# taz.de -- Ankommen in Deutschland: Sein Name an der Tür | |
> Vor drei Jahren hat unser Autor einen Syrer aufgenommen. Später warf er | |
> ihn raus, Karim wurde obdachlos. Nun könnte es für ihn doch noch gut | |
> ausgehen. | |
Bild: Karim hat endlich eine eigene Adresse, einen Wohnungsschlüssel, seinen N… | |
Zum ersten Mal, seit Karim nach Deutschland gekommen ist, steht sein Name | |
auf einem Klingelschild. Er öffnet seine Wohnungstür, bittet hinein. | |
Badezimmer, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche, alles auf 25 Quadratmetern, | |
klein, aber legal, mit offiziellem Untermietvertrag. Auf dem Boden liegt | |
eine Hantel. Er ist dünn geworden. Kaum noch Bizeps. Doch jetzt trainiert | |
er wieder. Auch Ende Juni, bei 38 Grad. Seinen dunklen Bart hat er mit dem | |
Rasierer exakt getrimmt, in die linke Augenbraue wurden zwei schmale | |
waagerechte Schneisen gefräst, die ihm ein verwegenes Aussehen geben. | |
Einige Monate vorher, im April, schickt er noch solche | |
WhatsApp-Nachrichten: „Seit einer Woche schlafe ich auf der Straße. Oder im | |
Park. Im habe Schmerzen im Kopf. Ich habe Rückenschmerzen. Seit vier | |
Monaten kein Geld vom Jobcenter bekommen. Weil ich keine Adresse mehr habe. | |
Bitte helf mir.“ Dann das Emoji der betenden Hände. | |
Ich helfe ihm nicht mehr. Was mich erschreckt. Ein Mensch, den ich seit | |
zweieinhalb Jahren gut kenne, der elf Monate bei mir gewohnt hat, bittet | |
mich dringend um Unterstützung in einer existenzbedrohenden Situation. Doch | |
ich sage Nein. Tatsächlich sage ich noch nicht mal das. Ich beantworte | |
seine Nachrichten nicht. | |
Mein schlechtes Gewissen hält sich in Grenzen. Ich weiß, warum ich mich so | |
verhalte. | |
## Wir wollten ihm einen guten Start ermöglichen | |
Karim ist ein Flüchtling aus Syrien, 25 Jahre alt, freundlichen Wesens, | |
doch schwierigen Charakters. Er heißt eigentlich anders. Im Frühjahr 2016, | |
auf dem Höhepunkt der großen Einwanderung, brachte meine Tochter ihn mit | |
nach Hause in unsere Kreuzberger Wohnung. Sie, mein Sohn, meine Ex-Frau und | |
ich haben vieles versucht, um Karim hier einen Start zu ermöglichen. | |
Häufige Termine beim Jobcenter, kiloweise Formulare ausgefüllt, | |
organisieren des Alltags, Geld. | |
Nach einem knappen Jahr waren wir schwer genervt. Wir hatten den Eindruck: | |
Es tut sich nichts. Karim ging nicht regelmäßig zum Sprachkurs, verhielt | |
sich, als sei das hohe Betreuungsniveau normal, machte aus unserer Sicht zu | |
wenig Anstalten, die Verantwortung für sein neues Leben selbst zu | |
übernehmen. Er belog uns, wir fühlten uns verarscht. | |
Und wir waren überfordert. Wir hatten uns auf eine Aufgabe eingelassen, | |
deren Bewältigung viel länger dauerte als angenommen. | |
Das erste Kapitel dieser Geschichte endete im Frühjahr 2017, indem wir | |
Karim vor die Tür setzten. Wir besorgten ein Zimmer in einer kommerziellen | |
Wohngemeinschaft. Ich lieferte ihn dort ab. Ihm gefiel es nicht. Er drohte | |
mit Suizid. Ich machte mir Sorgen, wollte mich aber auch nicht erpressen | |
lassen. Karim tingelte ein paar Monate von Freund zu Freund. In der | |
Reportage [1][„Karim, ich muss dich abschieben“], schilderte ich die | |
damaligen Ereignisse. Wie ging es weiter? | |
## Nachts verfolgen ihn die Horrorbilder | |
Erst mal aufwärts. Mit Hilfe von Bekannten findet er eine kleine Wohnung | |
zur Untermiete in Neukölln – Erdgeschoss, dunkler Hof, aber okay. Er lädt | |
mich zum Tee ein, ist stolz, serviert die kleinen Gläser, den Zucker. Es | |
gibt Kekse. Erstmals bin ich bei ihm zu Hause, nicht er bei mir. Er lacht | |
und freut sich. Auf einem Regal in der Küche liegt sein Papierkram. Karim | |
nimmt den Stapel Jobcenter-Formulare in die Hand, blättert, macht den | |
Eindruck, er habe das im Griff. „Morgen schreibe ich dem Amt“, sagt er. | |
Außerdem sucht sich Karim Arbeit in einem Restaurant im Berliner | |
Hauptbahnhof, wo er die Tische abräumt. Nach einigen Monaten kündigt er, | |
weil ihm Geldverdienen plus Sprachkurs zu anstrengend ist. | |
In seiner Wohnung fällt ihm die Decke auf den Kopf. Albträume plagen ihn. | |
Seine Mutter, sein Vater und der kleine Bruder wurden 2015 bei einem | |
Raketenangriff getötet – der Anlass zu Karims Flucht. Die Horrorbilder | |
verfolgen ihn. Ist er nachts allein, kann er nicht schlafen. Die | |
Psychologin sagt, er sei traumatisiert. Er will die Wohnung aufgeben. | |
„Mach das nicht“, rate ich. Die Hälfte der Leute in Berlin lebt allein. | |
Dass es ihnen mal schlecht geht, sie einsam sind, unter Depressionen | |
leiden, ist kein Grund, zu kündigen. Karim sagt dann, dass er mit anderen | |
Menschen zusammenleben möchte. Ich weiß, denke ich, damit sie für dein | |
warmes Nest sorgen. Unser Grundkonflikt. | |
## Die Tochter soll es richten | |
Vielleicht ist es ein kultureller Unterschied. Wir Eingeborene sind an die | |
relative Kälte der menschlichen Beziehungen in Deutschland gewöhnt. Allein | |
in den eigenen vier Wänden zu wohnen und nicht zu verzweifeln gilt als | |
gesellschaftliche Grundrechenart. Karim dagegen hat glänzende Augen, wenn | |
er das Aufgehobensein in seiner verlorenen syrischen Großfamilie | |
beschreibt. „Zu Hause kommt immer Besuch, oder wir gehen zu unseren | |
Verwandten.“ Cousinen, Cousins, Onkel, Tanten, die Großeltern, Freunde der | |
Eltern – die Familie beschützt und trifft Entscheidungen. Hier muss Karim | |
alles selbst regeln – ein Zustand, dem er zu entfliehen versucht. | |
So gibt er seine Neuköllner Wohnung weg – und zieht bei meiner 22-jährigen | |
Tochter ein. Karim sei ein guter Freund, der kein Dach über dem Kopf mehr | |
habe, stellt sie fest. Man könne ihn nicht unter Spreebrücken schlafen | |
lassen. Es ist Sommer 2018. Ihre Mutter und ich versuchen, ihr das | |
auszureden, sagen, dass Karim die Menschen danach aussuche, ob er ihnen | |
seine Probleme aufbürden kann. Es nützt nichts – woran ihre Eltern | |
gescheitert sind, soll bei der Tochter jetzt klappen. | |
In den folgenden Monaten will sie Karim helfen, wieder eine eigene Wohnung | |
zu finden. Sie läuft sich die Hacken ab, vergebens. Er hofft, dass der | |
angenehme Zustand des gemeinsamen Wohnens anhalten möge. Eine | |
Fehleinschätzung: Im Winter 2018 arbeitet meine Tochter an ihrer Bewerbung | |
für das Kunststudium und braucht ihr Zimmer als Atelier. Karim muss | |
ausziehen. So steht er erneut auf der Straße. Mangels fester Adresse stellt | |
das Jobcenter die Zahlung von Hartz IV ein. | |
Wir treffen uns in einem Café am Kreuzberger Oranienplatz. Ein | |
Sonntagnachmittag im März 2019, es regnet. Karim hat einen braunen | |
Winterschal als Schutz gegen die Nässe um seinen Kopf geschlagen. Hängende | |
Schultern, müder Blick, er trägt zu dünne Klamotten für die Kälte, die | |
draußen herrscht. | |
## In Syrien wartet niemand mehr auf ihn | |
Er ist jetzt quasi obdachlos, fragt Freunde, ob er ein paar Tage bei ihnen | |
schlafen kann. Der Imam einer Moschee gewährt ihm vorübergehend Zuflucht. | |
Karim bittet mich, sich bei mir anmelden zu dürfen, damit er wieder eine | |
Adresse hat und Geld vom Amt bekommt. Ich frage, warum er nicht nach Syrien | |
zurückkehrt. Seine Heimatstadt liegt im kurdisch beherrschten Norden des | |
Landes, die Kämpfe dort sind vorbei. | |
„Da ist nichts mehr“, antwortet er. „Meine Oma ist auch gestorben vor | |
Kurzem.“ Und die Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen? Er schüttelt | |
langsam den Kopf und blickt in den Regen. | |
„Du besitzt zwei Häuser, eins in der Stadt, das andere auf dem Land.“ | |
„Beide sind zerstört.“ | |
„Du verkaufst das eine und baust mit dem Geld das andere wieder auf.“ | |
Ich komme mir schlaumeierisch vor. Sitze im Frieden. Was weiß ich, was in | |
Syrien geht und was nicht? | |
Karim erklärt, dass er Angst habe, von den Kurden zur Armee eingezogen zu | |
werden. Zudem habe er in seiner Heimatstadt keine Freunde, wie er sie hier | |
gefunden habe. „Ich liebe Berlin.“ Er breitet die Arme aus und lächelt, um | |
zu zeigen, wie ihm das Herz aufgeht, wenn er in Kreuzberg aus der U-Bahn | |
steigt und in das bunte Feierleben an einem Samstagabend eintaucht. | |
Eines Abends klingelt mein Telefon. Eine junge Frauenstimme: In ihrem | |
Hausflur sitze ein Obdachloser auf der Suche nach einem Schlafplatz, der | |
meinen Namen erwähne. Die Anruferin erinnert sich, vor zwei Jahren meinen | |
Artikel gelesen zu haben, und recherchiert meine Mobilnummer. Was solle sie | |
tun, fragt sie mich. Könne ich ihn nicht aufnehmen, ich kenne ihn doch. | |
## Karim macht Pläne | |
Diese Geschichte geht einfach immer weiter. Nochmals überschlage ich die | |
Möglichkeiten. Ich habe ein Zimmer frei, seit mein Sohn auf seiner | |
Nach-Abitur-Reise ist. Allerdings wäre das keine Entscheidung für zwei | |
Monate, sondern für zwei, drei oder fünf Jahre. Karim ist ein erwachsenes | |
Kind, das nicht auszieht. Es geht nicht mehr. | |
Als ich im Juni diese WhatsApp-Nachricht bekomme, wundere ich mich: „Ich | |
bin sehr glücklich. Heute habe ich meine neue Wohnung erhalten. Ich wohne | |
jetzt alleine.“ Ein Freund hat ihm geholfen. | |
Eine angebrochene Packung Leibniz-Kekse wartet wieder auf dem kleinen | |
Wohnzimmertisch, als ich Karim besuche. Er bietet Fruchtsaft an. | |
„Wie findest du die Wohnung?“, fragt er. | |
Es ist hell und aufgeräumt. Die Möbel sind schlicht, aber komplett. Am | |
offenen Fenster trocknet ein T-Shirt, an der Wand daneben hängt ein Foto | |
von meiner Ex-Frau. Der Blick geht hinaus in einen Innenhof mit Rasen, | |
Bäumen und Sträuchern. | |
„Die Nachbarn sind nett“, sagt Karim, „alles Deutsche.“ | |
„Wie viel kostet ein Netflix-Abo?“, will er wissen. | |
„Ich habe auch eine Wasserpfeife gekauft.“ Die steht in der Küche auf dem | |
Regal. | |
Er richtet sich ein, denke ich, er kommt an. | |
Und er macht Pläne. Er will Fitnesstrainer werden oder als Verkäufer bei | |
Zara am Ku’damm arbeiten. | |
Nachdem er dem Jobcenter seine neue Adresse mitgeteilt hat, wartet er auf | |
einen Beratungstermin und den Start des neuen Sprachkurses. Was daraus | |
wird? Vielleicht ist es eine Phase – Glück, auf das wieder Unglück folgt. | |
Vielleicht jedoch hat er den Schalter umgelegt. | |
„Ich habe nicht aufgegeben“, sagt Karim, ballt die rechte Faust und spannt | |
seinen Bizeps an. | |
„Tschüssi“, grüßt er echt berlinerisch, als er mich zur Tür begleitet. | |
21 Jul 2019 | |
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[1] /Unter-einem-Dach-mit-einem-Fluechtling/!5409436 | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
Elke Breitenbach | |
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