Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kindeswohl bleibt auf der…
> Monatelang ohne Schule, kaum Betreuung, zu wenig Essen: Experten
> kritisieren mangelhafte Versorgung unbegleiteter minderjähriger
> Geflüchteter.
Bild: Minderjährige Geflüchtete ohne Eltern brauchen viel Zuwendung und Hilfe…
Berlin taz | Die dramatische Situation bei der Unterbringung von
Geflüchteten ist bekannt. Kaum gesprochen wird jedoch über die großen
Probleme bei der Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen.
Auch von ihnen kommen in den letzten Monaten immer mehr – und es gibt zu
wenige Plätze im sogenannten Clearing-Verfahren. Die Folge: Die
Jugendlichen, zumeist Jungen zwischen 15 und 17 Jahre alt, die ihre Eltern
seit Monaten, manchmal Jahren nicht gesehen haben, müssen wochenlang
unzureichend betreut und teilweise in Großunterkünften auf ihr Erstgespräch
warten. Bis sie einen Schulplatz und einen Vormund bekommen, kann es sechs
Monate dauern.
Daher schlagen Fachleute Alarm: Der Bundesverband unbegleitete
minderjährige Flüchtlinge (BumF), das Beratungs- und Betreuungszentrum für
junge Geflüchtete und Migrant*innen (BBZ), der Flüchtlingsrat und Moabit
hilft sehen in den Zuständen eine klare Gefährdung des Kindeswohls und
Diskriminierung. „Wenn deutsche Kinder in eine Kriseneinrichtung kommen,
weil sie nicht mehr bei ihren Eltern bleiben können, würden sie niemals mit
weiteren Hunderten Kinder mehr schlecht als recht betreut und noch dazu
monatelang ohne Schulplatz bleiben. Das hat mit den gesetzlichen Vorgaben
der Jugendhilfe und des Berliner Schulgesetzes nichts zu tun“, sagt Daniel
Jasch, Berater beim BBZ.
Helen Sundermeyer vom BumF stimmt zu und betont: „Die ersten Monate sind
entscheidend für ein gelungenes Ankommen in Berlin. Wenn es hier wie
derzeit zu Vernachlässigung und unzureichender Betreuung kommt, hat das
fatale Folgen für die spätere Erreichbarkeit der Kinder und Jugendlichen
für Maßnahmen der Jugendhilfe.“ Es werde für sie viel schwieriger,
Vertrauen zu einer neuen Bezugsperson aufzubauen und Erfolge in Schule und
Ausbildung zu erzielen. Oder wie Jasch sagt: „Erst lässt man die Kinder
verwahrlosen – und hinterher heißt es, sie wollten sich nicht integrieren.“
Wie schlecht es manchen der Jugendlichen geht, schildert Christiane
Beckmann von Moabit hilft. Hellhörig sei sie geworden, als vor einigen
Wochen immer wieder Jugendliche in die Kleiderkammer ihrer
Hilfsorganisation gekommen seien, um sich mit dem Nötigsten zu versorgen.
Sie seien alle unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) aus einer
Großunterkunft in Lichtenberg gewesen. „Viele hatten Krätze“, erzählt si…
„Einer sagte, er habe zwei Wochen ohne Decke und Kopfkissen schlafen
müssen.“ Und alle – mit rund 80 Jugendlichen habe Beckmann gesprochen –
hätten über sehr schlechtes und zu wenig Essen geklagt. Beckmann, sagt, sie
habe von den Kindern Fotos und Proben des Essens bekommen, die dies
bestätigten: „Kinder und Jugendliche gehen hungrig schlafen!“
## „Keine Ahnung von Jugendhilfe“
Ihre Kollegin Diana Henniges betont, die Probleme beschränkten sich nicht
nur auf diese Einrichtung. „Bei uns melden sich immer wieder Unterkünfte,
weil sie Kleidung und Möbel brauchen!“ Die Jugendlichen seien über Wochen
ohne Beschäftigung, allenfalls gebe es etwas „Deutschunterricht am
Küchentisch“. Zudem seien die Sozialarbeiter der Einrichtungen oft
fachfremd: „Wir müssen denen erklären, wo es welche Leistungen gibt“, sagt
Henniges. Auch Jasch weiß aus seinem Beratungsgesprächen: „Viele Träger
haben keine Ahnung von Jugendhilfe oder vom Asylsystem“ – und seien
entsprechend keine wirkliche Hilfe für die Jugendlichen.
Die Sprecherin von Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD), Susanne
Gonswa, gibt auf Anfrage zu, dass es in einer Einrichtung zu „vermehrten
Beschwerden über die Essensauswahl“ gekommen sei. Man habe hier
„Anpassungen vorgenommen, zum Beispiel mehr Obst angeboten“. Zudem habe man
ein „eigenes Qualitätsmanagement eingerichtet, das sich sofort um
Beschwerden und mögliche Missstände kümmert“. Zur Kritik erklärt sie, alle
Jugendlichen würden „24/7 fachlich betreut“ von Trägern der Jugendhilfe.
Zum Personal der Einrichtungen gehörten „vorwiegend Sozialarbeiter und
Erzieher“, finanziert würden 4,5 Vollzeitstellen auf 10 UMF.
Das klingt viel – doch damit ist nicht gesagt, dass dieses Personal
tatsächlich vorhanden ist. „Je nach Belegung muss der Träger das Personal
entsprechend aufstocken“, erklärt Gonswa dazu vage. Henniges sagt, sie habe
nicht den Eindruck, dass der Personalschlüssel eingehalten werde. „Das sind
geschönte Zahlen. Es ist quasi unmöglich, auf dem leer gefegten Markt noch
Fachpersonal zu finden, das sich zudem mit Migration und Jugendhilfe
auskennt.“
Gonswa dagegen nennt die „derzeitige Unterbringungssituation angespannt,
aber (…) händelbar“. Seit Januar habe man 2.749 junge Geflüchtete
untergebracht, 2021 seien es 699 gewesen. Die Plätze für
Erstaufnahmegespräche und das anschließende Clearing habe man seit dem
Ukrainekrieg von rund 100 auf 966 verzehnfacht. Doch weil derzeit täglich
etwa 11 UMF in Berlin ankämen, brauche man wöchentlich rund 70 neue
„temporäre Plätze“ in Hostels und dergleichen, wo die Jugendlichen 8 bis …
Wochen auf ihr „Erstaufnahmegespräch“ warten müssen.
## Aus der letzten Krise nichts gelernt
Während es der Senat – bei den UMF wie bei den erwachsenen Flüchtlingen –
also insgesamt so darstellt, als müsse man angesichts der hohen
Zugangszahlen froh sein, Obdachlosigkeit verhindern zu können, betonen die
Flüchtlingsorganisationen die gesetzlichen Standards, hier: der
Jugendhilfe.
Und sie verweisen darauf, dass das Problem vermeidbar gewesen wäre, hätte
man nach der der letzten „Unterbringungskrise“ 2015/16 nicht die
Hilfsstrukturen abgebaut. Damals wurde eigens die ehemalige SPD-Senatorin
Ingeborg Junge-Reyer aus dem Ruhestand geholt, um mehr Plätze für UMF zu
schaffen, weil das System kollabiert war. „Aber 2017 wurde die
Clearing-Stelle zurückgefahren, alteingesessene Träger mussten Personal
entlassen, Wohngruppen wurden geschlossen“, kritisiert Nora Brezger vom
Flüchtlingsrat. Nun brauche man all dies wieder. „Der Senat muss raus aus
diesem Katastrophenmodus“, sagt sie daher. „Wenn man das Kindeswohl ernst
nimmt, muss man Strukturen und Reserven haben.“
In der Bildungsverwaltung hält man das für unmöglich. „Ein System
vorzuhalten, das 10-mal größer ist als das System, welches wir hatten, wäre
in Zeiten, in denen nur wenige Personen in Berlin ankamen, finanziell nicht
durchsetzbar gewesen“, erwidert Gonswa.
Die Organisationen fordern einen ressortübergreifenden „Krisenstab
Kindeswohl“. Der müsse eine öffentlichkeitswirksame Akquise von Trägern
machen, die sich qualifiziert um die Jugendlichen kümmern, sagt Brezger:
„Wir brauchen Fachkräfte, die besser bezahlt werden – und aktuell auch viel
Qualifizierung von Fachfremden.“ Der Krisenstab müsse ein Konzept
entwickeln, wie man langfristig Einrichtungen erhalten und Trägern
Sicherheit geben kann. Damit sich das Problem nicht bei jeder Krise
wiederhole.
29 Nov 2022
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Schwerpunkt Flucht
Flucht
GNS
Geflüchtete
Minderjährige Geflüchtete
Berlin
Wochenvorschau
Flüchtlinge
Schwerpunkt Flucht
Unicef
Geflüchtete
Minderjährige Geflüchtete
Schwerpunkt Flucht
Ukraine
Laptop
Schwerpunkt Flucht
Einwanderung
Altersfeststellung
Lesestück Recherche und Reportage
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wochenvorschau für Berlin: Von Erwachsenen und Kindern
Der Girls' Day haben Mädchen (und Jungen) mal wieder Gelegenheit in
abseitige Berufe reinzuschnuppern. Und es gibt noch mehr für Kinder diese
Woche.
Unterbringung von Flüchtlingen in Berlin: Heime machen kränker
Geflüchtete mit schweren Krankheiten werden in Berlin nur unzureichend
versorgt, kritisieren Experten. Die Sozialverwaltung weiß noch nicht recht.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kinderrechte für alle
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge warten in Berlin monatelang auf
einen Schulplatz. Auf einer Demo fordern sie die Einhaltung ihrer Rechte.
Unterbringung in Flüchtlingsheimen: Kindgerechte Orte fehlen
Geflüchtete Kinder leben in Unterkünften oft unter prekären Bedingungen.
Unicef und Menschenrechtler fordern die Politik zum schnellen Handeln auf.
Projekt für minderjährige Geflüchtete: Das Warten überbrücken
In den „Karussell-Lernwerkstätten“ bekommen Geflüchtete Unterstützung be…
Übergang in die Ausbildung. Die Mittel stammen aus dem Jugendgewaltgipfel.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Auf ein Abstellgleis gestellt
Bis zu sieben Monate müssen geflüchtete Kinder und Jugendliche auf ein
„Erstgespräch“ warten. Davor sind Asylantrag und Schulbesuch nicht möglic…
Versorgung von Geflüchteten: Ein Amt ist verzweifelt
Die Versorgung von Geflüchteten mit Unterkünften wird immer schwieriger.
Die Hangars in Tempelhof werden ab Freitag wieder Notunterkunft.
Pflegekinder aus der Ukraine: Große Hilfsbereitschaft
Ein Suchaufruf nach Pflegeeltern für 50 Waisenkindern aus der Ukraine
entpuppt sich als Missverständnis. Aber die Resonanz darauf war enorm.
Geflüchtete in der Pandemie: Laptops gibt’s später
Während des Distanzunterrichts waren geflüchtete Schüler*innen auf
Laptops angewiesen – diese fehlten oft. Auch die psychische Belastung ist
hoch.
Vermisste Flüchtlingskinder in Berlin: Wenn Kinder verschwinden
Vermisste unbegleitete Flüchtlingskinder haben für die Polizei offenbar
nicht die Priorität, die sie haben sollten, legt eine Linken-Anfrage nahe.
Flüchtlingspolitik in Berlin: Doch nicht so willkommen
Berlin will mehr minderjährige Flüchtlinge aufnehmen. Aber jene, die schon
hier sind, würden unnötig hart behandelt, klagen Flüchtlingsorganisationen.
Bremen weitet Altersfeststellung aus: Mehr verstrahlte Jugendliche
Dreifach verstrahlt: Bremen will mehr Röntgen für die Altersschätzung
junger Geflüchteter. Ärzt*innen kritisieren das als Gesundheitsrisiko.
Flüchtling in Pflegefamilie: Der fremde Sohn
Im Februar 2016 nimmt die Familie Bernhardt Juody bei sich auf, einen
minderjährigen syrischen Flüchtling. Unsere Autorin hat die Familie seitdem
begleitet.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.