Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Eltern und Kinder: Lasst uns keine Freunde bleiben
> Eltern werden immer älter, 80, 90, 100 und entdecken plötzlich ein Leben
> nach der Familie. Was das für ihre Kinder bedeutet.
Bild: Liebe Freunde, auf Wiedersehen! Euer „Vater und Sohn“
Vergangenen Herbst wurde meine Mutter 80. Als ich leicht verspätet zu dem
Lokal kam, wo die Feier stattfand, blieb ich erst mal in der Tür stehen.
War ich hier richtig? Außer den engeren Familienmitgliedern war unter den
Gästen niemand, den ich besser als vom Sehen kannte. Offensichtlich hatte
das Umfeld meiner Eltern radikale Wandlungen erfahren, die mir entgangen
waren. Aber seit wann eigentlich?
15 Jahre zuvor, beim 70. Geburtstag meines Vaters, waren sie doch alle noch
da gewesen, die Freundinnen und Kollegen meiner Eltern, mit denen ich
aufgewachsen war. Es war ein rundes Jubiläum, aber auch ein Fest zum Ende
des aktiven Berufslebens der Älteren – eines, das die Kindheit von uns
Jüngeren endgültig abschloss, eine Art Stabübergabe: Ab jetzt waren wir die
Bestimmenden, die Verantwortlichen. Jenes Fest war ein Anfang, aber auch
ein Ende, ihre Saison war vorbei, die neue konnte beginnen, mit einer
Verlängerung hatte ich nicht gerechnet. Oder spielten meine Eltern jetzt in
einer ganz anderen Liga?
15 Jahre später stand ich jedenfalls beim Fest für meine Mutter ohne
organische Bindung an die fröhlich gemeinsame Erlebnisse besprechende
Gemeinde. Niemand der „Neuen“ hatte meine Mutter als junge Frau erlebt,
niemand mich oder meine Geschwister als Kinder; niemand kannte die Wohnung,
in der wir aufgewachsen waren, all unsere familiären Tragödien und Freuden
gehörten hier nicht her. Meine Mutter forderte mich auf, ihre neuen Freunde
kennenzulernen, ich wollte das auch, aber ich kam nicht in Stimmung. Ich
blieb gehemmt, ich spürte ein Ziehen in der Brust, ich war erleichtert, als
das Essen zu Ende ging und ich mich ins Nachtleben absetzen konnte. Aber
das Gefühl, dass hier etwas nicht mehr stimmte, ließ sich nicht durch ein
paar Bier vertreiben.
Die letzten 2.000 Jahre war die Sache klar: Siebzig Jahre leben wir –
wenn's hoch kommt, werden es achtzig. So steht es in den Psalmen der Bibel.
Heute hat meine 1938 geborene Mutter statistisch gute Chancen, 90 Jahre alt
zu werden. Und wenn sie dieses unbiblische Alter erreicht haben wird, dann
können wir beide – ich bin gerade 50 geworden – auf sechs gemeinsame
Jahrzehnte zurückblicken: So viel Zeit wie heute hatten Eltern und Kinder
noch nie miteinander – bei den Lebenserwartungschampions in der Schweiz
kommen jeden Tag sechs Stunden hinzu. Und wie immer, wenn Menschen mehr
Zeit haben, stellt sich ihnen die Frage, was sie mit ihr eigentlich
anfangen wollen.
Die Alltäglichkeit der Begegnung
Die TV-Moderatorin und Autorin Charlotte Roche hat wie so oft die Nase
vorn. Sie sieht die „hohe Lebenserwartung“ als Problem für Eltern und
Kinder. „In den Zeiten der Pest“, schreibt Roche für das SZ-Magazin,
„konnte man schon um 20 rum ein echter Erwachsener sein, weil Eltern so um
die 40 gestorben sind. Man ist nämlich erst richtig erwachsen, wenn man
keine Eltern mehr hat. Wenn sie noch leben, bleibt man immer irgendwie
Kind. Wenn heutzutage alle 90, 100, 120 Jahre alt werden und wenn zum Pech
noch Unglück dazu kommt, überleben sie einen, und man stirbt ohne je selbst
in den Genuss zu kommen, wie es sich anfühlt, ein echter eigener, freier,
selbstständiger Erwachsener zu sein.“ Roche schrieb, sie habe sich von
ihren Eltern getrennt.
So radikal war ich nicht – oder doch? Ich hatte mich auf dem 80. meiner
Mutter einfach nur überflüssig gefühlt, bei den Menschen, von denen ich
gedacht hatte, dass sie mir am nächsten stünden, dass ich für sie am
wichtigsten wäre, weil sie doch den Kern meiner Familie bildeten.
In den letzten Jahren hatte ich mich oft danach gesehnt, meinen Eltern
näher zu sein. Wir wohnen weit voneinander entfernt, wir telefonieren oft.
Aber was mir fehlte, hatte ich gemerkt, war die Alltäglichkeit der
Begegnung, eine beiläufig-zärtliche Berührung, eine Hilfestellung im
Alltag, ein gemeinsames Erlebnis. Aber nun war ich da gewesen und hatte
festgestellt: Die hier feierten, waren sozusagen eine andere Mutter und ein
anderer Vater. Und wer hier versammelt war, um meine Mutter zu ehren, die
neuen Freunde, Nachbarn vor allem, die – so sagte es einer meiner Brüder in
seiner Rede sehr treffend, sehr radikal eben – die waren nun „Familie“.
Herrschaftsform in der Antike
Wenn das so war – was sollte das überhaupt noch, dieses Konzept Familie in
Zeiten einer immer längeren Lebenserwartung mit immer neuen, noch nie da
gewesenen Lebenskapiteln? Was bedeutet Familie?
Es waren die alten Römer, die neben vielen anderen praktischen Dingen auch
die „Familie“ erfunden haben. Sie verstanden darunter die „Gesamtheit der
Dienerschaft“ (famulus bedeutet Diener, Sklave). In dieser römischen
Veranstaltung familia hatte der Vater, der pater, die absolute Macht über
Leben und Tod. Er durfte straflos alle Familienangehörigen töten, die gegen
seine Regeln verstießen.
So, als Herrschaftsform, trat die Familie aus der privaten in die
öffentliche Sphäre. Und als solche hat sie sich über die Jahrtausende gegen
alle Versuche, sie zu schwächen oder durch ein antiautoritäres Modell
abzulösen, mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit behauptet. Wenn wir gar nicht
anders können, als uns nach den Riten und dem Mief der Familie zu
verzehren, dann auch deswegen, weil Familie die berühmte Keimzelle des
Staates ist, der seinerseits nichts anderes darstellt als die
institutionalisierte Form der „Gesamtheit der Dienerschaft“. Als Unfreie
werden wir geboren, und unfrei sollen und wollen wir in unserer
Familienhysterie bleiben.
Und ich, als Jüngster von drei Söhnen, fiel mir küchenpsychologisch ein,
hatte vielleicht einfach nicht genug mitbekommen von unserer ehemaligen
Großfamilie mit Großeltern, Tanten, Onkeln und Verwandten. Während sich
meine Brüder und Eltern dankend von der traditionellen Familienidee
verabschiedet hatten, hinkte ich – nicht zum ersten Mal, fiel mir ein –
sentimental hinterher, so wie früher, als ich der Einzige war, der noch
aufgeregt mitkommen wollte, um die Oma vom Bahnhof abzuholen, während meine
Brüder sich noch tiefer in ihre Legokonstruktionen versenkten.
Kam daher dieses Ziehen in der Brust? Konnte ich mich deswegen nicht zu
einem nüchternen Bild von Familie durchringen? Wollte ich vielleicht gar
kein „echter Erwachsener“ sein, wie Roche es formuliert?
## Von meinem Vorher weiß ich nichts
Meine Erinnerung setzt mit ungefähr drei Jahren ein, mit einem Besuch bei
den Urgroßeltern, im Frühjahr 1972. Von diesem Besuch ist mir ein vager
Geschmack von Erdbeer-Eis geblieben, ein Geruch von Flieder, ein hinter
Schleierfetzen durchblitzendes erstes Bild von mir selbst vor
Teppichstangen. Es war das erste Mal, dass ich mich von außen sah, dass ich
mir meiner Existenz bewusst wurde.
Von einem Vorher, meinem Vorher, weiß ich nichts. Ich war bewusstlos,
wehrlos, ein Mensch im Ausnahmezustand, wie der Philosoph Giorgio Agamben
das sagt – vollkommen der Gewalt anderer ausgeliefert. Es war die
Entscheidung meiner Eltern, ob sie mich liebten oder vernachlässigten, ob
sie mich wiegten oder tot schüttelten, ob sie mich missbrauchten oder
beschützten.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber: Mir läuft es jetzt, da ich das
schreibe, kalt den Rücken herunter. Würde sich irgendwer von uns freiwillig
in eine solche Lage begeben? Zudem mit Leuten, die man gar nicht kennt?
Das ist nicht nur ein Witz: Denn die Familie – meine, unsere, Ihre – ähnelt
auch darin der „Gesamtheit der Dienerschaft“, als die Kinder ja sozusagen
zugekauft werden. Sie haben kein Mitspracherecht über ihre Entstehung und
ihren Status und ihren Preis, was ziemlich relevant ist für die derzeitige
Diskussion über globale Menschenrechte: Denn warum soll das Leben eines
zufälligen Deutschen, der auf die Idee kommt, Steine auf ein zufällig als
Flüchtling in Libyen geborenes Kind zu werfen, mehr wert sein als eben das
dieses Kindes – dem man ja nun nicht schön neoliberal vorwerfen kann, es
habe halt nichts aus seinem Leben gemacht (dem Deutschen schon eher)?
Aber ich will nicht abschweifen, nicht zu weltläufig werden. Ich bleibe
hier noch ein vielleicht letztes Mal in der warmen Grießbrei-mit-Haut-Welt
des westdeutschen Mittelstands. Doch auch da ist irgendwann für jede und
jeden Frühjahr 1972. Irgendwann setzt Bewusstsein ein, das sich ein Leben
lang als Erinnerung abrufen lässt. Von nun an beginnen wir, uns zu merken,
welche Erfahrungen wir machen, welche Ideen und Werte in uns eingespeist
werden, in dieser Familie, mit unseren Geschwistern, mit unseren Eltern.
Diese Jahre, bis sich unser Interessengebiet in der Pubertät in andere
Welten verschiebt, diese Jahre sind der bewusste Teil unseres Verhältnisses
zu den Eltern, darauf beziehen wir uns ein Leben lang.
Bei mir war in diesen Jahren meine Mutter der geliebte Fixpunkt, um den ich
kreiste, mit meinen Freuden, meinen Erfolgen, meinen Sorgen, meinen
Ängsten. Und mein Vater war der Spaß und Überraschung in die Sache
hineinbringende Gelegenheitsgast. Aber auch diejenigen, deren bewusste
Kindheit unglücklich war, wollen immer ein bisschen dorthin zurück, wollen
herausfinden, was warum genau schiefgelaufen ist – und ob nicht noch
Heilung und Versöhnung möglich wären.
Die elterliche Macht über Leben und Tod
Die Idee, unsere Eltern sollten irgendwann ganz normale Menschen werden,
die uns zu ganz normalen Partys mit uns völlig Fremden einladen, ist in
diesem Licht besehen vielleicht gerade noch nett. Aber sie ist zum einen
willkürlich, denn wenn wir fremde Menschen kennenlernen wollen, warum dann
ausgerechnet solche, die unsere Eltern aussuchen anstatt Sympathie und
gemeinsame Interessen entscheiden zu lassen? Viel mehr noch aber ist diese
Idee eine Lüge: Denn der Zustand des kindlichen, vorbewussten
Ausgeliefertseins beziehungsweise der elterlichen Macht über Leben und Tod
hat sich tief in Eltern und Kindern festgesetzt. Wir werden keine Freunde
mehr, selbst wenn wir uns das vollkommen ehrlich wünschen. Selbst wenn wir
unsere Eltern sehr lieben – und sie uns.
Was uns mit unseren Eltern verbindet – und sie mit uns und uns mit unseren
Kindern – ist, wieder mit Agamben gesprochen, der Ausnahmezustand. Sie
haben über Jahre die Entscheidung, jedenfalls aber – wenn wir das Schicksal
hier mal außen vorlassen – die Sorge über Leben und Tod getragen. Wir
Kinder wissen das auch. Und jedes Mal, wenn wir mit unseren Eltern zusammen
sind, kommt, so heiter und entspannt wir uns auch geben mögen, der
Ausnahmezustand wieder hoch.
Und deswegen sollten wir uns nicht zu oft und zu lang immer wieder
begegnen: Die Zeit, die Eltern und Kinder im Erwachsenenalter miteinander
verbringen, muss begrenzt sein, weil niemand, wie Roche sagt, sein Leben
lang Kind sein oder, wie Agamben sagt, einen Großteil seines Lebens im
Ausnahmezustand verbringen will – oder mit schlechtem Elterngewissen, das
alle haben, die Kinder haben, wenn sie nicht egomanische Idioten sind:
Einfach weil man als Eltern immer gravierende Fehler macht – mit den Worten
des Autorenpaares Svenja Flaßpöhler und Florian Werner gesagt: „Nichts am
Kinderkriegen ist harmlos“.
Im aus all diesen Gründen alle Jahre wieder anstehenden großen
Spiegel-Weihnachts-Krisengespräch verkannte im Jahr 2017 der sympathische
Jesuit und Philosoph Michael Bordt diese harten Tatsachen, als er das
schlichte Gebot aufstellte: „Du sollst deine Eltern enttäuschen“. Bordt
warb zwischen Eltern und Kindern sehr nett für ein neues
„Beziehungsangebot: Ich gebe mich als der zu erkennen, der ich eigentlich
bin“.
Sie ahnen schon, was hier nicht stimmt: Denn „eigentlich“ sind Eltern wie
Kinder gerade nicht, wie von Bordt beschworen, freie Individuen.
„Eigentlich“ sind Eltern und Kinder zusammen für immer Eltern und Kinder.
Zwischen ihnen gibt es keine freiwilligen Beziehungen.
Zwangsgemeinschaft, nein danke
Wie bedrückend das ist, lässt sich auf einer relativ harmlosen Stufe
beobachten, wenn die in die Szeneviertel der Großstädte gezogenen,
studierenden Sprösslinge ihre Alten herumführen müssen – nicht zuletzt,
weil die ja die aktuelle Miete bezahlen und die zukünftige Eigentumswohnung
finanzieren sollen. Noch nie habe ich eine solche, wieder zusammengeführte
Zwangsgemeinschaft glücklich gesehen.
Immer hängen dunkle Wolken der Regression der Kinder und des ungelebten
Lebens der Eltern über ihnen. Diese Peinlichkeit, dieser Neid, diese
Sprachlosigkeit – und alles subsumiert unter den Labels „Dankbarkeit“ (ist
doch klar, dass ich die rumführe; dass mein Kind mich rumführt),
„Freundschaft“ (die sind echt cool drauf, meine Eltern; das ist gar nicht
so schlimm, dieses Neukölln), „Natürlichkeit“ (sind halt meine Eltern; ist
halt mein Kind).
Und jetzt wird alles schlimmer: Wir können nicht mehr auf Zeit spielen und
sagen, na ja, was soll’s, die paar Jahre verkniffene Eltern-Kind-Beziehung,
die sitzen wir aus. Die Spanne, die Eltern und Kinder gemeinsam denselben
Planeten bewohnen, hat sich in den vergangenen 50 Jahren enorm ausgeweitet.
Zwar sind Mütter heute bei der Geburt des ersten Kindes fünf Jahre älter
als in den 1960er Jahren, zu deren Ende ich geboren wurde. Die
Altersspanne, in der Frauen Kinder bekommen, ist aber relativ unverändert
geblieben, hochgejazzte Altpromischwangerschaften oder ewig-knackige
Seniorenväter hin oder her. Halten wir uns an die Fakten: „Das beste Alter
um Kinder zu zeugen? Anfang 20 bis 30“, sagt die Biochemikerin und
Leibnizpreisträgerin Melina Schuh in der FAZ. Ab 35 Jahren gelten Frauen
als „ältere Frauen“, und eine Schwangerschaft ist eine
„Risikoschwangerschaft“. Und das wird trotz aller Humanoptimierung auch
noch eine ganze Weile so bleiben. Die Mehrzahl der Menschen in Deutschland
handelt entsprechend. Die 15 zu Beginn erwähnten Jahre, in denen meine
Eltern ihr neues Leben auf die Beine gestellt haben, in denen sie sich noch
einmal ganz fremde Welten erschlossen und eine verbindliche Gemeinschaft
aufgebaut haben – so etwas hätte es früher eben gar nicht erst gegeben!
Wird die Gesellschaft also eigentlich immer älter, so wurde sie in Italien
im vergangen November auf einen Schlag jünger: Von der Jahrestagung der
italienischen Geriatrischen Gesellschaft las ich im Corriere della sera:
Alt sei man jetzt erst ab 75! Ein 65-Jähriger habe heute die physische und
geistige Verfassung eines 40- bis 50-Jährigen von vor 30 Jahren! Ein großer
Teil der 60- bis 75-Jährigen sei bestens in Form und quasi krankheitsfrei!
„Wir können diese Menschen nicht mehr ‚alt‘ nennen“ sagte Professor Ni…
Marchionni, Leiter der Abteilung für Herz-Kreislauf-Erkrankungen an einer
der größten Kliniken Italiens, dem Careggi-Hospital in Florenz. Die
Kategorie Alter müsse man dynamisch begreifen. Wissenschaftlich gesehen sei
alt, wer nur noch zehn Jahre zu leben habe. „Wer mit offenen Augen durchs
Leben geht, der wird zugeben müssen, dass man 65-Jährige heute schlicht
nicht mehr als Senioren wahrnimmt“, sagte der Professor.
Naja, professore: Schon mit 50 kann man sich verdammt alt fühlen und auch
als solches wahrgenommen werden, jedenfalls (was man so hört) bei Tinder.
Wenn allerdings Menschen, insbesondere Männer, sich auch heute noch von der
Jugend abgehängt fühlen, dann liegt das vorzugsweise daran, dass sie nicht
bereit sind, dazuzulernen und mit abgehalfterten Ideen und unerträglich
autoritärem Gestus an frischen Diskursen teilnehmen wollen, die sie nur
bedingt etwas angehen.
Wer sich hingegen die frenetisch-fröhlich silversurfenden Reisegruppen auf
den Kanaren anschaut, die robust in Schlange stehenden Kakiwesten vor den
Museen oder die kleine Kinder altautonom an der Biomarktkasse
wegschubsenden MarathonläuferInnen – der wird feststellen, dass die Alten,
die eben keine Alten mehr sind, nie in der Geschichte so selbstbewusst und
selbstzufrieden waren wie heute. Diese Alten sind es, mit denen gemeinsam
die Jungen immer älter werden. Was verbindet sie außer der vorbewussten und
der bewussten Kindheit?
Die im Normalfall gewiss darin besteht, von einer Mutter und einem Vater
(oder in jeder beliebigen anderen Kombination oder Individualität) liebend
umsorgt worden zu sein, obwohl es aber eben auch ganz, ganz anders hätte
ausgehen können – und es ja immer noch viel zu oft auch ganz, ganz anders
ausgeht, nicht nur in christlichen oder reformpädagogischen Einrichtungen,
nicht nur auf Provinz-Campingplätzen oder im Darknet, sondern in ganz
normalen Einfamilienhäusern, die zu Folterkellern werden.
## Ich habe ja keine Erwachsenen gezeugt
Das große gemeinsame Glück existiert trotz allen Elends. Ich kenne dieses
Glück in beide Richtungen, schließlich bin ich selbst Vater. Vielleicht
habe ich sogar für niemanden tiefere, innigere Gefühle als für meine Kinder
– vielleicht: Denn noch weiß ich nicht, was ich fühlen werde, wenn meine
Mutter stirbt; und ich weiß auch nicht, was es mir antäte, wenn meine Frau
sagte, dass sie mich nicht mehr liebt und mich verlässt. Ich habe einen
riesigen Spaß mit meinen Kindern – aber ich habe Kinder gezeugt und keine
Erwachsenen. Wie sich unser Verhältnis als Erwachsene gestaltet, weiß ich
ebenfalls noch nicht. Ich weiß nur, dass ich jedenfalls nicht nur traurig
sein werde, wenn mein 18-jähriger Sohn in den nächsten Jahren auszieht,
weil ich ihn jetzt lang genug darauf hingewiesen habe, dass er sein Zimmer
aufräumen und eine Klobürste benutzen soll (und weil er sich das lange
genug angehört hat).
Es wird uns beide erleichtern, wenn die Phase des dauernden Zusammenwohnens
vorbei ist – zu Ende ist die Sache ja damit ohnehin nicht: Ich bin
inzwischen alt genug, um nachvollziehen zu können, wie invasiv der auch nur
temporäre Aufenthalt der Kinder im intimen, elterlichen Raum ist, etwa an
Weihnachten. Nach der Abreise, ich weiß das genau, weil ich es als Kind
immer noch tue, fehlt in der Wohnung hier ein Buch, dort ist das Geschirr
nicht so eingeräumt, wie man das möchte, und die Batterien der
Fernbedienung sind einfach mal kurz für ein eigenes Device ausgebaut worden
(Sohn, ich weiß, dass du das getan hast!!) – kurz: Das erwachsene Kind
stört insbesondere deswegen so enorm, weil es sich bei den Eltern immer
noch wie ein Kind benimmt.
Wir immer älter werdenden Kinder wollen in Liebe alt werden mit den immer
länger jung bleibenden Alten. Haben wir ähnliche Ansichten oder Vorlieben?
Eher nicht. Sind wir uns ähnlich? Gewiss – physisch-natürlich und
sozial-erlernt. Hören wir uns zu, erfahren wir etwas, lernen wir von
einander? Ja. Nicht sehr oft, aber wenn, dann ist es sehr schön. Wir helfen
uns, wir denken aneinander.
Aber die Kindheit, die eigentlich gemeinsame und intensive, unsere
eigentliche Zeit, unser Honeymoon – sie rücken in die Ferne, je älter die
Eltern werden, je mehr Lebenszeit wir gleichzeitig verbracht haben. Wir
ähneln inzwischen Kriegsveteranen zum 50. Jubiläum: Wer kann die Einschläge
der Kindheit noch hören, wer will die schon reichlich eingeebneten Narben
immer und immer wieder betasten? Alles ist erzählt und wiedererzählt. Wir
sind Wiederkäuer geworden. Und das soll bitte wie lange noch weitergehen?
Eben weil letztlich alle Beteiligten wissen, dass die Lage fatal ist,
empfiehlt der kluge Jesuit im Spiegel, ein neues, ein authentisches
Verhältnis aufzubauen. Aber er empfiehlt auch, falls das nicht gelingt, den
radikalen Schnitt zu wagen. Als grundsätzlich „unbeschwerter“ und im
Wohlstand aufgewachsener Mensch, als den wir ihn kennenlernen, sagt Michael
Bordt leichthin, er verstehe manchmal Einzelne nicht, „die um jeden Preis
an Beziehungen festhalten“.
Ich will mich nicht von den Eltern trennen
Ich gebe zu: Ich bin so ein Einzelner. Ich will mich immer noch nicht von
meinen Eltern trennen. Es muss doch wahrhaftigere und praktikablere
Lösungen geben, um die wachsende Entfremdung zu überbrücken. Vielleicht so:
Kinder, lasst eure Eltern ziehen und missbraucht sie nicht als Babysitter
oder stille Teilhaber eurer Baugruppe – materielles Erbe ist ohnehin
asozial und nicht mehr zeitgemäß. Wir alle müssen letztlich mal erwachsen
werden.
Eltern, habt Mut, euch eures eigenen Erlebens zu bedienen anstatt euch an
Spinnweben oder an der nächsten Generation Hosenscheißer festzuhalten. Gebt
euer Geld für euch selber aus, dann habt ihr Spaß und müsst euch nie
fragen, wie authentisch-liebevoll das Verhältnis zu euren Kindern
tatsächlich ist. Wir alle müssen letztlich mal erwachsen werden.
Und alle zusammen: Anstatt Jahrzehnte einen lauen, verkochten
Erinnerungseintopf zu löffeln, müssen wir einen Weg finden, die wahren, die
süßen wie die bitteren Gefühle einzufrieren und zum richtigen Zeitpunkt aus
der Kühltruhe zu holen, um damit dann das letzte gemeinsame Abendmahl zu
kochen. Das wird so traurig werden wie jeder Abschied für immer. Aber ich
glaube, es wird allen Beteiligten so sehr viel besser schmecken. Wir alle
müssen letztlich mal erwachsen werden.
Eine Frage mindestens ist noch offen: nämlich die, wie wir das neue, das
verlängerte, das junge und gemeinsame Alter denn nun nennen wollen. Vor gut
zehn Jahren erschien ein Buch namens „Teenage – Die Erfindung der Jugend“.
Der britische Autor John Savage gibt darin dem Teenager, wie wir ihn schon
immer zu kennen meinen, einen Ursprung und zwar 1944 in den USA mit dem
Erscheinen eines Magazins für Mädchen oder junge Frauen namens Seventeen.
Der beginnende Wohlstandskapitalismus ist auf der Suche nach Kundschaft,
die für schnell wechselnde Moden zu begeistern ist und findet oder erfindet
das „Teenage“ als eigene Lebensphase.
Die jungen wohlhabenden Alten von heute, die nach ihrem Rentenbeginn noch
20 oder mehr gute Jahre vor sich haben und die für niemanden verantwortlich
sein müssen als für sich selbst – sie ähneln frappant diesen kichernden,
alle Ermahnungen mit einem lässigen „jaja, später“ in den Wind schießend…
grauenhaft nervigen und vollkommen hinreißenden: Teenagern. Und vielleicht
gönnen wir uns den Spaß und nennen sie einfach mal so: Second Life Teenager
oder kürzer: SLTeenager.
Von dieser Beobachtung ausgehend können wir nun die Lebensphasen des
modernen Menschen neu ordnen: Auf eine lange Jugend folgt relativ abrupt um
die 30 die schon sprichwörtliche Rushhour des Lebens mit Kinderkriegen und
Karrierefundament. Ab 50 kommt dann die individuelle Freiheit peu à peu
zurück: Die Karriere ist gemacht oder vergeigt, die Kinder sind nicht mehr
pflegeintensiv, die jungen alten Eltern (SLTeenager) sind vollkommen
selbständig auf Weltreise, verwirklichen sich bei sozialer Arbeit oder in
ihrer Hanfplantage. Der 50-Jährige ist, von seiner Erwerbsarbeit abgesehen,
überraschend frei. Und wie immer, wenn Menschen Freiheit haben, stellt sich
ihnen die Frage, was sie mit dieser Freiheit eigentlich anfangen wollen. In
den Kinderbüchern, die ich meiner kleinen Tochter abends vorlese, steht an
dieser Stelle: Aber das ist eine andere Geschichte.
10 May 2019
## AUTOREN
Ambros Waibel
## TAGS
Familiengeschichte
Demografie
Großeltern
Altern
Lesestück Recherche und Reportage
Eltern
Zwillinge
Care-Arbeit
Beziehung
Familie
taz.gazete
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Film über Eltern-Kinder-Beziehung: Kein Platz für drei
Regisseur Florian Schwarz hat mit „Für immer Eltern“ einen sehr eigenen
Nesthocker-Film gedreht. Zu sehen ist er am Freitagabend auf Arte.
100-jährige Zwillingsschwestern: Und am Abend ein Glas Bier
1920 wurden die Zwillingsschwestern Anna Zitzelsberger und Katharina
Schwarzbauer geboren. Ein Besuch im Bayerischen Wald.
Bücher über Väter und Care-Arbeit: Gutes Geld, gute Papas
In der Zukunft ist die geschlechtliche Arbeitsteilung abgeschafft und
Droiden übernehmen die Care-Arbeit – das wäre jedenfalls fairer als die
Gegenwart.
Nichts muss für die Ewigkeit sein: Getrennt ist das neue Zusammen
Trennungen gelten oftmals immer noch als Katastrophe. Schuld daran ist auch
die Überidealisierung von Zweierbeziehungen.
Leander Scholz und die Kinderbetreuung: Mit neuen Vätern leben
Männer wie Leander Scholz entdecken die Kinderbetreuung ganz neu. Frauen
ist sie allzu bekannt. Wie sollen wir damit umgehen?
Kommentar Eltern und Älterwerden: Eine andere Mutter, ein anderer Vater
Was passiert mit Eltern, die immer älter werden? Sie werden zu Menschen,
die man weniger kennt – und damit irgendwie zu weniger Eltern.
Flüchtling in Pflegefamilie: Der fremde Sohn
Im Februar 2016 nimmt die Familie Bernhardt Juody bei sich auf, einen
minderjährigen syrischen Flüchtling. Unsere Autorin hat die Familie seitdem
begleitet.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.