# taz.de -- Berliner Flüchtlingspolitik: Sichere Fluchtwege blockiert | |
> Berlin unter R2G hat viel über Landesprogramme zur Aufnahme Geflüchteter | |
> geredet – passiert ist wenig. Wegen der SPD, sagen Linke und Grüne. | |
Bild: In einer Berliner Geflüchtetenunterkunft: Sichere Fluchtwege für Kinder… | |
Berlin taz | Berlin hätte in den vergangenen Jahren mehr Menschen aus | |
Krisenregionen freiwillig aufnehmen können – wenn nicht die SPD vieles | |
blockiert hätte. Das ist zusammengefasst die kritische Bilanz der | |
flüchtlingspolitischen Sprecher von Linken und Grünen in Sachen | |
Landesaufnahmeprogramme. „Schlussendlich haben wir seit 2021 nur 100 | |
Menschen pro Jahr über das Libanon-Programm aufgenommen. Das ist eine | |
erbärmliche Zahl angesichts der vielen Millionen Flüchtlinge weltweit“, | |
sagt Jian Omar von den Grünen der taz. Seine Kollegin Elif Eralp ergänzt: | |
„Ich bin froh, dass wir zahlreiche Menschen haben retten können, indem wir | |
ihnen einen sicheren Fluchtweg eröffnet haben. Aber da ist viel Luft nach | |
oben – und das lag an der SPD.“ | |
Landesaufnahmeprogramme sind ein guter Indikator für die Bereitschaft einer | |
Regierung, sich aktiv für bedrohte Menschen in Krisenregionen einzusetzen. | |
Sie ermöglichen Menschen eine sichere, da legale Einreise – denn sie sind | |
anders als die Aufnahme von Asylbewerber*innen freiwillig. In Berlin | |
gibt es seit 2013 ein Landesprogramm, mit dem in Berlin lebende SyrerInnen | |
auf eigene Kosten Verwandte nachholen können. Die rot-grün-rote Koalition | |
weitete das Programm 2017 auf irakische Flüchtlinge aus, seit Anfang diesen | |
Jahres gilt es auch für AfghanInnen. | |
Zudem beschloss das Abgeordnetenhaus Ende 2018 ein Landesaufnahmeprogramm | |
für besonders schutzbedürftige SyrerInnen, die in libanesischen | |
Flüchtlingslagern gestrandet sind. Die ersten 100 Menschen kamen darüber | |
allerdings erst Ende 2021 nach Berlin, weil die Innenverwaltung die Sache | |
immer wieder in Frage stellte: die Zielgruppe, die Zahl der Aufzunehmenden | |
und die Frage, wie die Auswahl getroffen wird – [1][das regte Grüne und | |
Linke schon damals auf]. Voriges Jahr kamen über das Programm dann noch | |
einmal 100. [2][Letzten Herbst einigte sich die Koalition nach langem | |
Gefeilsche], bei dem wieder die Innenverwaltung bremste, das Programm auf | |
300 Menschen in diesem Jahr zu erhöhen – obwohl im Haushalt bereits Geld | |
für 500 Menschen pro Jahr eingerechnet war und Linke wie Grüne sich weit | |
mehr erhofft hatten. | |
„Ob auch im nächsten Jahr wieder 300 Menschen kommen können, ist angesichts | |
des Regierungswechsels zweifelhaft“, meint Omar. Die SPD-geführte | |
Innenverwaltung sei eigentlich dagegen gewesen, die Zahl der Aufzunehmenden | |
zu erhöhen. „Konservative Kräfte wie Innensenatorin Spranger betrachten | |
unsere humanitären Aufnahmeprogramme hauptsächlich mit der | |
Sicherheitsbrille statt aus der Perspektive der humanitären Verantwortung“, | |
sagt er. Dies sei jedoch unangemessen, schließlich würden die Menschen, die | |
über ein Landesprogramm einreisen dürfen, sorgfältig geprüft – zuerst vom | |
internationalen Flüchtlingshilfswerk UNHCR und dann noch einmal von der | |
Berliner Polizei. „Es geht hier in erster Linie um besonders | |
schutzbedürftige Geflüchtete, wie alleinerziehende Frauen mit Kindern, | |
queere oder erkrankte Menschen“, sagt Omar. | |
## Viel Wind um nichts | |
Noch weniger effektiv waren die anderen Programme, um die führende | |
SPD-Landespolitiker wie Michael Müller und Andreas Geisel seinerzeit viel | |
Wind machten, um ihre humanitäre Einstellung zu betonen. So beschloss der | |
Senat 2020 ein Aufnahmeprogramm für Menschen, die im griechischen | |
Flüchtlingslager Moria festsaßen. Doch der damalige Bundesinnenminister | |
Horst Seehofer (CSU) verweigerte die Zustimmung, sodass das Programm nie | |
startete, denn auch eine Klage Berlins gegen Seehofer blieb erfolglos. | |
Auch ein weiteres Aufnahmeprogramm, Ende 2021 nach der Machtübernahme der | |
Taliban für Menschen aus Afghanistan aufgelegt, mit dem 500 Gefährdete nach | |
Berlin hätten kommen können, liegt nach wie vor dem BMI zur Prüfung vor. | |
Offenbar hat Seehofers Nachfolgerin Nancy Faeser (SPD) Abstimmungsbedarf, | |
weil auch der Bund ein Aufnahmeprogramm für Afghanistan hat. Allerdings ist | |
auch über dieses noch kein Mensch nach Berlin gekommen – und [3][kürzlich | |
wurde es vom Bund wieder gestoppt]. | |
Wirklich erfolgreich ist daher nur das Programm für Verwandtennachzug aus | |
Syrien, Irak und Afghanistan. Darüber konnten laut Innenverwaltung seit | |
2013 mehr als 3.000 Geflüchtete nach Berlin geholt werden. Auch diese Zahl | |
könnte deutlich höher sein, denn die Hürden für die Verwandten hier sind | |
hoch: Damit dem Land keine Kosten entstehen (außer für die | |
Krankenversicherung), müssen die hier Lebenden eine Verpflichtungserklärung | |
für fünf Jahre abgeben, also erklären, dass sie die Lebensunterhaltskosten | |
für ihren Nachzügler übernehmen. Um diese Erklärung überhaupt abgeben zu | |
können, muss man ein recht hohes Einkommen nachweisen. | |
Ein Mann etwa, der verheiratet ist, ein Kind hat und sich für eine Person | |
verpflichten möchte, müsste ein Nettoeinkommen von mindestens 3.240 Euro | |
vorweisen. Das geht aus einer Beispielrechnung der | |
Landeseinwanderungsbehörde in ihren Verfahrenshinweisen zum Aufenthalt in | |
Berlin (kurz VAB, Seite 24) hervor. „Das ist viel zu hoch, wenn man | |
überlegt, dass als Lebenshaltungskosten für eine geflüchtete Person rund | |
900 Euro insgesamt gerechnet werden“, kritisiert Omar. Es gebe viele | |
Geflüchtete, die ihre engen Verwandten aus der Kriegsregion nachholen | |
wollten und dafür eine Verpflichtungserklärung abgeben würden – dies aber | |
nicht können. „Manchmal fehlen ihnen nur 100 oder 200 Euro an Einkommen“, | |
sagt er. | |
## Einkommenshürden senken | |
Katrin Albrecht von Verein Flüchtlingspaten Syrien bestätigt dies. „Viele | |
scheitern nur knapp an den Vorgaben.“ Der Verein sammelt Spenden, um damit | |
den Lebensunterhalt von Geflüchteten für bis zu 5 Jahre zu bezahlen, die | |
auf diesem Weg nach Deutschland geholt werden – die Verpflichtungsgeber | |
müssen also den Lebensunterhalt gar nicht selbst bezahlen. Auf diese Art | |
habe der Verein seit seiner Gründung vor acht Jahren 300 Menschen über das | |
Landesprogramm nach Berlin holen können, sagt Albrecht. „Viele Familien | |
wenden sich an uns, weil sie alleine nicht genug Einkommen haben“, erzählt | |
sie. | |
Darum hatte Rot-Grün-Rot im Koalitionsvertrag vereinbart, die | |
Einkommenshürden für eine Bürgschaft zu senken. Nach monatelangen | |
Verhandlungen habe man sich Anfang 2023 darauf geeinigt, dass künftig bis | |
zu fünf Menschen gemeinsam eine solche Verpflichtung eingehen können, sagen | |
Omar und Eralp. Doch diese Erleichterung sei bis heute nicht in den | |
[4][aktuellen VAB] umgesetzt, [5][kritisierten die Initiativen Adopt a | |
Revolution und Seebrücke kürzlich in einem offenen Brief an Spranger]. | |
„Obwohl die Richtlinien der Regierungspolitik bereits seit 2021 die | |
Absenkung der Einkommenshürden vorsehen, soll diese weiterhin nur in | |
besonderen Härtefällen gelten.“ | |
Tatsächlich können sich nun laut VAB mehrere „Verpflichtungsnehmer | |
gemeinsam mit einem entsprechenden Anteil gesamtschuldnerisch | |
verpflichten“. Dies gilt allerdings nur „zur Vermeidung einer besonderen | |
Härte“. Anders sei dies nicht möglich, erklärt ein Sprecher der | |
Innenverwaltung auf taz-Anfrage: „Eine Herabsenkung der Einkommenshürden | |
über Härtefälle hinaus ist nicht realisierbar, da die Pfändungsfreigrenzen | |
bundeseinheitlich bestimmt sind.“ | |
Omar findet diese Erklärung nicht überzeugend. Wenn es rechtlich möglich | |
sei, die Einkommenshürden für Härtefälle abzusenken, könne dies nicht an | |
den bundeseinheitlichen Pfändungsfreigrenzen scheitern. Der Grüne hält die | |
Erklärung der Innenverwaltung für den „Versuch, sich aus dem vereinbarten | |
Ziel herauszureden und es nicht so umzusetzen, wie es vereinbart war. Sie | |
haben uns auf den Arm genommen“, ärgert er sich. | |
## Von Koalition enttäuscht | |
Und so ist Omar insgesamt von der Umsetzung der Landesprogramme von R2G | |
enttäuscht. „Wir mussten die ganze Zeit gegen eine SPD-geführte | |
Innenverwaltung arbeiten, die blockiert, wo es geht, die Barrieren aufbaut | |
und Bedenken hat.“ Auch Eralp hatte sich von R2G mehr erhofft. „Es stand | |
viel mehr im Koalitionsvertrag. Etwa auch, dass sich die Koalition für die | |
Aufnahme von Menschen von den EU-Außengrenzen einsetzt.“ | |
Dass Schwarz-Rot in dem Feld Nachholbedarf sieht, ist dem neuen | |
Koalitionsvertrag nicht zu entnehmen. Dort heißt es nur: „Berlin hat in den | |
letzten zwei Jahren einen überdurchschnittlichen Beitrag zur Bewältigung | |
des Fluchtgeschehens geleistet, das insbesondere durch den Krieg in der | |
Ukraine noch verstärkt worden ist.“ | |
3 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Berliner-Aufnahmeprogramm/!5785747 | |
[2] /Syrerinnen-in-Berlin/!5879614 | |
[3] /Flucht-aus-Afghanistan/!5924749 | |
[4] https://www.berlin.de/einwanderung/service/downloads/artikel.875097.php | |
[5] https://adoptrevolution.org/offener-brief-an-berlins-innensenatorin-iris-sp… | |
## AUTOREN | |
Susanne Memarnia | |
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