# taz.de -- Praktische Solidarität mit Rojava: Kreuzberger Weltpolitik | |
> Das nordsyrische Dêrik besiegelt die Städtepartnerschaft mit | |
> Friedrichshain-Kreuzberg. Gemeinsam ist ihnen die Integration von | |
> Geflüchteten. | |
Bild: Malki (in gelb), Köckenberger (in hellblau), Hemo (kariert), Çeto (mit … | |
Das ist meine Tochter!“, ruft eine nach Berlin geflüchtete Mutter mit Stolz | |
in der Stimme, als die „Fraktion Schwimmer mit Trampolin“ ins | |
Scheinwerferlicht der Manege hüpft. Die Frau sitzt in der zweiten Reihe des | |
vollen Zirkuszeltes, schräg hinter Integrationssenatorin Elke Breitenbach | |
(Die Linke) und den Ehrengästen, Rojîn Çeto, Feremez Hemo und Nahrin Malki, | |
alle drei Bürgermeister*innen in Dêrik, Kreuzbergs neuer Partnerstadt im | |
autonomen nordsyrischen Rojava. | |
Im [1][Kinderzirkus Cabuwazi] am Tempelhofer Feld fand am vergangenen | |
Sonntag zum dritten Mal das „Festival der Bewegungsfreiheit“ statt. | |
Geflüchtete und in Berlin geborene Kinder und Jugendliche zeigten, was sie | |
bei Cabuwazi gelernt haben. Manchem Kind ist der Krieg tatsächlich als | |
Narbe ins Gesicht geschrieben, doch an diesem Tag wird gefeiert, und das | |
Selbstbewusstsein der kleinen Artist*innen, die in Fraktionen gruppiert im | |
„Parlament des Kinderlands der Freiheit“ auftreten, macht staunen. Neben | |
der Trampolinfraktion tritt auch „Zuckerwatte mit Tanz“ und „Kill the | |
plastic“ im Zirkusparlament an. | |
Bürgermeisterin Rojîn Çeto zeigt sich nach der Aufführung der taz gegenüber | |
begeistert: „Wir haben in unserer Region zwar Kulturzentren, wo Kinder und | |
Erwachsene Tanz, Musik, Theater lernen können, aber Zirkus gibt es bei uns | |
nicht, das interessiert mich sehr, besonders für die geflüchteten Kinder“, | |
wird sie aus dem Kurdischen übersetzt. Und zu Senatorin Breitenbach gewandt | |
sagt die Lokalpolitikerin: „Vielen Dank, dass wir hier sein dürfen. Wie | |
Berlin haben auch wir in Dêrik viele Flüchtlinge aus Homs, Damaskus und | |
Afrin aufgenommen. Darüber möchte ich gerne mit Ihnen sprechen“. | |
Vor der Aufführung hatte Breitenbach den Gästen aus Rojava bereits die | |
Situation im Tempelhofer Flughafenhangar nebenan erklärt: „Jahrelang | |
mussten dort Flüchtlinge leben ohne wirkliche Privatsphäre. Wir tun alles, | |
dass sie möglichst schnell arbeiten können und ein normales Leben haben“, | |
so die Integrationssenatorin zu Çeto, Hemo und Malki. | |
## „Man muss etwas tun“ | |
Hans-Günter Kleff kennt die drei nordsyrischen Lokalpolitiker*innen schon | |
aus Dêrik bzw. al-Malikia, wie die Stadt auf Arabisch heißt. Der | |
Politikwissenschaftler hat gemeinsam mit der Bezirksverordneten Elke | |
Dangeleit (Die Linke) die Städtepartnerschaft zwischen dem Bezirk | |
Friedrichshain-Kreuzberg und Dêrik auf den Weg gebracht und war im Oktober | |
2018 bei der ersten Delegationsreise nach Rojava dabei. Jetzt im Juni 2019 | |
beim Gegenbesuch der Bürgermeister*innen in Berlin wurde die Partnerschaft | |
im Kreuzberger Rathaus offiziell durch Bezirksbürgermeisterin Monika | |
Herrmann beurkundet. | |
„Am Anfang stand das Gefühl, dass man was tun muss für die Leute, die aus | |
eigener Kraft in ihrer Region den IS besiegt haben und jetzt Tausende | |
gefangene Islamisten mitversorgen müssen“, erklärt Kleff der taz auf dem | |
Cabuwazi-Gelände. „In unserem [2][Förderverein] haben sich dann Menschen | |
aus einem breiten Spektrum zusammengetan: Lehrer, Menschen aus | |
Kirchengemeinden und auch ein Buchladen setzten sich da für | |
Partnerschaftsprojekte ein“, so der Kreuzberger. Die Bezirkspolitik habe | |
die Kooperationen schließlich amtlich gemacht. | |
„Zu Beginn hat es im Bezirksparlament und bei der Bürgermeisterin schon | |
Bedenken gegeben, eine Partnerschaft in der autonomen Demokratischen | |
Föderation Nordsyrien zu beschließen, weil die Verwaltung dort | |
völkerrechtlich nicht anerkannt ist“ sagt Dangeleit am Sonntag der taz. | |
„Unser Verein besteht ja eher aus bürgerlichen Menschen. Wir konnten | |
zeigen, dass es mehr um praktische Solidarität mit den Flüchtlingen und der | |
Stadtgesellschaft in Dêrik geht, als um ideologische Fragen. Schließlich | |
haben fast alle im Bezirksparlament, sogar FDPler und ein CDUler für die | |
Partnerschaft gestimmt.“ | |
Es sei richtig, dass sich in Nordsyrien Kurd*innen und christliche | |
Aramäer*innen zur Selbstverteidigung gegen al-Nusra und IS von der in | |
Deutschland als Terrororganisation verbotenen PKK haben ausbilden lassen, | |
das autonome nordsyrische System sei keineswegs mit der Kurdenpartei | |
gleichzusetzen, so die Bezirksverordnete. | |
## Demokratie, Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit | |
Sowohl Dangeleit als auch der Politikwissenschaftler Kleff heben die | |
Bedeutung von Demokratie, Ökologie und Geschlechtergerechtigkeit im | |
politischen System Rojavas hervor. Bürgermeisterin Rojîn Çeto und ihre | |
Stellvertreterin Nahrin Malki, die der aramäisch sprechenden, christlichen | |
Bevölkerung Nordsyriens angehöre, seien gute Beispiele für die Parität, die | |
in Bezug auf Geschlecht und Ethnie auf allen politischen Ebenen der | |
Demokratischen Föderation Nordsyrien gelte. | |
Rojîn Çetos Interesse an einem integrativen Zirkusprojekt in Dêrik stößt | |
bei Karl Köckenberger auf offene Ohren. Der Gründer und Geschäftsführer von | |
Cabuwazi hatte die Bürgermeister*innen eingeladen und will mit einer Gruppe | |
von Cabuwazi-Erfahrenen Dêrik besuchen und dort Interessierte in | |
interkultureller Zirkusarbeit schulen. Das sagt er am Ende des Besuches in | |
einem Gespräch auf bunten Stühlen im Zirkushof. | |
Am Donnerstagabend reisten Rojîn Çeto, Feremez Hemo und Nahrin Malkidie | |
zurück nach Rojava. Den Tag zuvor hatten sie noch Vertreter*innen anderer | |
Städtepartnerschaften Friedrichshain-Kreuzbergs getroffen. | |
Der Bezirk unterhält zehn weitere dieser – vor allem zivilgesellschaftlich | |
getragenen – Kooperationen. Die Anfänge der einzelnen Kooperationen | |
spiegeln die Konflikte des 20. Jahrhunderts: Im Kalten Krieg der 60er | |
wurden Partnerschaften mit westdeutschen Städten vereinbart, 1986 kam San | |
Rafael del Sur in Nicaragua dazu. In den 90er dann nicht nur das polnische | |
Stettin und das türkische Kadıköy, sondern auch Kiryat Yam in Israel. | |
Im achten Jahr des syrischen Bürgerkriegs setzt Friedrichshain-Kreuzberg | |
nun wieder auf Lokalpolitik, um den Bürger*innen praktische Solidarität zu | |
ermöglichen, „diametral zur Syrienpolitik der Bundesregierung“, so | |
Dangeleit. | |
21 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://cabuwazi.de/ | |
[2] https://staepa-derik.org/ | |
## AUTOREN | |
Stefan Hunglinger | |
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