mittelstands. Doch auch da ist irgendwann für jede und | |
| jeden Frühjahr 1972. Irgendwann setzt Bewusstsein ein, das sich ein Leben | |
| lang als Erinnerung abrufen lässt. Von nun an beginnen wir, uns zu merken, | |
| welche Erfahrungen wir machen, welche Ideen und Werte in uns eingespeist | |
| werden, in dieser Familie, mit unseren Geschwistern, mit unseren Eltern. | |
| Diese Jahre, bis sich unser Interessengebiet in der Pubertät in andere | |
| Welten verschiebt, diese Jahre sind der bewusste Teil unseres Verhältnisses | |
| zu den Eltern, darauf beziehen wir uns ein Leben lang. | |
| Bei mir war in diesen Jahren meine Mutter der geliebte Fixpunkt, um den ich | |
| kreiste, mit meinen Freuden, meinen Erfolgen, meinen Sorgen, meinen | |
| Ängsten. Und mein Vater war der Spaß und Überraschung in die Sache | |
| hineinbringende Gelegenheitsgast. Aber auch diejenigen, deren bewusste | |
| Kindheit unglücklich war, wollen immer ein bisschen dorthin zurück, wollen | |
| herausfinden, was warum genau schiefgelaufen ist – und ob nicht noch | |
| Heilung und Versöhnung möglich wären. | |
| Die elterliche Macht über Leben und Tod | |
| Die Idee, unsere Eltern sollten irgendwann ganz normale Menschen werden, | |
| die uns zu ganz normalen Partys mit uns völlig Fremden einladen, ist in | |
| diesem Licht besehen vielleicht gerade noch nett. Aber sie ist zum einen | |
| willkürlich, denn wenn wir fremde Menschen kennenlernen wollen, warum dann | |
| ausgerechnet solche, die unsere Eltern aussuchen anstatt Sympathie und | |
| gemeinsame Interessen entscheiden zu lassen? Viel mehr noch aber ist diese | |
| Idee eine Lüge: Denn der Zustand des kindlichen, vorbewussten | |
| Ausgeliefertseins beziehungsweise der elterlichen Macht über Leben und Tod | |
| hat sich tief in Eltern und Kindern festgesetzt. Wir werden keine Freunde | |
| mehr, selbst wenn wir uns das vollkommen ehrlich wünschen. Selbst wenn wir | |
| unsere Eltern sehr lieben – und sie uns. | |
| Was uns mit unseren Eltern verbindet – und sie mit uns und uns mit unseren | |
| Kindern – ist, wieder mit Agamben gesprochen, der Ausnahmezustand. Sie | |
| haben über Jahre die Entscheidung, jedenfalls aber – wenn wir das Schicksal | |
| hier mal außen vorlassen – die Sorge über Leben und Tod getragen. Wir | |
| Kinder wissen das auch. Und jedes Mal, wenn wir mit unseren Eltern zusammen | |
| sind, kommt, so heiter und entspannt wir uns auch geben mögen, der | |
| Ausnahmezustand wieder hoch. | |
| Und deswegen sollten wir uns nicht zu oft und zu lang immer wieder | |
| begegnen: Die Zeit, die Eltern und Kinder im Erwachsenenalter miteinander | |
| verbringen, muss begrenzt sein, weil niemand, wie Roche sagt, sein Leben | |
| lang Kind sein oder, wie Agamben sagt, einen Großteil seines Lebens im | |
| Ausnahmezustand verbringen will – oder mit schlechtem Elterngewissen, das | |
| alle haben, die Kinder haben, wenn sie nicht egomanische Idioten sind: | |
| Einfach weil man als Eltern immer gravierende Fehler macht – mit den Worten | |
| des Autorenpaares Svenja Flaßpöhler und Florian Werner gesagt: „Nichts am | |
| Kinderkriegen ist harmlos“. | |
| Im aus all diesen Gründen alle Jahre wieder anstehenden großen | |
| Spiegel-Weihnachts-Krisengespräch verkannte im Jahr 2017 der sympathische | |
| Jesuit und Philosoph Michael Bordt diese harten Tatsachen, als er das | |
| schlichte Gebot aufstellte: „Du sollst deine Eltern enttäuschen“. Bordt | |
| warb zwischen Eltern und Kindern sehr nett für ein neues | |
| „Beziehungsangebot: Ich gebe mich als der zu erkennen, der ich eigentlich | |
| bin“. | |
| Sie ahnen schon, was hier nicht stimmt: Denn „eigentlich“ sind Eltern wie | |
| Kinder gerade nicht, wie von Bordt beschworen, freie Individuen. | |
| „Eigentlich“ sind Eltern und Kinder zusammen für immer Eltern und Kinder. | |
| Zwischen ihnen gibt es keine freiwilligen Beziehungen. | |
| Zwangsgemeinschaft, nein danke | |
| Wie bedrückend das ist, lässt sich auf einer relativ harmlosen Stufe | |
| beobachten, wenn die in die Szeneviertel der Großstädte gezogenen, | |
| studierenden Sprösslinge ihre Alten herumführen müssen – nicht zuletzt, | |
| weil die ja die aktuelle Miete bezahlen und die zukünftige Eigentumswohnung | |
| finanzieren sollen. Noch nie habe ich eine solche, wieder zusammengeführte | |
| Zwangsgemeinschaft glücklich gesehen. | |
| Immer hängen dunkle Wolken der Regression der Kinder und des ungelebten | |
| Lebens der Eltern über ihnen. Diese Peinlichkeit, dieser Neid, diese | |
| Sprachlosigkeit – und alles subsumiert unter den Labels „Dankbarkeit“ (ist | |
| doch klar, dass ich die rumführe; dass mein Kind mich rumführt), | |
| „Freundschaft“ (die sind echt cool drauf, meine Eltern; das ist gar nicht | |
| so schlimm, dieses Neukölln), „Natürlichkeit“ (sind halt meine Eltern; ist | |
| halt mein Kind). | |
| Und jetzt wird alles schlimmer: Wir können nicht mehr auf Zeit spielen und | |
| sagen, na ja, was soll’s, die paar Jahre verkniffene Eltern-Kind-Beziehung, | |
| die sitzen wir aus. Die Spanne, die Eltern und Kinder gemeinsam denselben | |
| Planeten bewohnen, hat sich in den vergangenen 50 Jahren enorm ausgeweitet. | |
| Zwar sind Mütter heute bei der Geburt des ersten Kindes fünf Jahre älter | |
| als in den 1960er Jahren, zu deren Ende ich geboren wurde. Die | |
| Altersspanne, in der Frauen Kinder bekommen, ist aber relativ unverändert | |
| geblieben, hochgejazzte Altpromischwangerschaften oder ewig-knackige | |
| Seniorenväter hin oder her. Halten wir uns an die Fakten: „Das beste Alter | |
| um Kinder zu zeugen? Anfang 20 bis 30“, sagt die Biochemikerin und | |
| Leibnizpreisträgerin Melina Schuh in der FAZ. Ab 35 Jahren gelten Frauen | |
| als „ältere Frauen“, und eine Schwangerschaft ist eine | |
| „Risikoschwangerschaft“. Und das wird trotz aller Humanoptimierung auch | |
| noch eine ganze Weile so bleiben. Die Mehrzahl der Menschen in Deutschland | |
| handelt entsprechend. Die 15 zu Beginn erwähnten Jahre, in denen meine | |
| Eltern ihr neues Leben auf die Beine gestellt haben, in denen sie sich noch | |
| einmal ganz fremde Welten erschlossen und eine verbindliche Gemeinschaft | |
| aufgebaut haben – so etwas hätte es früher eben gar nicht erst gegeben! | |
| Wird die Gesellschaft also eigentlich immer älter, so wurde sie in Italien | |
| im vergangen November auf einen Schlag jünger: Von der Jahrestagung der | |
| italienischen Geriatrischen Gesellschaft las ich im Corriere della sera: | |
| Alt sei man jetzt erst ab 75! Ein 65-Jähriger habe heute die physische und | |
| geistige Verfassung eines 40- bis 50-Jährigen von vor 30 Jahren! Ein großer | |
| Teil der 60- bis 75-Jährigen sei bestens in Form und quasi krankheitsfrei! | |
| „Wir können diese Menschen nicht mehr ‚alt‘ nennen“ sagte Professor Ni… | |
| Marchionni, Leiter der Abteilung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen an einer | |
| der größten Kliniken Italiens, dem Careggi-Hospital in Florenz. Die | |
| Kategorie Alter müsse man dynamisch begreifen. Wissenschaftlich gesehen sei | |
| alt, wer nur noch zehn Jahre zu leben habe. „Wer mit offenen Augen durchs | |
| Leben geht, der wird zugeben müssen, dass man 65-Jährige heute schlicht | |
| nicht mehr als Senioren wahrnimmt“, sagte der Professor. | |
| Naja, professore: Schon mit 50 kann man sich verdammt alt fühlen und auch | |
| als solches wahrgenommen werden, jedenfalls (was man so hört) bei Tinder. | |
| Wenn allerdings Menschen, insbesondere Männer, sich auch heute noch von der | |
| Jugend abgehängt fühlen, dann liegt das vorzugsweise daran, dass sie nicht | |
| bereit sind, dazuzulernen und mit abgehalfterten Ideen und unerträglich | |
| autoritärem Gestus an frischen Diskursen teilnehmen wollen, die sie nur | |
| bedingt etwas angehen. | |
| Wer sich hingegen die frenetisch-fröhlich silversurfenden Reisegruppen auf | |
| den Kanaren anschaut, die robust in Schlange stehenden Kakiwesten vor den | |
| Museen oder die kleine Kinder altautonom an der Biomarktkasse | |
| wegschubsenden MarathonläuferInnen – der wird feststellen, dass die Alten, | |
| die eben keine Alten mehr sind, nie in der Geschichte so selbstbewusst und | |
| selbstzufrieden waren wie heute. Diese Alten sind es, mit denen gemeinsam | |
| die Jungen immer älter werden. Was verbindet sie außer der vorbewussten und | |
| der bewussten Kindheit? | |
| Die im Normalfall gewiss darin besteht, von einer Mutter und einem Vater | |
| (oder in jeder beliebigen anderen Kombination oder Individualität) liebend | |
| umsorgt worden zu sein, obwohl es aber eben auch ganz, ganz anders hätte | |
| ausgehen können – und es ja immer noch viel zu oft auch ganz, ganz anders | |
| ausgeht, nicht nur in christlichen oder reformpädagogischen Einrichtungen, | |
| nicht nur auf Provinz-Campingplätzen oder im Darknet, sondern in ganz | |
| normalen Einfamilienhäusern, die zu Folterkellern werden. | |
| ## Ich habe ja keine Erwachsenen gezeugt | |
| Das große gemeinsame Glück existiert trotz allen Elends. Ich kenne dieses | |
| Glück in beide Richtungen, schließlich bin ich selbst Vater. Vielleicht | |
| habe ich sogar für niemanden tiefere, innigere Gefühle als für meine Kinder | |
| – vielleicht: Denn noch weiß ich nicht, was ich fühlen werde, wenn meine | |
| Mutter stirbt; und ich weiß auch nicht, was es mir antäte, wenn meine Frau | |
| sagte, dass sie mich nicht mehr liebt und mich verlässt. Ich habe einen | |
| riesigen Spaß mit meinen Kindern – aber ich habe Kinder gezeugt und keine | |
| Erwachsenen. Wie sich unser Verhältnis als Erwachsene gestaltet, weiß ich | |
| ebenfalls noch nicht. Ich weiß nur, dass ich jedenfalls nicht nur traurig | |
| sein werde, wenn mein 18-jähriger Sohn in den nächsten Jahren auszieht, | |
| weil ich ihn jetzt lang genug darauf hingewiesen habe, dass er sein Zimmer | |
| aufräumen und eine Klobürste benutzen soll (und weil er sich das lange | |
| genug angehört hat). | |
| Es wird uns beide erleichtern, wenn die Phase des dauernden Zusammenwohnens | |
| vorbei ist – zu Ende ist die Sache ja damit ohnehin nicht: Ich bin | |
| inzwischen alt genug, um nachvollziehen zu können, wie invasiv der auch nur | |
| temporäre Aufenthalt der Kinder im intimen, elterlichen Raum ist, etwa an | |
| Weihnachten. Nach der Abreise, ich weiß das genau, weil ich es als Kind | |
| immer noch tue, fehlt in der Wohnung hier ein Buch, dort ist das Geschirr | |
| nicht so eingeräumt, wie man das möchte, und die Batterien der | |
| Fernbedienung sind einfach mal kurz für ein eigenes Device ausgebaut worden | |
| (Sohn, ich weiß, dass du das getan hast!!) – kurz: Das erwachsene Kind | |
| stört insbesondere deswegen so enorm, weil es sich bei den Eltern immer | |
| noch wie ein Kind benimmt. | |
| Wir immer älter werdenden Kinder wollen in Liebe alt werden mit den immer | |
| länger jung bleibenden Alten. Haben wir ähnliche Ansichten oder Vorlieben? | |
| Eher nicht. Sind wir uns ähnlich? Gewiss – physisch-natürlich und | |
| sozial-erlernt. Hören wir uns zu, erfahren wir etwas, lernen wir von | |
| einander? Ja. Nicht sehr oft, aber wenn, dann ist es sehr schön. Wir helfen | |
| uns, wir denken aneinander. | |
| Aber die Kindheit, die eigentlich gemeinsame und intensive, unsere | |
| eigentliche Zeit, unser Honeymoon – sie rücken in die Ferne, je älter die | |
| Eltern werden, je mehr Lebenszeit wir gleichzeitig verbracht haben. Wir | |
| ähneln inzwischen Kriegsveteranen zum 50. Jubiläum: Wer kann die Einschläge | |
| der Kindheit noch hören, wer will die schon reichlich eingeebneten Narben | |
| immer und immer wieder betasten? Alles ist erzählt und wiedererzählt. Wir | |
| sind Wiederkäuer geworden. Und das soll bitte wie lange noch weitergehen? | |
| Eben weil letztlich alle Beteiligten wissen, dass die Lage fatal ist, | |
| empfiehlt der kluge Jesuit im Spiegel, ein neues, ein authentisches | |
| Verhältnis aufzubauen. Aber er empfiehlt auch, falls das nicht gelingt, den | |
| radikalen Schnitt zu wagen. Als grundsätzlich „unbeschwerter“ und im | |
| Wohlstand aufgewachsener Mensch, als den wir ihn kennenlernen, sagt Michael | |
| Bordt leichthin, er verstehe manchmal Einzelne nicht, „die um jeden Preis | |
| an Beziehungen festhalten“. | |
| Ich will mich nicht von den Eltern trennen | |
| Ich gebe zu: Ich bin so ein Einzelner. Ich will mich immer noch nicht von | |
| meinen Eltern trennen. Es muss doch wahrhaftigere und praktikablere | |
| Lösungen geben, um die wachsende Entfremdung zu überbrücken. Vielleicht so: | |
| Kinder, lasst eure Eltern ziehen und missbraucht sie nicht als Babysitter | |
| oder stille Teilhaber eurer Baugruppe – materielles Erbe ist ohnehin | |
| asozial und nicht mehr zeitgemäß. Wir alle müssen letztlich mal erwachsen | |
| werden. | |
| Eltern, habt Mut, euch eures eigenen Erlebens zu bedienen anstatt euch an | |
| Spinnweben oder an der nächsten Generation Hosenscheißer festzuhalten. Gebt | |
| euer Geld für euch selber aus, dann habt ihr Spaß und müsst euch nie | |
| fragen, wie authentisch-liebevoll das Verhältnis zu euren Kindern | |
| tatsächlich ist. Wir alle müssen letztlich mal erwachsen werden. | |
| Und alle zusammen: Anstatt Jahrzehnte einen lauen, verkochten | |
| Erinnerungseintopf zu löffeln, müssen wir einen Weg finden, die wahren, die | |
| süßen wie die bitteren Gefühle einzufrieren und zum richtigen Zeitpunkt aus | |
| der Kühltruhe zu holen, um damit dann das letzte gemeinsame Abendmahl zu | |
| kochen. Das wird so traurig werden wie jeder Abschied für immer. Aber ich | |
| glaube, es wird allen Beteiligten so sehr viel besser schmecken. Wir alle | |
| müssen letztlich mal erwachsen werden. | |
| Eine Frage mindestens ist noch offen: nämlich die, wie wir das neue, das | |
| verlängerte, das junge und gemeinsame Alter denn nun nennen wollen. Vor gut | |
| zehn Jahren erschien ein Buch namens „Teenage – Die Erfindung der Jugend“. | |
| Der britische Autor John Savage gibt darin dem Teenager, wie wir ihn schon | |
| immer zu kennen meinen, einen Ursprung und zwar 1944 in den USA mit dem | |
| Erscheinen eines Magazins für Mädchen oder junge Frauen namens Seventeen. | |
| Der beginnende Wohlstandskapitalismus ist auf der Suche nach Kundschaft, | |
| die für schnell wechselnde Moden zu begeistern ist und findet oder erfindet | |
| das „Teenage“ als eigene Lebensphase. | |
| Die jungen wohlhabenden Alten von heute, die nach ihrem Rentenbeginn noch | |
| 20 oder mehr gute Jahre vor sich haben und die für niemanden verantwortlich | |
| sein müssen als für sich selbst – sie ähneln frappant diesen kichernden, | |
| alle Ermahnungen mit einem lässigen „jaja, später“ in den Wind schießend… | |
| grauenhaft nervigen und vollkommen hinreißenden: Teenagern. Und vielleicht | |
| gönnen wir uns den Spaß und nennen sie einfach mal so: Second Life Teenager | |
| oder kürzer: SLTeenager. | |
| Von dieser Beobachtung ausgehend können wir nun die Lebensphasen des | |
| modernen Menschen neu ordnen: Auf eine lange Jugend folgt relativ abrupt um | |
| die 30 die schon sprichwörtliche Rushhour des Lebens mit Kinderkriegen und | |
| Karrierefundament. Ab 50 kommt dann die individuelle Freiheit peu à peu | |
| zurück: Die Karriere ist gemacht oder vergeigt, die Kinder sind nicht mehr | |
| pflegeintensiv, die jungen alten Eltern (SLTeenager) sind vollkommen | |
| selbständig auf Weltreise, verwirklichen sich bei sozialer Arbeit oder in | |
| ihrer Hanfplantage. Der 50-Jährige ist, von seiner Erwerbsarbeit abgesehen, | |
| überraschend frei. Und wie immer, wenn Menschen Freiheit haben, stellt sich | |
| ihnen die Frage, was sie mit dieser Freiheit eigentlich anfangen wollen. In | |
| den Kinderbüchern, die ich meiner kleinen Tochter abends vorlese, steht an | |
| dieser Stelle: Aber das ist eine andere Geschichte. | |
| 10 May 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Ambros Waibel | |
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