| # taz.de -- Flüchtlingspolitik in Berlin: Doch nicht so willkommen | |
| > Berlin will mehr minderjährige Flüchtlinge aufnehmen. Aber jene, die | |
| > schon hier sind, würden unnötig hart behandelt, klagen | |
| > Flüchtlingsorganisationen. | |
| Bild: Der neue Name soll „Willkommenskultur“ signalisieren: das Landesamt f… | |
| Berlin taz | Betreibt Rot-Rot-Grün eine scheinheilige Flüchtlingspolitik? | |
| Diesen Vorwurf erheben in diesem Bereich tätige Organisationen gegen die | |
| Landesregierung. Nach außen gebe man sich liberal, sagen sie mit Verweis | |
| auf die angekündigte Klage gegen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), | |
| weil dieser ein eigenes Landesaufnahmeprogramm für Geflüchtete aus den | |
| griechischen Elendslagern nicht erlauben will. | |
| Gleichzeitig würde aber das Landesamt für Einwanderung – als solches | |
| firmiert [1][seit knapp einem Jahr die alte Ausländerbehörde, um die neue | |
| „Willkommenskultur“ zu unterstreichen] – unbegleiteten minderjährigen | |
| Flüchtlingen, die bereits hier sind, mit Abschiebung drohen. Zudem würden | |
| sie beim Erstgespräch wie verdächtige Erwachsene in die Mangel genommen. | |
| Aktueller Aufhänger für den nicht ganz neuen Vorwurf ist der Fall eines | |
| Neunjährigen aus Afghanistan. Der Junge kam über ein Aufnahmeprogramm des | |
| Bundes für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Anfang Mai aus dem Lager | |
| Moria nach Berlin. Nun hat er beziehungsweise sein Vormund vom Landesamt | |
| für Einwanderung (LEA) eine „Ausreiseaufforderung mit | |
| Abschiebungsandrohung“ bekommen. | |
| „Wenn er nicht bis zum 14.12.2020 freiwillig ausgereist“ sei, werde man | |
| seine Ausreise „zwangsweise durchsetzen“, sei ihm mitgeteilt worden. So | |
| schildern es der Flüchtlingsrat, der Bundesfachverband unbegleitete | |
| minderjährige Flüchtlinge (BumF), das Beratungs- und Betreuungszentrum für | |
| junge Geflüchtete und Migrant*innen (BBZ) und weitere Vereine [2][in einer | |
| gemeinsamen Presseerklärung]. | |
| Solche Briefe seien „leider“ alltägliche Praxis, so die Organisationen. �… | |
| unsere Beratung kommen deswegen ständig verunsicherte Vormunde und | |
| verängstigte Jugendliche“, sagte Daniel Jasch vom BBZ auf taz-Nachfrage. | |
| Diese Briefe signalisierten natürlich, dass man nicht willkommen sei – im | |
| Gegenteil. „Besonders befremdlich ist das, wenn man kurz zuvor extra für | |
| ein Bundesprogramm ausgewählt wurde.“ | |
| Der Sprecher der fürs LEA zuständigen Innenverwaltung kann die Aufregung | |
| nicht verstehen. „Es ist völlig klar, dass wir keine neunjährigen Kinder | |
| nach Afghanistan abschieben. Wir schieben überhaupt nicht nach Afghanistan | |
| ab“, so Martin Pallgen. In dem Brief habe zudem gestanden, dass das | |
| betreffende „Kind eine Duldung besitzt, eine Abschiebung allein schon aus | |
| diesem Grund nicht Frage kommt“. Das LEA sei jedoch laut Aufenthaltsgesetz | |
| verpflichtet, eine solche „Ausreiseaufforderung mit Abschiebeandrohung“ zu | |
| erlassen, wenn der Vormund – wie im aktuellen Fall – keinen Asylantrag | |
| gestellt habe. | |
| ## Rechtlicher Spielraum | |
| Die Flüchtlingshelfer sagen dagegen, ein Asylantrag für einen | |
| Minderjährigen benötige eben Zeit. Vormund und Mündel müssten sich kennen | |
| lernen, ein Vertrauensverhältnis aufbauen, damit das Kind oder der | |
| Jugendliche sich öffnen und seine Fluchtgeschichte erzählen kann. Es | |
| müssten Unterlagen und Atteste, etwa über Traumatisierungen, besorgt | |
| werden. Zudem, so Nora Brezger vom Flüchtlingsrat, sei es nicht wahr, dass | |
| „für Inhaber einer Duldung eine Abschiebung per se nicht in Frage käme“. | |
| Vor allem aber bestreiten die Organisationen, dass das LEA rechtlich | |
| gezwungen ist, solche Briefe zu schreiben. „Andere Ausländerbehörden machen | |
| das nicht“, erwidert Jasch. „Das Amt hat einen rechtlichen Spielraum“, sa… | |
| auch Ronald Reimann von Xenion, einem Verein, der Einzelvormundschaften für | |
| Geflüchtete organisiert. Es könne „kindgerecht“ auf die Abschiebeandrohung | |
| verzichten und „erst einmal nur dulden, bis alles weitere geklärt ist“. | |
| Zumal die Hürden für die tatsächliche Durchführung einer Abschiebung von | |
| unbegleiteten Minderjährigen (UMF) – nicht nur nach Afghanistan, wohin | |
| Berlin derzeit nur Straftäter abschiebt – sehr hoch sind. So muss die | |
| abschiebende Behörde sicher stellen, dass der UMF am Zielflughafen von den | |
| Eltern oder Vertretern einer Jugendhilfeeinrichtung in Empfang genommen | |
| wird. | |
| Da dies eigentlich nie garantiert sei, würden de facto keine UMF | |
| abgeschoben, so Jasch. Wenn aber gleichzeitig den Jugendlichen und ihren | |
| Vormündern genau damit gedroht werde, zeige dies, „dass statt auf | |
| Integration und Einwanderung weiterhin auf Druck und Abschreckung gesetzt | |
| wird“, so Brezger. | |
| Ein weiteres Indiz dafür sehen die Organisationen in der Behandlung, die | |
| neu eingereisten UMF beim Erstgespräch im Landesamt zuteil wird. Laut Jasch | |
| werden die Jugendlichen dort von den „auf Gefahrenabwehr spezialisierten“ | |
| MitarbeiterInnen der Abteilung für illegale Einreise und Rückführungen | |
| vernommen – und zwar ohne, dass ein gesetzlicher Vertreter anwesend sei. | |
| Dieser sei zu dem Zeitpunkt in der Regel ja noch gar nicht benannt. | |
| Die Jugendlichen würden erkennungsdienstlich behandelt, zu ihrem Fluchtweg | |
| befragt und auf diverse Strafvorschriften hingewiesen. Sie müssten den | |
| Empfang von umfangreichen Belehrungen zur Ausreisepflicht und | |
| Passbeschaffung quittieren. | |
| ## Zahlreiche Beschwerden | |
| Sie bekämen zahlreiche Beschwerden von Jugendlichen über ihre Behandlung | |
| bei der Erstbefragung, so Jasch. Auch Reimann erzählt von Jugendlichen, die | |
| „offenbar genötigt wurden“ Papiere zu unterschrieben, etwa dass sie über | |
| ihre Rechte belehrt worden seien oder dass sie gewillt seien einen | |
| Asylantrag zu stellen. Nach seiner Erfahrung bekämen alle UMF, die | |
| letzteres nicht unterschreiben, später den fraglichen Brief mit der | |
| „Ausreiseaufforderung“. | |
| Auf diese Praxis angesprochen sagte der Sprecher der Innenverwaltung, | |
| Neunjährige würden nicht erkennungsdienstlich behandelt – was die | |
| Organisationen gar nicht behauptet hatten. Bislang ist dies erst ab 14 | |
| Jahren zulässig, wobei Brezger darauf hinweist, dass ab April kommenden | |
| Jahres tatsächlich schon von Kindern ab 6 Jahren Fingerabdrücke genommen | |
| werden dürfen. | |
| Zu den anderen Vorwürfen erklärte Sprecher Pallgen allgemein, es würden | |
| „keine Vorsprachen ohne die Einbindung eines Vormunds oder einer anderen | |
| zur gesetzlichen Vertretung bestimmten Person erfolgen“. Dies steht im | |
| Widerspruch zu den obigen Schilderungen der Flüchtlingshelfer. | |
| Sie fordern vom Senat und insbesondere von Innensenator Andreas Geisel | |
| (SPD) dafür zu sorgen, dass das LEA seine Praxis im Umgang mit | |
| unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ändert. Jasch: „Das Kindeswohl | |
| muss in jedem Fall über ausländerrechtlichen Belangen stehen.“ | |
| 3 Dec 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Berlin-hat-jetzt-ein-Einwanderungsamt/!5654264 | |
| [2] https://fluechtlingsrat-berlin.de/presseerklaerung/01-12-2020-ausreiseauffo… | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
| ## TAGS | |
| Einwanderung | |
| Minderjährige Geflüchtete | |
| Migration | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Minderjährige Geflüchtete | |
| Libanon | |
| Abschiebung | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| Integrationspolitik | |
| Moria | |
| Moria | |
| Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin | |
| Lesestück Interview | |
| Schwerpunkt Flucht | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kinderrechte für alle | |
| Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge warten in Berlin monatelang auf | |
| einen Schulplatz. Auf einer Demo fordern sie die Einhaltung ihrer Rechte. | |
| Berliner Flüchtlingspolitik: Sichere Fluchtwege blockiert | |
| Berlin unter R2G hat viel über Landesprogramme zur Aufnahme Geflüchteter | |
| geredet – passiert ist wenig. Wegen der SPD, sagen Linke und Grüne. | |
| Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Kindeswohl bleibt auf der Strecke | |
| Monatelang ohne Schule, kaum Betreuung, zu wenig Essen: Experten | |
| kritisieren mangelhafte Versorgung unbegleiteter minderjähriger | |
| Geflüchteter. | |
| Syrische Geflüchtete in Berlin: Unnötiges Zögern | |
| Der Senat soll die beschlossene Aufnahme von syrischen Geflüchteten endlich | |
| umsetzen, fordern Initiativen. Die Situation vor Ort sei untragbar. | |
| Drohende Abschiebung nach Afghanistan: Kritik an Berlins Innensenator | |
| Erneut soll am ein Mann aus Berlin nach Afghanistan abgeschoben werden. | |
| Flüchtlingsrat und Sozialdemokrat*innen fordern einen Abschiebestopp | |
| dorthin. | |
| Bürokratische Flüchtlingspolitik: Auserwählt, aber nur geduldet | |
| Wer über ein Bundesaufnahmeprogramm als Flüchtling nach Berlin kommt, ist | |
| noch lange nicht in Sicherheit. Denn das muss auch das Land wollen. | |
| Studie zu Einwanderung nach Deutschland: Kein Integrationsweltmeister | |
| Deutschland macht in der Integrationspolitik laut einer neuen Studie kaum | |
| Fortschritte. Es fehlen vor allem Bleibeperspektiven. | |
| Senat will Innenminister verklagen: Berlin will grundsätzliche Klärung | |
| Horst Seehofer verweigert dem Land Berlin seine Zustimmung zur Aufnahme von | |
| mehr Flüchtlingen. Seebrücke und Anwälte begrüßen eine Klage dagegen. | |
| Berlin will Bund-Länder-Gipfel zu Moria: „Nein“ ist keine Antwort | |
| Berlins Innensenator will mit Bundesratsinitative und Krisengipfel den | |
| Druck auf den Bund erhöhen, mehr Menschen aus Moria aufzunehmen. | |
| Nach dem Brand in Moria: Berlin muss jetzt handeln | |
| Bei Seehofer auf eine humanitäre Erleuchtung zu warten, ist sinnlos. Länder | |
| wie Berlin müssen jetzt sofort mit allen erdenklichen Mitteln handeln. | |
| Berlin hat jetzt ein Einwanderungsamt: „Der Name macht einen Unterschied“ | |
| Berlins Ausländerbehörde heißt nun Landesamt für Einwanderung – Engelhard | |
| Mazanke ist und bleibt dort Chef. Und erklärt, was künftig anders wird. | |
| Ausländerbehörde wird Einwanderungsamt: Weniger Abschiebungen | |
| 2019 weniger „Rückführungen“ als alle anderen Jahre unter R2G. Beim neuen | |
| Landesamt für Einwanderung ist der Name Programm, sagt der Behördenchef. |