| # taz.de -- Unter einem Dach mit einem Flüchtling: Karim, ich muss dich abschi… | |
| > Unser Autor hat einen Flüchtling bei sich aufgenommen. Doch nun ist er | |
| > genervt und fragt sich: Bin ich ein selbstgerechter Erste-Welt-Sack? | |
| Bild: Willkommenskultur: Die Mühen der Ebene | |
| Ich möchte mit Ihnen nur eine Woche bleiben.“ | |
| „Bitta tötet mich nicht hier.“ | |
| „Ich schwöre ich sterbe.“ | |
| „You killed me.“ | |
| Diese WhatsApp-Nachrichten hat mir Karim geschickt. Er ist 21 Jahre alt, | |
| Flüchtling aus der Stadt al-Bab in Nordsyrien. Seit fast einem Jahr lebt er | |
| bei uns zu Hause. | |
| Karim und ich sind ineinander verhakt, es geht nicht vor und nicht zurück. | |
| Ich will, dass er geht. | |
| Gerade habe ich ihn zu der Wohnung gefahren, in der ich für ihn ein | |
| WG-Zimmer gemietet habe. Jetzt sitze ich vor der Tür im Auto. Karim und ich | |
| kämpfen miteinander per Kurznachricht. Gehe ich wieder hoch, nehme ich ihn | |
| wieder mit? Ich fürchte, dass er sich etwas antut. Oder macht er nur Druck? | |
| Diese Geschichte muss ein Ende haben. | |
| Vor ziemlich genau einem Jahr ruft mich meine 19-jährige Tochter im Büro | |
| an. Sie habe im Club einen Flüchtling kennengelernt, der ein Bett brauche. | |
| Ja, sage ich, geht. Für ein paar Tage. Ob ich diese Einschränkung | |
| hinzugefügt oder nur gedacht habe, weiß ich nicht mehr. Als ich zu Hause | |
| eintreffe, hat meine Tochter in einer Ecke ihres Zimmers eine Matratze | |
| hingelegt und bezogen. Kiste daneben, Leselampe drauf. Ihren Bruder hat sie | |
| nicht gefragt. Mein 16-jähriger Sohn ist eben aus der Schule gekommen und | |
| unterhält sich mit Karim. | |
| ## Viele im Merkel-Fanclub haben jetzt „einen Syrer“ | |
| Karim ist schüchtern. Wir sind schüchtern. Er setzt sich im Wohnzimmer auf | |
| die Kante des Sofas, wischt auf seinem Smartphone rum. Ich bitte ihn in die | |
| Küche, wir sitzen am Tisch. Er erzählt von al-Bab, damals Gebiet der | |
| IS-Kämpfer. Zum Fastenbrechen 2015 verließ er sein Elternhaus, um | |
| Lebensmittel einzukaufen. Als er zurückkam, fand er nur noch Trümmer. Eine | |
| Rakete hatte eingeschlagen. Mutter, Vater und sein kleiner Bruder – tot. | |
| Nach der Beerdigung haute Karim ab, durch die Türkei, Schlauchboot nach | |
| Lesbos, Balkanroute, Deutschland, eine Kleinstadt bei Berlin. Er zeigt | |
| Fotos von seinen Verstorbenen. Was gibt es da zu sagen? Wir gehen in einen | |
| Biergarten, um etwas zu essen. Unterwegs hebt er ein Papier vom Bürgersteig | |
| auf und wirft es in einen Mülleimer. Patenter Typ, denke ich. | |
| Ich finde richtig, was ich tue. Ich fühle mich gut. Ein halbes Jahr dauert | |
| der große Run da schon an. Eine Million Flüchtlinge. Zu helfen erscheint | |
| naheliegend und nötig. | |
| „Wie lange kann ich bei euch bleiben?“, fragt Karim nach ein paar Tagen. | |
| „Bis wir eine Wohnung für dich gefunden haben“, antworte ich. Abends bin | |
| ich bei Freunden eingeladen. Viele haben jetzt „einen Syrer“. „Unser | |
| Flüchtling hat gestern …“ – so beginnen die Erzählungen. Wir sind der | |
| Merkel-Fan-Club, obwohl wir nicht die CDU wählen. | |
| ## Bürokratisch bestens versorgt | |
| Im Land Brandenburg, angeblich Dunkeldeutschland, wurde Karim bürokratisch | |
| bestens versorgt. Er hat eine dreijährige Aufenthaltserlaubnis, einen | |
| Personalausweis, einen Reisepass für den Schengenraum, eine | |
| Krankenversicherungskarte, Hartz IV. Und er darf arbeiten. Weil das | |
| Flüchtlingswohnheim, in dem er anfangs lebte, umgebaut wird, braucht er | |
| eine neue Bleibe. Wir melden ihn bei uns in Berlin an. | |
| Sein Sprachunterricht beginnt jeden Tag um 13.30 Uhr. Bevor ich morgens ins | |
| Büro fahre, wecke ich Karim. Er steht kurz auf, legt sich dann wieder hin. | |
| Komme ich nachmittags nach Hause, liegt er ebenfalls im Bett. Er schläft | |
| und schläft. Zwischendurch schaut er stundenlang in sein Smartphone, um | |
| Kontakt zu seiner verlorenen Welt zu halten, zu seinen Onkels, Tanten, | |
| Cousins, Cousinen und Freunden, die ebenfalls auf der Flucht sind. | |
| Er ist ein Sanfter, der den Harten gibt. Er trägt Armeehosen, fingerlose | |
| schwarze Handschuhe, an der Halskette einen stilisierten Säbel aus Blech, | |
| das Schwert Mohammeds. Ins Fitnessstudio geht er regelmäßig. Gerne postet | |
| er auf Facebook Fotos von seinem Sixpack, worauf er Hunderte Likes erhält. | |
| Freitag- und Samstagnacht feiert er durch. Er findet nette Kumpels, die mit | |
| beiden Beinen im Leben stehen und ihm helfen. | |
| Mir bringt Karim ein bisschen Arabisch bei. Er erzählt von seinem Leben in | |
| Syrien, von den großen Familien. Man sei immer unter Verwandten und | |
| Freunden, ständig komme jemand zu Besuch. Er wundert sich über unser | |
| Alleine-Leben. Ich wohne in Berlin-Kreuzberg, meine Exfrau in Schöneberg. | |
| Unsere beiden Kinder sind eine Woche bei mir, eine bei ihr. Unseren | |
| Flüchtling tauschen wir im entgegengesetzten Rhythmus, weil weder sie noch | |
| ich ein extra Zimmer haben. Gemeinsam sind wir seine Ersatzfamilie. | |
| ## Karim verhält sich wie unser Kater: essen, schlafen | |
| Die Arabisch sprechende Psychologin, die wir um Hilfe bitten, attestiert | |
| Karim eine Traumatisierung und Depression. Er schläft schlecht, klagt über | |
| Albträume, die Bilder aus dem Krieg verfolgen ihn. Manchmal, wenn man ihn | |
| morgens weckt, schreckt er auf und sitzt kerzengerade im Bett. Sie sagt, | |
| wir müssten ihm Zeit geben, bis er zur Ruhe kommt. Ein langwieriger | |
| Prozess: Per Smartphone erfährt er, wenn wieder ein Cousin oder eine Tante | |
| in Syrien getötet wurde. Dann weint er. Ich lege meinen Arm um ihn und | |
| frage mich, ob es nicht besser wäre, den Kontakt zu seinem früheren Leben | |
| so lange abzubrechen, bis er neuen Boden unter den Füßen hat. | |
| Ich lerne ihn kennen, seine Marotten ebenfalls. Die Zuckerdose steht immer | |
| in seinem Zimmer. Die Klobrille ist nass, weil er statt Papier Wasser | |
| benutzt. In der Dusche verstopfen seine schwarzen Haare das Abflusssieb. | |
| Nasse Handtücher wirft er in den Wäschekorb, wo sie vor sich hin modern. | |
| Gerne lässt er die Waschmaschine für vier Socken und drei Unterhosen | |
| laufen. In den elf Monaten bei uns macht Karim zweimal die Wohnung sauber. | |
| Ich sage ihm, was mich stört. Es ändert sich wenig. | |
| Religion interessiert ihn kaum. Nur selten breitet er, um niederzuknien, | |
| sein Tuch auf dem Boden aus. Seltsamerweise betet er nicht Richtung Mekka, | |
| sondern gen Süden. Ich mache Witze darüber. „Du bist ein Freizeitrassist“, | |
| empört sich meine Tochter. „Und du hast gut reden“, sage ich. „Du hast d… | |
| Typen angeschleppt, aber Mama und Papa erledigen die Arbeit.“ | |
| Eines Tages riecht es ganz elegant in unserer Küche. Ich gehe zum | |
| Badezimmerschrank und stelle fest: Karim hat mein Superteuerparfüm schon | |
| halb geleert. Er macht mir vor, wie die Mädchen vor Verzückung an seinem | |
| Hals hängen. Ich rege mich entsetzlich auf. Zahnbürste, Deo, Parfüm – | |
| privat! Muss man das wirklich erklären? Zwei Tage später benutzt er wieder | |
| mein Parfüm. Ich drohe, ihn rauszuschmeißen. | |
| ## Eine Frage der Selbstachtung | |
| Als ich ein Wochenende verreisen will und Karim allein zu Hause bleibt, | |
| ordne ich an: Keine Party! Nach meiner Rückkehr finde ich Plastiktüten mit | |
| leeren Flaschen im Abstellraum. Karim erklärt: draußen gesammelt wegen | |
| Pfand. Wir fahren sie zum Supermarkt. Später erzählen mir Nachbarn, dass | |
| Karim einen Haufen Leute eingeladen hat und sie ihn bitten mussten, die | |
| Musik leiser zu drehen. | |
| Es kommt selten vor, dass ich rumschreie. Nun passiert es. Weil Karim mich | |
| verarscht. Das kann ich mir von einem Erwachsenen, mit dem ich | |
| zusammenwohne, nicht bieten lassen. Es ist nicht nur eine Frage der | |
| Selbstachtung, sondern auch der Sicherheit. Mein Portemonnaie liegt offen | |
| herum, meine Bankkarten, im Notizbuch stehen die Zugangscodes zum Konto. | |
| Zur Strafe für den Vertrauensbruch schicke ich Karim weg: „Morgen kannst du | |
| wiederkommen.“ Meine Exfrau findet das angemessen. | |
| Haben sich meine Kinder nicht ebenfalls manchen Scheiß geleistet? Bin ich | |
| ein selbstgerechter Erste-Welt-Sack, der sich nur gut fühlen, aber seine | |
| Komfortzone nicht verlassen will? Vielleicht. | |
| Warum geht mir Karim allmählich so auf die Nerven? Ein Teil der Antwort: | |
| Seit bald zwei Jahren lebt er in Deutschland und steckt zum dritten Mal im | |
| Anfänger-Deutschkurs A1. Seine Sprachkenntnisse sind armselig. Hausaufgaben | |
| machen? Fehlanzeige. Er findet, er spreche schon ganz ordentlich. Ich: | |
| „Nein, du sprichst scheiße Deutsch. Ich kann nicht normal mit dir reden.“ | |
| Ich werfe ihm ein paar schnelle Sätze hin, um zu demonstrieren, dass er | |
| nichts versteht. Er versteht nichts. Ich fühle mich schlecht. Wahr bleibt | |
| dennoch: Karim ist stinkfaul. Er verhält sich wie unser Kater: | |
| Nahrungsaufnahme, schlafen. | |
| Man könnte diese Geschichte so lesen: Eine Million Flüchtlinge kamen nach | |
| Deutschland, staatlicher Kontrollverlust, gesellschaftliche Überforderung, | |
| der Terror reiste mit ein. Jetzt, anderthalb Jahre später, bemerken wir die | |
| Konsequenzen auch im privaten Umfeld. Die Deutschen wachen endlich auf. | |
| Nein. Ich würde wieder einen Flüchtling aufnehmen. Vielleicht aber würde | |
| ich ihm gleich am Anfang sagen: Vier Wochen Probezeit, dann entscheide ich, | |
| wie es weitergeht mit uns. Das mit Karim und meiner Familie ging schief. | |
| Trotzdem bleibt richtig, was im Sommer 2015 auch schon richtig war: | |
| Deutschland und Europa müssen Flüchtlinge aufnehmen. | |
| ## Sie haben sich reingekniet | |
| Viele Freunde und Bekannte haben bessere Erfahrungen gemacht: Zwei | |
| Nachbarinnen beherbergen einen afghanischen Jungen, den die Regierung | |
| abschieben wollte. Nun macht er den mittleren Schulabschluss. Ein Freund | |
| hat einen jungen Mann aus Kamerun so weit unterstützt, dass dieser nun eine | |
| Ausbildung zum Busfahrer absolviert. Und wir kennen einige Syrer, die | |
| mittlerweile passabel Deutsch sprechen, in eigenen Wohnungen leben, ihren | |
| Weg gehen. Ihnen ist gemeinsam: Sie haben sich reingekniet und den Arsch | |
| zusammengekniffen. | |
| Karim belügt mich mehr als ein Mal. „Warst du heute bis 14 Uhr in der | |
| Schule?“ – „Ja, natürlich.“ Ein paar Tage später erfahre ich: Er nimm… | |
| regelmäßig die Freiheit, um 12 Uhr den Unterricht zu verlassen. Wieder und | |
| wieder reden wir mit ihm. Deutsch lernen – wichtig! Sonst keine Arbeit, | |
| kein Geld, keine Chance. Er sagt immer nur: Ja, ich lerne mehr. Mein Vorrat | |
| an Mitleid erschöpft sich. Wie lange soll das alles dauern? Ein Jahr, zwei | |
| Jahre, drei? Wie lange soll ich ihm noch die Formulare ausfüllen? | |
| Als meine erwachsene Tochter auszieht, nimmt sie ihr Meerschweinchen mit. | |
| Den Syrer lässt sie da. Mein Sohn macht in diesen Wochen Abitur. Ich habe | |
| zwanzig Jahre Erziehung geleistet. Das war eine schöne Sache. Aber jetzt | |
| bin ich 55. Wenn ich nochmal eine Wohngemeinschaft aufmache, möchte ich mir | |
| die Mitbewohner selbst aussuchen. | |
| In seiner Kolumne im Spiegel schreibt Jakob Augstein, „die Identität muss | |
| gegen die Migration errungen werden“. Er plädiert für den „Schutz der | |
| Heimat“. Starke und seltsame Gedanken für jemanden, der sich für links | |
| hält, besonders in dieser Wortwahl. In Augsteins Gedanken stecken jedoch | |
| Fragen, die ich mir während der Zeit mit Karim auch stelle: Was müssen | |
| Flüchtlinge hier leisten, was sollen wir, die Alteingesessenen, ihnen | |
| abverlangen, wie viel Integration fordern wir? | |
| ## Phlegmatisch oder traumatisiert? | |
| Bundesinnenminister Thomas de Maizière schreibt in seinen Thesen über die | |
| „Leitkultur für Deutschland“: „Wir sehen Bildung als Wert“. „Wir for… | |
| Leistung“. Ich mag den Begriff „Leitkultur“ nicht und finde den Katalog v… | |
| de Maizière größtenteils schräg. Aber der Minister hat auch einen Punkt: | |
| Wenn Karim sich mehr anstrengen würde, käme er in diesem Land besser an. | |
| Wie lange tolerieren wir also sein Phlegma? Auf unsere Bitten reagiert er | |
| nicht. Traumatisiert? Ja, meinetwegen. Aber eben auch faul – und verwöhnt. | |
| Wahrscheinlich regelte Mama in Syrien alles. Und normalerweise hätten seine | |
| Eltern auch eine Ehefrau gesucht, die dann alles macht. Aber dieses Modell | |
| funktioniert bei uns nicht. | |
| Meine Familie und ich fühlen uns zunehmend überfordert, werden ungeduldig. | |
| Er geht uns auf die Nerven – und wir ihm. Unterhaltungen zu Hause finden | |
| kaum noch statt. Wir versuchen, uns in der Wohnung möglichst wenig zu | |
| treffen. Eine Freundin, die zu Besuch kommt, sagt: Bei euch ist es wie in | |
| einer zerrütteten Ehe. | |
| Der sozialpsychiatrische Dienst des Bezirksamts kann uns nicht helfen. Ja, | |
| Karim sei traumatisiert. Nein, Plätze in betreuten Wohngemeinschaften | |
| stünden für Flüchtlinge nicht zur Verfügung. Wir fassen den Plan, dass er | |
| Ende März dieses Jahres ausziehen soll. Das heißt: wochenlange | |
| Wohnungssuche. Schließlich entdecken wir diese Internetseite, eine Art | |
| Airbnb für WG-Zimmer. Wir buchen eine Unterkunft ab 1. April. | |
| Karim lehnt ab. Mit fünf fremden Menschen wolle er nicht zusammenleben. | |
| Außerdem sei die neue Wohnung zu weit von seiner Sprachschule entfernt. 25 | |
| Minuten mit der S-Bahn. | |
| „Am Freitag holen wir den Schlüssel und am Samstag schaust du dir die | |
| Wohnung an“, sage ich. „Nein“, sagt er, „ich gehe jetzt.“ | |
| „Wohin?“ | |
| „Berlin ist groß.“ | |
| Er geht in sein Zimmer, ändert sein Profilbild auf WhatsApp: Man sieht ihn | |
| auf der Erde liegen, zugedeckt mit einem roten Handtuch, zwischen zwei | |
| Gräbern. Das müssen die Gräber seiner Eltern sein. Vor ein paar Wochen | |
| hatte er das Foto seiner Mutter als Profilbild, dann das seines getöteten | |
| kleinen Bruders. | |
| Er packt seine Sachen. Ich nehme seine Schlüssel an mich. Große | |
| Plastiktüte, zwei kleine Koffer, seine Umhängetasche, so steht er im Flur. | |
| Danke für alles, sagt er, dreht sich um, geht. | |
| Er ist so plötzlich weg, wie er gekommen ist. Schlechtes Gewissen? Vor | |
| allem bin ich erleichtert, ziehe das Bett ab, werfe seine Joghurts und die | |
| Zahnbürste weg. | |
| Am nächsten Tag ist er wieder da. Er hat die Nacht im Park verbracht. Wir | |
| nehmen ihn nochmal auf, nachdem er uns versprochen hat, am nächsten Samstag | |
| wirklich umzuziehen. Er sagt: „Ihr seid meine Familie, in Syrien habe ich | |
| keine mehr. Ich bin glücklich bei euch.“ Er weint, schleicht in sein | |
| Zimmer. | |
| ## Küche und Bad sind dreckig | |
| Samstag, ein warmer Frühlingsnachmittag: Ich lade Karims Sachen ins Auto. | |
| Wir fahren nach Wilmersdorf zu seiner neuen WG. Ordentliches Haus, dritter | |
| Stock, große Wohnung. Das Zimmer, das wir gemietet haben, ist okay, Küche | |
| und Bad aber sind dreckig. „Das ist scheiße“, sagt Karim, „wenn ich hier | |
| bleibe, sterbe ich.“ „Drei Stunden putzen, Müll runterbringen, und es sieht | |
| gut aus“, sage ich. | |
| Sein Blick wird leer, er sackt auf einen Küchenstuhl, springt wieder auf, | |
| nimmt ein Messer und spielt damit an seinem Handgelenk herum. Mir wird | |
| anders. Gleichzeitig denke ich: Wenn ich ihn jetzt wieder mitnehme – wie | |
| soll das mit uns jemals enden? Ich ziehe die Tür hinter mir zu und gehe. | |
| Im Auto vor dem Haus werde ich unruhig. Was, wenn ich in die | |
| Gerichtsmedizin gerufen werde, um Karim zu identifizieren? Kann ich damit | |
| leben? Ich schreibe ihm: „Was machst du?“ | |
| „Ich kann nicht hier.“ | |
| „Nun ist die Krankheit zurück.“ | |
| „Jetzt habe ich sterben.“ | |
| „Ich bin Atemnot.“ | |
| 30 Nachrichten dieser Sorte. Was mache ich jetzt? Wegfahren, Selbstmord | |
| riskieren? Er übt nur Druck aus, sage ich mir. Oder doch nicht? Woher soll | |
| ich das wissen? | |
| Ich rufe die 112 an. Sieben Minuten später kommen zwei Streifenwagen und | |
| der Notarzt. Sie fahren Karim in die Rettungsstelle des nahen | |
| Krankenhauses. | |
| Ein Psychiater nimmt sich eine Stunde Zeit, versucht herauszubekommen, | |
| warum Karim nicht in die neue Wohnung ziehen will. Karim sagt, seine bösen | |
| Träume kämen zurück, sein Kopf würde explodieren. | |
| Aus dem Arztprotokoll: „Der Patient sagt, dass er in der WG nicht bleiben | |
| könne. Es würde ihm dort zu schlecht gehen. Aufgrund der Sprachbarriere ist | |
| der genaue Grund nicht zu eruieren. Vermutlich im Rahmen einer | |
| posttraumatischen Belastungsstörung. Dem Patient wird mehrfach eine | |
| stationäre Aufnahme angeboten. Er lehnt dies ab und sagt, er wolle dann | |
| lieber zurück nach Syrien gehen. Auch nach der Aufklärung über die Gefahr | |
| in Syrien sagt er, dass er dorthin zurückkehren wolle. Die Äußerungen haben | |
| gegenüber Herrn Koch erpresserischen Charakter. Von Suizidalität | |
| distanziert sich der Patient klar und glaubhaft. Kein Anhalt für akute | |
| Eigen- oder Fremdgefährdung.“ | |
| Die beiden letzten Sätze sind wichtig für mich. Wir verlassen die | |
| Notaufnahme. Ich sage Karim, er solle zu seiner Wohnung fahren, essen, | |
| duschen, schlafen, morgen könnten wir uns treffen. Er antwortet, er habe | |
| den Schlüssel weggeworfen. Das ist gelogen. Ich fahre nach Hause, alleine. | |
| Heute, sieben Wochen später, haben Karim und ich sporadischen Kontakt. Wenn | |
| nötig, kümmern meine Exfrau und ich uns um die Bürokratie. Das WG-Zimmer, | |
| das wir immer noch bezahlen, scheint er nicht zu nutzen. Den anderen Leuten | |
| erzählt er, wir hätten ihn rausgeschmissen. | |
| 31 May 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Hannes Koch | |
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