# taz.de -- Flüchtling in Pflegefamilie: Der fremde Sohn | |
> Im Februar 2016 nimmt die Familie Bernhardt Juody bei sich auf, einen | |
> minderjährigen syrischen Flüchtling. Unsere Autorin hat die Familie | |
> seitdem begleitet. | |
Bild: Einer mehr am Frühstückstisch: Die Bernhardts mit Juody (Zweiter von li… | |
Backnang/Stuttgart taz | Eine halbe Stunde vor der Gerichtsverhandlung, die | |
über seine Zukunft entscheiden wird, steht Juody im März dieses Jahres an | |
einem Stehtisch in einem Stuttgarter Café, seinen Blick starr auf einen | |
Krümel gerichtet. Das weiße Hemd ist gebügelt, die Haare gegelt, der | |
Zeigefinger schnippt nervös gegen den Tellerrand. Alle um ihn herum reden. | |
Die Pflegemutter, der Pflegevater, die Flüchtlingshelferin: So ein nettes | |
Café, leckere Croissants. | |
Juody schweigt. | |
„Wenn die dich was fragen, sprich laut und deutlich“, sagt der Pflegevater. | |
„Ich bin ganz aufgeregt“, sagt die Pflegemutter. Heute entscheidet das | |
Gericht, ob Juody Asyl bekommt oder nicht. | |
Christa und Rainer Bernhardt sorgen sich um ihn, ermuntern und tadeln ihn, | |
freuen sich mit ihm und wundern sich über ihn. Wie Eltern das tun mit ihren | |
Kindern. Nur dass Juody nicht ihr leiblicher Sohn ist. Seit gut zwei Jahren | |
versuchen die Bernhardts aus dem schwäbischen Backnang im Kleinen das, was | |
Deutschland im Großen versucht: Integration. Und sie merken Tag für Tag, | |
dass das oft nicht einfach ist. | |
## August 2015 | |
Juody, 16 Jahre alt, schlank, schwarzhaarig, wird am 22. August von einem | |
Lkw in Passau ausgespuckt. Er hat kein Gepäck dabei, kein Handy, nur die | |
Kleider am Körper, Hose, T-Shirt, Turnschuhe und einen Geldbeutel. | |
Tageslicht hatte er zuletzt in Syrien gesehen, dann fast eine Woche nicht | |
mehr. 70 Leute im Laderaum, nur nachts stoppten die Schlepper und öffneten | |
die Hecktür, so wird Juody es später erzählen. | |
Er kommt über die Balkanroute, wie so viele Flüchtlinge zu dieser Zeit. Mit | |
dem Zug fährt er nach Stuttgart, bei der Polizei werden seine | |
Fingerabdrücke erfasst. Später wird er geröntgt und geimpft, bekommt einen | |
Vormund vom Jugendamt und wird in eine Wohngruppe in Winnenden bei | |
Stuttgart gesteckt. Dort lebt er mit elf anderen jungen Flüchtlingen, | |
darunter ein Kurde wie er. Aber Juody will lieber in eine Familie. | |
„In Syrien war ich immer gern zu Hause, so was wollte ich wieder“, sagt | |
Juody heute, wenn er auf die vergangenen Jahre zurückblickt und versucht, | |
in Worte zu fassen, wofür er damals in der fremden Sprache noch keine fand. | |
## September 2015 | |
Christa und Rainer Bernhardt sehen Abend für Abend die Kriegsbilder aus | |
Aleppo und Damaskus in den Nachrichten, auf dem Sofa in ihrem geräumigen | |
Einfamilienhaus in Backnang, 30 Kilometer von Stuttgart entfernt. Im Garten | |
steht ein Trampolin, in der Garage ein alter Camper. Christa Bernhardt, 50, | |
betreut als Tagesmutter Kleinkinder, sie ist zupackend, zierlich, die Haare | |
rot gefärbt. Rainer Bernhardt, 64, war mal Fotochef der Lokalzeitung, er | |
trägt Lederweste, einen Gitarrenohrstecker, spielt in einer Rockband. | |
Zusammen sind sie im Camping-Oldie-Club. Syrien kennen sie nur aus dem | |
Fernsehen: zertrümmerte Häuser, schreiende Kinder. | |
Die Bernhardts sind keine Merkel-Anhänger, aber sie finden, dass die | |
Kanzlerin recht hat, wenn sie sagt: „Wir schaffen das.“ Eine Bekannte | |
erzählt, dass sie einen jungen Syrer bei sich aufnehmen wird, und fragt, ob | |
das nicht auch etwas für sie sei. „Warum eigentlich nicht?“, sagt Rainer | |
Bernhardt. Ein Zimmer ist frei, Rainer Bernhardt ist in Frührente, die | |
Kinder sind groß. Sarina, 21, studiert in einer anderen Stadt, Leonie, 19, | |
reist gerade durch Neuseeland, und Patrick, 14, hat nichts dagegen. | |
## Januar 2016 | |
Das Jugendamt ruft bei Familie Bernhardt an. Es gäbe da jemanden, der zu | |
ihnen kommen könnte: Juody, 16, aus Syrien. Die Bernhardts treffen ihn | |
einmal in seiner Wohngruppe, einmal bei sich zu Hause. Der Junge ist still, | |
höflich. Seine Augen halten nur kurz Blickkontakt. Soll das ihr Pflegesohn | |
werden? Die Bernhardts sagen ja, Juody sagt ja. Die Kölner Silvesternacht, | |
die die Diskussion angeheizt hat, ob mit den Flüchtlingen auch Gewalt ins | |
Land kommt, ist gerade zwei Wochen her. „Klar ist das ein kleines Wagnis | |
für uns“, sagt Rainer Bernhardt. | |
„Sie sahen nett aus, ich dachte, das sind gute Leute. Hauptsache eine | |
Familie.“ | |
## Februar 2016 | |
Juody, inzwischen 17, bekommt das Zimmer neben Patrick. Bunte Wände, | |
Schreibtisch, Bett und Schrank. Die Pflegeeltern fragen ihn, ob sie ihm | |
zeigen sollen, in welcher Richtung Mekka liegt. Juody sagt, er sei nicht so | |
gläubig. In einem grünen Ordner sammeln die Bernhardts alle Unterlagen vom | |
Amt. | |
„Ich will zurück in die Wohngruppe“, sagt Juody nach wenigen Tagen. In | |
seinem Zimmer hat er ein Foto von den ehemaligen Mitbewohnern aufgehängt. | |
Die Pflegeeltern schlagen vor, dass er Freunde einlädt. Juody nickt. Aber | |
es kommt keiner. Eine unsichtbare Wand steht zwischen ihnen und dem neuen | |
Sohn, so empfinden sie es. | |
Wer ist der Junge, der da am Esstisch sitzt? Nach dem Deutschkurs zieht er | |
sich schnell in sein Zimmer zurück, erzählt nichts von seiner Flucht, kaum | |
von seiner Familie. Kümmern sie sich nicht genug? Oder zu viel? Ist er | |
traumatisiert? „Wir hatten uns das viel einfacher vorgestellt“, sagt Rainer | |
Bernhardt. | |
„Alles war anders, alle haben Deutsch gesprochen. Ich habe mich einsam | |
gefühlt. Sie waren nett, aber ich hatte Angst, etwas falsch zu machen.“ | |
Die Bernhardts suchen Rat bei Juodys früheren Betreuern und seinem Vormund. | |
Geduld, empfehlen alle. Juody bleibt. Er hat es gut: Er hat ein eigenes | |
Zimmer mit Balkon, wird bekocht, darf sogar rauchen. „Patrick würde ich das | |
nicht erlauben“, sagt Christa Bernhardt. | |
„In Syrien habe ich mir ein Zimmer mit meinem Bruder geteilt. Und rauchen | |
hätte meine Mutter nie erlaubt.“ | |
Juody bekommt sogar „diese Turnschuhe mit dem X“, wie Rainer Bernhardt | |
sagt. Airmax, für 130 Euro. Weil Juody sie unbedingt wollte. Er achtet sehr | |
auf sein Äußeres, geht ständig zum Friseur. „Ich glaube, das ist in den | |
arabischen Ländern wichtiger als bei uns“, sagt Rainer Bernhardt. Sie | |
fragen Patrick, ob er auch diese Airmax will. „Nö, die für 30 Euro reichen | |
doch“, sagt Patrick. Er ist nicht eifersüchtig auf den Neuen. Besonders | |
viel miteinander anfangen können sie aber auch nicht. | |
Beim Mittagessen gibt Juody Salat aus, nach den Mahlzeiten räumt er den | |
Tisch ab, so wie er das aus der Wohngruppe kennt. „Aber er schwätzt halt | |
nix“, sagt Christa Bernhardt. | |
## April 2016 | |
Es ist der erste Frühlingstag, Rainer Bernhardt wirft den Grill an, er legt | |
Juody ein Steak auf den Teller. Rind, kein Schwein. Doch Juody rührt es | |
nicht an. Alle beginnen zu essen, nur er nicht. „Du kannst ruhig anfangen“, | |
sagt Christa Bernhardt. „Bei uns muss man nicht warten, bis das | |
Familienoberhaupt am Tisch sitzt.“ Juody lächelt, wartet aber, bis Rainer | |
Bernhardt sich setzt. „In Syrien ist das halt anders“, sagt Christa | |
Bernhardt. | |
„Ich weiß jetzt, dass das hier nicht so ist. Aber ich warte trotzdem. Das | |
ist höflich.“ | |
Juody ist jetzt seit zwei Monaten bei den Bernhardts. Er sagt „Hallo“, wenn | |
er kommt, „Tschüss“, wenn er geht. Auch wenn er nicht so recht versteht, | |
warum er das soll. | |
„Musstest du das zu Hause nicht?“, fragt Christa Bernhardt. | |
„Nö.“ | |
„Bist du einfach in die Stadt gegangen, wenn du wolltest?“ | |
„Ja, mit dem Motorrad.“ | |
„Mit dem Motorrad? Mit 16?“ | |
„Ja, auch vorher.“ | |
„Und deine Schwester, durfte die das?“, fragt Rainer Bernhardt. | |
Juody lacht. „Nein. Nur mit mir oder meinem Vater.“ | |
## Mai 2016 | |
Rainer Bernhardt fällt auf, dass sie ihren Pflegesohn noch nie berührt | |
haben. Mehr als ein Handschlag war da nicht. „Wir würden ihn gern mal in | |
den Arm nehmen oder so knuffen“, sagt er. „Aber ich weiß nicht, ob er das | |
mag und ob man das in seiner Kultur macht.“ | |
„Das wäre schön gewesen. Aber ich habe mich nicht getraut.“ | |
Juody lädt ein neues Profilbild in Whatsapp hoch. Es zeigt ein Handgelenk | |
mit aufgeschlitzten Pulsadern. Der Status: „Ich vermisse meine Mama.“ Juody | |
kommt nicht mehr aus seinem Zimmer. Christa Bernhardt fragt, ob sie helfen | |
könnten. Juody sagt nur, er wolle zurück nach Syrien. Lieber sterbe er im | |
Krieg, als hier nur zu warten. | |
„Ich habe meine Familie vermisst. Und ich hatte immer noch keine Antwort | |
auf meinen Asylantrag, nach fast einem Jahr. Ständig haben mich alle | |
gefragt, ob ich meine Familie nachholen will. Aber ich hab gleich gesagt, | |
ich will nicht. Die Deutschen denken das immer, wenn jemand kommt, der noch | |
nicht 18 ist. Bei dem Profilbild hab ich mir nichts gedacht. Aber Christa | |
hat sich Sorgen gemacht. Sie kam in mein Zimmer, hat mich in den Arm | |
genommen und geweint. So wie ich. Es tat mir leid, ich hab das Profilbild | |
sofort geändert.“ | |
„Wir sind doch kein Hotel, sondern eine Familie“, sagt Christa Bernhardt | |
später, als sie davon erzählt. Zum ersten Mal hat sie in diesen Tagen | |
Momente, in denen sie bereut, Juody aufgenommen zu haben. Rainer Bernhardt | |
ruft Refugio an, einen Verein, der Flüchtlinge psychologisch betreut. Seit | |
Monaten steht Juody auf der Warteliste, jetzt bekommt er sofort einen | |
Termin. | |
„Die von Refugio haben gefragt, was in Syrien war und so. Das hat mir gar | |
nicht geholfen. Ich bin da nur hingegangen, weil Christa und Rainer es | |
wollten.“ | |
Hilfe kommt von anderer Seite. Das erste Mal, seit Juody bei den Bernhardts | |
wohnt, kann er mit seinen Eltern telefonieren. Es gehe ihnen gut, doch sie | |
haben Angst, dass auch ihre Stadt beschossen werde. Seine Mutter redet | |
Juody ins Gewissen. 5.000 Dollar haben sie dem Schleuser bezahlt, damit er | |
ihren Sohn nach Deutschland bringt und der dort etwas lernt. Der Vater | |
verdient als Elektriker 200 Dollar im Monat, die Familie hat vier Kinder. | |
Juody bleibt. | |
„Danach wollte ich nie wieder zurück.“ | |
In den Pfingstferien wollten die Pflegeeltern eigentlich mit Patrick und | |
Juody nach Italien fahren, aber Juody darf das Land nicht verlassen, | |
solange sein Asylantrag noch läuft. Also geht es mit dem Camper an den | |
Bodensee. Normalerweise schläft die ganze Familie darin. | |
„Ich habe lieber im Zelt geschlafen. Ich war ja noch ganz neu in der | |
deutschen Familie.“ | |
An einem Sonntag nach den Ferien sitzt die Familie auf der Veranda. Juody | |
und Sarina, blonde Haare, Sommersprossen, beugen sich über einen Laptop. | |
Juody zoomt auf Google Maps an den nordöstlichsten Zipfel Syriens heran, | |
doch seine Heimatstadt ist zu klein, um verzeichnet zu sein. | |
„Können wir nicht mal mit deinen Eltern telefonieren?“, fragt Christa | |
Bernhardt. | |
„Nein, sie sprechen kein Deutsch und kein Englisch.“ | |
„Hast du ein Foto von ihnen?“ | |
„Nein.“ | |
„Willst du ihnen eins von uns schicken?“, fragt Rainer Bernhardt. „Dann | |
können die mal sehen, bei was für Vögeln du jetzt wohnst.“ | |
„Haben sie nie danach gefragt?“, will Christa Bernhardt wissen. | |
„Doch.“ | |
„Aber?“ | |
„Weiß nicht.“ Vielleicht will er seine Eltern nicht verletzen, vermuten die | |
Bernhardts. Juody hat Tränen in den Augen. | |
Im Deutschkurs lernt er diszipliniert. Bei der ersten Prüfung war er der | |
Beste, darauf sind die Pflegeeltern stolz. Besteht er auch die zweite, kann | |
er in einer Flüchtlingsklasse seinen Hauptschulabschluss machen. „Ich weiß | |
aber nicht, ob er nicht zu gut dafür ist“, sagt Christa Bernhardt. Sie | |
glaubt, dass er ein guter Schüler war in Syrien, auch wenn sie nur einen | |
Papierstreifen mit arabischen Schriftzeichen von ihm hat, der sich später | |
als eher mittelmäßiges Zeugnis herausstellen wird. | |
## Juni 2016 | |
Die meisten Bekannten haben mitbekommen, dass bei den Bernhardts ein | |
Flüchtling wohnt. „Bist du einer von diesen Gutmenschen?“, fragt einer. | |
„Pass bloß auf, dass das nicht so ein Schläfer ist“, warnt ein anderer. D… | |
lädt Rainer Bernhardt nicht mehr zum Geburtstag ein. Sonst, sagt er, hätten | |
die meisten positiv reagiert. Wie der Nachbar, der fragt, ob Juody in | |
seiner Sportgruppe mitmachen will. Juody will – und Rainer Bernhardt kommt | |
mit. Obwohl er sonst nie Sport macht. Seither gehen sie jeden Mittwochabend | |
zusammen schwitzen. | |
Vor der Sporthalle treffen sie auf die anderen: der Nachbar, ein Rentner, | |
sein Sohn, eine Abiturientin und zwei Syrer. Die Truppe joggt zum Waldheim | |
hoch, Juody leichtfüßig vorneweg, Rainer Bernhardt schnaufend hinterher. | |
Danach geht’s in die Halle, zum Basketball. Gemischte Teams, | |
deutsch-syrisch. Es wird gerempelt, gerangelt, gezupft. Als Juody angreift, | |
überlässt Rainer Bernhardt ihm den Ball. „Yalla!“ – „Achtung!“, ruf… | |
Mitspieler. Juody trifft den Korb und lacht, so laut wie sonst nie. | |
In der anderen Hallenhälfte trainieren Cheerleader in knappen Höschen. „Am | |
Anfang haben sich die Syrer gar nicht getraut, den Ball zu holen, wenn er | |
rübergeflogen ist“, erzählt der Nachbar. „Jetzt spicken sie manchmal.“ | |
„Als ich nach Deutschland kam, war ich schon ein bisschen schockiert, was | |
die Frauen anhaben. Es war ja Sommer. Aber jetzt ist es normal für mich.“ | |
Die deutschen Männer schlendern in die Kabine, ziehen sich aus. Die Syrer | |
schnappen ihre Turnbeutel und gehen aus der Halle. „Mit uns zu duschen | |
trauen sie sich nicht“, sagt der Nachbar. | |
Seit Kurzem hat Juody eine Freundin, 14 Jahre alt, türkischer Herkunft. Die | |
Pflegeeltern werden hellhörig. Nicht dass der türkische Vater plötzlich vor | |
der Tür steht. Doch sie freuen sich auch, dass Juody es erzählt hat. Rainer | |
Bernhardt spricht mit Juody über Mädchen, Sex und solche Sachen – von Mann | |
zu Mann. Er fragt ihn, ob er weiß, wie man verhütet. Juody reagiert | |
gelassen. Ja, er wüsste Bescheid. | |
„Das war mir nicht peinlich. In Syrien hätte eher meine Mutter mit mir | |
darüber gesprochen, aber hier ist das anders herum.“ | |
## Juli 2016 | |
Im 140 Kilometer entfernten Ochsenfurt bei Würzburg hat ein junger | |
Flüchtling eine Familie in einem Regionalzug mit einem Messer attackiert | |
und eine Spaziergängerin mit einer Axt angegriffen. Der Täter, angeblich | |
17, lebte in einer deutschen Pflegefamilie. Plötzlich ist Würzburg in | |
Backnang. „Da musste ich schon schlucken“, sagt Christa Bernhardt. „Ich | |
könnte nicht zu 100 Prozent sagen: ‚So was würde Juody nie tun.‘ Dafür k… | |
ich ihn zu wenig.“ | |
„Man muss immer mit allem rechnen“, sagt Rainer Bernhardt. „Wir wissen oft | |
nicht, wo er ist.“ | |
„Rainer hat mir davon erzählt. Wie kann man so etwas tun?“ Juody tippt sich | |
an die Stirn. „Aber ich verstehe nicht: Was hat das mit mir zu tun, nur | |
weil ich auch ein Flüchtlinge bin?“ Juody sagt immer „Flüchtlinge“, auch | |
wenn er den Singular meint. Als gäbe es die Zugewanderten nur als Masse. | |
Juodys Profilbild bei Whatsapp zeigt zu dieser Zeit einen Mann, auf dessen | |
Rücken steht: „Ich habe nur Angst vor Allah.“ Die Bernhardts stutzen: Hat | |
er nicht gesagt, er sei nicht so religiös? Sie erklären ihm, dass die | |
Polizei da schnell hellhörig wird. | |
„Wir haben ständig solche Profilbilder in Syrien, und keiner sagt was. Aber | |
in Deutschland fragen alle, was das soll. Als ich noch in der Wohngruppe | |
gewohnt habe, hatte ich mal ein Foto von einem Autoschlüssel in Facebook. | |
Am nächsten Tag in der Schule kommt die Lehrerin zu mir und sagt: ‚Jetzt | |
kommt die Polizei.‘ Die Polizisten haben mich gefragt: ‚Woher hast du die | |
Autoschlüssel?‘ Ich hab gesagt: ‚Ich hab keine, das Bild ist aus dem | |
Internet.‘ Sie haben viele Fragen gestellt, zwei Seiten vollgeschrieben und | |
mein Zimmer in der Wohngruppe durchsucht. Zu der Zeit gab es in Paris | |
Leute, die gebombt haben. Ich weiß nicht, ob das damit zu tun hatte.“ | |
„Vielleicht hat er sich ja wirklich nichts dabei gedacht“, sagt Rainer | |
Bernhardt später. | |
„Aber komisch ist es schon“, sagt Christa Bernhardt. | |
Manchmal muss Rainer Bernhardt nun wieder an Merkels Satz aus dem Sommer | |
2015 denken: „Wir schaffen das.“ „Bei uns müsste es eher heißen: ‚Wir | |
arbeiten daran‘ “, sagt er. Rainer Bernhardt spricht gern über das große | |
Ganze. Politik und Integration. Christa Bernhardt beschäftigt das Kleine. | |
Schulnoten, Zahnarzttermine, Juodys Rolle in der Familie. | |
Zwei Tage nach dem Würzburger Attentat geht Christa Bernhardt zum | |
monatlichen Elternabend für Pflegeeltern. In einem kleinen Raum am Rande | |
von Winnenden haben sich zwei Dutzend Menschen versammelt, Paare mittleren | |
Alters. Apfelsaft auf dem Tisch, die Luft steht. Ein Mann vom Jugendamt | |
spricht darüber, was die Pflegeeltern dürfen und wo es den Vormund braucht. | |
Auf viele Fragen weiß er keine Antwort. | |
Die Pflegeeltern wollen sich vor allem austauschen. Jeder erzählt von | |
„seinem“ – das Wort „Flüchtling“ lassen sie weg. Ein Pflegesohn hat … | |
einen Mülleimer zertrümmert. Ein anderer isst nichts mehr. Eine Frau, die | |
gleich drei Jungen aufgenommen hat, lässt nebenbei fallen, dass einer Mama | |
zu ihr sage. Christa Bernhardt sagt leise: „Das sagt Juody nie, meistens | |
sagt er: du. Oder gar nix.“ | |
Dann spricht eine Pflegemutter an, worauf alle gewartet haben: „Wie kann | |
ich erkennen, ob sich meiner radikalisiert? Kann ich in sein Zimmer gehen | |
und schauen, ob da so eine IS-Flagge rumliegt?“ Alle reden durcheinander. | |
„Also wir haben uns gleich mit ihm zusammengesetzt.“ | |
„Wir haben andere Probleme.“ | |
„Ich würde es merken.“ | |
„Bei dem in Würzburg hat man’s ja auch nicht gemerkt.“ | |
Der Mann vom Jugendamt weist noch auf eine Hotline vom Staatsschutz hin, | |
„die aber eigentlich für andere Fälle gedacht ist“. Keine Familie will si… | |
von ihrem Flüchtling trennen. Ein leises Misstrauen aber bleibt. „Wir sind | |
nicht ganz an ihm dran“, sagt Christa Bernhardt auf der Rückfahrt. | |
## September 2016 | |
Rainer Bernhardt feiert seinen „Rentner-Geburtstag“ im Garten. Teelichter, | |
Grillfleisch, die Rockband spielt Blues. Juody holt sich und seinem | |
Tischnachbarn ein Bier und fragt, ob er anfangen darf, zu essen. Er raucht | |
und trinkt erst, seit er in Deutschland ist. Seine Eltern wüssten nichts | |
davon, sie ahnten es nur, sagt er und grinst. Leonie, die aus Neuseeland | |
zurück ist, singt einen Song mit der Band. Rainer Bernhardt jodelt zum Spaß | |
ins Mikrofon, Juody muss laut lachen. Dann erzählt er, dass er mit seiner | |
Freundin Schluss gemacht hat. „Sie hat Haschisch geraucht und behauptet: | |
Nein, macht sie nicht.“ | |
Noch vor einem Monat wäre es undenkbar gewesen, dass er so offen spricht. | |
Inzwischen lacht er öfter und schaut einem in die Augen. | |
„Wo ist meine Chrischda?“, ruft Rainer Bernhardt ins Mikrofon. Sie dreht | |
sich verwundert um. „Das ist für dich“, sagt er und stimmt „You are alwa… | |
on my mind“ an. „Das hat er noch nie für mich gesungen“, sagt Christa | |
Bernhardt gerührt. Juody klatscht und ruft: „Habibi!“ – Schatz. | |
„Ich mag eigentlich keine Gitarre und so Musik, die Rainer spielt. Ich hör | |
lieber Rap und Hip-Hop. Aber das war schön.“ | |
Wenige Tage vorher war der Vormund zu Besuch und nannte den Termin für | |
Juodys Anhörung. „Endlich“, sagte Juody. Der Vormund fragte, zu wie viel | |
Prozent er sich zu Familie Bernhardt zugehörig fühle. „85“, sagte Juody | |
sofort. „Ich hatte Tränen in den Augen“, sagt Christa Bernhardt. | |
„Das hab ich nicht nur gesagt, um ihnen eine Freude zu machen. Das war echt | |
so.“ | |
## November 2016 | |
Mitte des Monats kommt die Nachricht, dass Juodys Asylantrag abgelehnt | |
wurde. Er bekommt nur ein Jahr subsidiären Schutz. Ihm drohe keine | |
unmittelbare Verfolgung in Syrien. Die Pflegeeltern reichen dagegen Klage | |
ein. Wie viel sie der Anwalt kosten wird, wissen sie nicht. „Abenteuer sind | |
halt teuer“, sagt Rainer Bernhardt. „Und das ist jetzt ein kleines | |
Abenteuer für uns.“ | |
## Dezember 2016 | |
In Freiburg wurde vor zwei Monaten die Leiche einer Studentin gefunden, | |
vergewaltigt und ermordet. Jetzt gibt es einen Tatverdächtigen: Es ist ein | |
Afghane, angeblich 17, der als Flüchtling in einer Pflegefamilie lebte. „Da | |
ist mir gleich durch den Kopf geschossen: Was hätte Juody gemacht in so | |
einer Situation?“, sagt Rainer Bernhardt. „Und ich wusste sofort: Er würde | |
so was nie tun. Nicht unser Juody.“ | |
„Ein Flüchtlinge macht so was, und wieder heißt es, alle Flüchtlinge sind | |
so. Das regt mich auf. Ich habe im Radio gehört, dass ein Flüchtlinge in | |
einem Freibad was gemacht hat mit einem Mädchen. Danach bin ich nicht mehr | |
ins Freibad gegangen.“ | |
## Januar 2017 | |
In zwei Wochen wird Juody 18. Er könnte dann ausziehen und bekäme direkt | |
vom Amt Geld. Die Pflegeeltern haben bisher monatlich eine Anerkennung von | |
269 Euro und einen Zuschuss für Unterkunft, Essen und Kleider erhalten. | |
Rund 1.000 Euro insgesamt. Juody könnte auch bei den Bernhardts bleiben, | |
bis er 21 ist. Das zuständige Jugendamt würde auf Antrag weiterhin zahlen. | |
Juody will bleiben. Die Bernhardts wollen ihn behalten. | |
## August 2017 | |
Juody arbeitet in den Ferien auf dem Bau, sechs Tage die Woche, sechs | |
Wochen lang – für den Führerschein. Ein Bekannter der Bernhardts hat ein | |
Bauunternehmen. Das Geld gibt Juody den Pflegeeltern, sie sollen es | |
aufbewahren, damit er nicht gleich alles ausgibt. „Ich fand schön, dass er | |
uns das anvertraut“, sagt Christa Bernhardt. | |
## November 2017 | |
Der grüne Ordner mit Juodys Unterlagen ist inzwischen voll. Morgens macht | |
Juody sich und seiner Pflegemutter Kaffee, bevor er in die | |
Flüchtlingsklasse geht. Nachmittags hängt er mit Freunden in der Stadt | |
herum, in der Shishabar, beim Dönerladen. Die Pflegeeltern organisieren | |
Praktikumsplätze für ihn und erinnern ihn, jeden Tag eine deutsche Vokabel | |
zu lernen. | |
„Aber er redet immer noch nicht viel“, sagt Christa Bernhardt, während sie | |
den Tisch deckt. Juody ist noch in der Schule, Patrick und Leonie lümmeln | |
auf dem Sofa herum. „Und er sagt immer noch nicht Christa zu mir.“ Patrick | |
ruft: „Bei mir regst du dich immer auf, wenn ich Christa sage.“ Patrick und | |
Juody sind noch immer keine dicken Freunde. Aber manchmal so etwas wie | |
stille Verbündete. „Lass ihn doch“, sagt Patrick, wenn seine seine Mutter | |
Juody fragt, wie es in der Schule war. | |
Juody hat eine neue Freundin, 17, aus Ungarn. „Ich glaub, die tut ihm gut“, | |
sagt Rainer Bernhardt. „Wenigstens redet er dann Deutsch“, sagt Christa | |
Bernhardt. Bevor die Freundin erstmals über Nacht bleiben durfte, hat Juody | |
die Pflegeeltern über Whatsapp gefragt, ob das okay sei. Dass er sie mit | |
nach Hause bringt, freut die Bernhardts. | |
Und trotzdem: „Er ist nicht ganz in der Familie“, sagt Leonie. „Er sitzt | |
immer mit ganz geradem Rücken auf dem Sofa, wenn wir fernsehen.“ | |
Juody kommt heim von der Schule und teilt den Salat aus. Bald macht er den | |
Hauptschulabschluss, dann will er eine Ausbildung machen. Ein Angebot hat | |
er schon: eine Maurerlehre. | |
„Christa sagt immer, ich soll lernen. In Europa sind die Frauen strenger. | |
Das nervt zwar, aber ich finde es auch gut. Nach der Schule sagt sie: | |
‚Komm, wir lesen zusammen was.‘ Ich habe keinen Bock, aber ich sage: ‚Ja | |
okay‘, und lese ihr aus ‚Tschick‘ vor.“ | |
Am Abend fährt Christa Bernhardt nach Winnenden, die Pflegeeltern aus dem | |
Umkreis treffen sich in einer Pizzeria. 15 Leute, hauptsächlich Frauen. Sie | |
haben ihre eigene Sprache: UMF, IB, VABO, AV-Dual. Es geht um Khaled, | |
Mahmud, Abdullah und deren Zukunft. Bei welcher Ausbildung hat man viel | |
Praxis und wenig Theorie? Die Frau mit den drei Pflegesöhnen, von denen | |
einer „Mama“ sagte, kommt schon länger nicht mehr. Einen hat sie inzwischen | |
abgegeben. 26 minderjährige Flüchtlinge lebten im Umkreis vor einem Jahr in | |
Pflegefamilien, jetzt sind es noch 14. | |
## März 2018 | |
Verwaltungsgericht Stuttgart, Saal drei, ein karger Raum. Der Anwalt ist | |
schon da. Juodys Fall ist für ihn Routine, 800 Asylfälle hat er bereits | |
verhandelt. „Wie ist das mit den Kosten“, fragt Christa Bernhardt. „Muss | |
der Gegner zahlen, der verliert ja“, sagt der Anwalt, den ihnen eine | |
Bekannte kurzfristig vermittelt hat. Rainer und Christa Bernhardt schauen | |
sich verdutzt an. Ihre erste Anwältin hatte gesagt, sie hätten keine | |
Chance. | |
Kaum hat die Verhandlung begonnen, sagt die Richterin: „Sie können noch | |
lange plädieren, aber ich denke, das können wir uns sparen.“ „Ich denke | |
auch“, sagt der Anwalt. Christa Bernhardt hebt erstaunt den Kopf. Juody | |
grinst. Elf Minuten nachdem die Verhandlung begonnen hat, ist sie schon | |
wieder beendet. Juody bekommt Asyl, weil er noch im wehrpflichtigen Alter | |
ist. Mindestens drei Jahre darf er nun in Deutschland bleiben. Rainer | |
Bernhardt klopft Juody auf die Schulter – und Christa Bernhardt drückt ihn | |
an sich. | |
30 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Veronika Wulf | |
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