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# taz.de -- Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Auf ein Abstellgleis gest…
> Bis zu sieben Monate müssen geflüchtete Kinder und Jugendliche auf ein
> „Erstgespräch“ warten. Davor sind Asylantrag und Schulbesuch nicht
> möglich.
Bild: Graffiti statt Schule: Bewohner eines Heimes für minderjährige Geflüch…
Berlin taz | Das Wohnheim in Spandau ist eine Zuflucht. Aber es ist auch
ein Abstellgleis für Kinderflüchtlinge. „Wir haben dreimal am Tag gegessen.
Es gab Tischfußball und Sportangebote“, sagt der 16-jährige Drar Gebray
(Name geändert), ein ehemaliger Bewohner. „Sonst habe ich nur gewartet.“
Dem Heimpersonal will der junge Eritreer keinen Vorwurf machen. „Alle
Mitarbeiter waren freundlich. Aber ich konnte wegen Corona in Eritrea nur
vier Jahre zur Schule gehen. Ich wollte endlich lernen. Das ging nicht.“
Dass die Mitarbeiter ihn ein paar Mal zu Ausflügen eingeladen hatten, half
zwar gegen die Langeweile, aber es ersetzte keine Schule.
Drar Gebray ist ein sogenannter unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber,
also ein Jugendlicher, der ohne Eltern nach Berlin kam. Er war unter
Lebensgefahr aus Eritrea geflohen, hatte fast ein Jahr lang [1][die Hölle
von Libyen] durchlebt und auf dem Mittelmeer um sein Leben gebangt. Da fand
er es die ersten Tage angenehm, sich in Spandau mal richtig ausschlafen zu
können, regelmäßige Mahlzeiten zu haben und für ihn wichtig: duschen zu
können, wann immer er wollte. Doch irgendwann setzte die Langeweile ein. Er
wollte lernen.
## Für die Behörden nicht existent
685 unbegleitete minderjährige Asylbewerber hat Berlin wie Drar auf ein
Abstellgleis gestellt. Sechs bis sieben Monate warten sie in 17
verschiedenen Kinderheimen auf ihr sogenanntes Erstgespräch bei der
Senatsverwaltung für Jugend. Da schätzt ein Beamter, ob sie tatsächlich
jünger sind als 18 Jahre, ob das Jugendamt sie demzufolge in Obhut nehmen
und sie zur Schule schicken muss.
Während dieser Wartezeit können die minderjährigen Flüchtlinge keinen
Asylantrag stellen und werden gar nicht erst zur Schule angemeldet. Die
Anmeldung erfolge erst nach dem Erstgespräch, bestätigt Susanne Gonswa, die
Sprecherin von Jugendsenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) der taz.
Die Träger der Warteheime seien allerdings beauftragt, „Deutschkurse zu
organisieren“, sagt Gonswa. Wie die taz aus unterschiedlichen Quellen
erfuhr, reichen diese Kurse, die mit einem Schulbesuch nicht vergleichbar
sind, nicht für alle. Drar hatte keine Gelegenheit, Deutsch zu lernen.
Als Ausweis diente Drar ein A4-Blatt von einem freien Träger mit seinem
Passfoto und der Anschrift des Wohnheims. Für die Behörden existieren die
Jugendlichen noch gar nicht. Walid Chahrour vom Flüchtlingsrat sagt, dass
Berlin hier systematisch gegen die [2][UN-Kinderrechtskonvention] verstoße.
„Den Kindern wird das Recht auf Bildung, Gesundheit und rechtliche
Vertretung vorenthalten. Die Situation ist schlimmer als 2015.“
## Keine Krankenversicherung
3.209 unbegleitete minderjährige Asylbewerber sind im vergangenen Jahr neu
nach Berlin gekommen. Das ist nach Jahren, wo die Zahlen nur bei wenigen
Hundert lagen, [3][ein starker Anstieg] und nähert sich dem Niveau von 2015
an, wo mehr als 4.000 Jugendliche ohne Eltern nach Berlin flohen.
In diesem Jahr steigt die Zahl weiter an. Die wichtigsten Herkunftsländer
sind Afghanistan, Syrien, die Türkei und Somalia. Nicht mitgezählt sind
hier die allein geflohenen jugendlichen Ukrainer, die keinen Asylantrag zu
stellen brauchen, die aber ebenso in solchen Abstellgleisheimen geparkt
werden.
Wer auf ein Abstellgleis gestellt wird, hat keine Krankenversicherung. „Die
gesundheitliche Versorgung ist aber sichergestellt“, sagt Sprecherin
Susanne Gonswa. Drar bestätigt, dass eine Hauterkrankung von einem Arzt
behandelt wurde. Allerdings musste das Heimpersonal einen Arzt finden, der
das trotz fehlender Krankenversicherung tat.
Gonswa behauptet, die Neuankömmlinge würden innerhalb der ersten drei Tage
eine Masernschutzimpfung erhalten. So sähe es das Infektionsschutzgesetz
vor und so geschieht es auch im Ankunftszentrum für erwachsene Asylbewerber
in Reinickendorf. Drar hingegen dementiert, in dem Warteheim geimpft worden
zu sein. Sein Impfpass, den er der taz zeigt, bestätigt, dass die Impfung
erst nach Aufnahme in ein Folgeheim erfolgte. Auch die gesetzlich
vorgeschriebene Untersuchung auf Tuberkulose erfolgte in dem Warteheim
nicht.
## Recht auf Familiennachzug
„Gerade in der Phase nach der Ankunft in Deutschland brauchen die
Jugendlichen ein sicheres Umfeld und Stabilität. Sie können die
Warteschlange gar nicht gebrauchen“, sagt Ronald Reimann vom Verein
[4][Xenion], der sich um diese Flüchtlingsgruppe kümmert. Durch die
Warterei würden sie oft ein ganzes Schuljahr verlieren. Denn auch wenn sie
zur Schule angemeldet sind, dauert es Monate, bis ein Schulplatz zur
Verfügung stehe, so Reimann.
Reimann, der Jurist ist, verweist auf die juristischen Nachteile der
Jugendlichen durch das lange Warten. Unbegleitete Flüchtlinge haben einen
Rechtsanspruch auf den Nachzug von Eltern und minderjährigen Geschwistern.
Der besteht aber erst, wenn der Asylantrag angenommen wurde. Das ist bei
Flüchtlingskindern aus dem häufigsten Herkunftsland Syrien zu über 90
Prozent der Fall.
Wenn ein Jugendlicher bei der Einreise aber schon 17 ist, und das sind die
meisten, dann kann durch die Warterei der Rechtsanspruch verwirkt werden.
„Da kann es helfen, wenn sich Privatpersonen bei uns melden, die
Vormundschaften für diese Jugendlichen übernehmen und dann rechtzeitig Asyl
beantragen“, sagt Reimann. Denn die Behörden stellen erst nach Monaten
einen Vormund, ohne den kein Asylantrag gestellt werden kann.
Der Verein Xenion bietet Informationen und Begleitung für Vormünder an.
„Das ist ein bereicherndes Ehrenamt. Oft entsteht dadurch eine Beziehung zu
den Jugendlichen, die fortgesetzt wird, wenn dieser volljährig ist“, so
Ronald Reimann.
Mehr Informationen zur Vormundschaft: [5][www.xenion.org],
[6][www.akinda-berlin.org]
3 Aug 2023
## LINKS
[1] /Gefluechtete-in-Libyen/!5943515
[2] /Kinderrechte-unter-Grosser-Koalition/!5773267
[3] /Notunterkuenfte-in-Berlin/!5947811
[4] http://xenion.org
[5] http://www.xenion.org
[6] http://www.akinda-berlin.org
## AUTOREN
Marina Mai
## TAGS
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