# taz.de -- Tote in Libyen: Drohnenangriffe gegen Ausreisewelle | |
> Libyens Regierung lässt Küstenstädte bombardieren, um Migration übers | |
> Mittelmeer zu bremsen. Doch die Abfahrt von Booten verlagert sich. | |
Bild: Ein Boot mit Geflüchteten in internationalen Gewässern vor der Küste L… | |
TUNIS taz | In Libyen sind bei Drohnenangriffen auf Treibstofflager und | |
Befehlszentralen von Menschenhändlern in den Hafenstädten Zawiya und Zuwara | |
mindestens vier Menschen ums Leben gekommen. In der Hauptstadt Tripolis | |
gestartete Drohnen hatten am Freitag zunächst die Kasernen von Kämpfern | |
der Buzriba-Brüder ins Visier genommen. Die Familie kontrolliert in Zawiya | |
mehrere private und staatliche Gefängnisse für Migranten. Laut UN-Experten | |
schicken die Buzribas ebenso wie konkurrierende Milizen Migranten auf | |
Booten nach Lampedusa und Sizilien. | |
Wer die Drohnen gesteuert hat, ist bislang unbekannt. Die Regierung in | |
Tripolis wird von türkischen Militärberatern unterstützt. Mit dem Einsatz | |
von türkischen Drohnen war zuvor [1][die „Libysch-Arabische Armee“ unter | |
Chalifa Haftar] wieder nach Ostlibyen vertrieben worden. Die Türkei hat | |
weiterhin Soldaten und Militärgerät in Tripolis stationiert. | |
Mit dem militärischen Vorgehen gegen die westlibyschen Schmugglernetzwerke | |
will die Regierung von Premierminister Abdulhamid Dabaiba offenbar die für | |
die nächsten Wochen erwartete Ausreisewelle nach Italien stoppen. Zu den | |
vielen Arbeitssuchenden aus Westafrika, die in Westlibyen auf einen Platz | |
in einem Boot warten, sind in den letzten Wochen mehrere Tausend | |
Flüchtlinge aus dem Sudan hinzugekommen. Mit der für Juni erwarteten | |
stabilen Wetterlage ist das Mittelmeer auch für kleine Boote passierbar. | |
Die Grenze zwischen staatlichen und privaten Strukturen ist in Libyen | |
verschwommen. So ist der von der EU wegen Menschenhandel sanktionierte | |
Milizenchef Abdelrahman al-Milad in Zawiya Chef der Küstenwache. Einige | |
Geschosse haben auch Gebäude des Parlamentsabgeordneten Ali Buzriba | |
getroffen, der ebenfalls eine unbekannte Zahl von Milizionären in Zawiya | |
befehligt. | |
Der Angriff auf den regierungskritischen Milizenführer Shaabab Hadia zeigt | |
zudem, dass Dabaibas militärisches Vorgehen auch seinen politischen Gegnern | |
in Zawiya gilt. Diese haben die Angriffe mit der Besetzung der größten | |
Ölraffinerie Westlibyens und der Blockade der Hauptstraße von Tripolis in | |
Richtung des libysch-tunesischen Grenzübergangs Ras Ajdir beantwortet. | |
## Opferzahlen steigen | |
Die Konkurrenz zwischen verschiedenen bewaffneten Gruppen in Zawiya war in | |
den letzten Monaten immer wieder in Gewalt umgeschlagen. In Tripolis | |
ankommende Migranten versuchen deshalb, in die tunesische Hafenstadt Sfax | |
zu gelangen, die Zawiya als Hauptabfahrtsort für die Fahrt nach Italien | |
abgelöst hat. In Sfax organisieren sich viele Gruppen aus Subsahara-Afrika | |
mittlerweile autonom, um sich zu schützen. | |
Doch das Vermeiden der westlibyschen Städte hat einen Anstieg der | |
Opferzahlen zur Folge. Die Fischer von Sfax bieten den Migranten und | |
Flüchtlingen nur notdürftig zusammengeschweißte Metallboote mit flachem | |
Boden an. Selbst bei leichtem Wellengang sinken viele der Boote nach | |
Wassereinbruch innerhalb weniger Minuten. Zwar kommen auch in Libyen nicht | |
seetaugliche Schlauchboote zum Einsatz, doch diese halten sich im Notfall | |
zumindest noch einige Stunden über Wasser. | |
[2][Migranten in Sfax] berichteten der taz von täglich mehreren Booten, die | |
zwar ablegen aber dann mitsamt den durchschnittlich 30 Menschen an Bord als | |
vermisst gelten. „40 Prozent der ablegenden Boote sinken, ohne dass jemand | |
etwas mitbekommt, denn die Unglücke passieren meistens außerhalb der | |
Reichweite von Mobiltelefonnetzwerken“, schätzt der Sudanese Ali, der seit | |
April auf eine Überfahrt wartet. „Ich habe bereits mehrmals aus Sorge um | |
Freunde den geschätzten Standort von vermissten Booten mitgeteilt. Ich habe | |
nie wieder von meinen Freunden gehört.“ | |
Die Verlagerung der Migration von Libyen in das eigentlich sichere Tunesien | |
hat das Mittelmeer aus Alis Sicht noch tödlicher gemacht. Auch nach | |
UN-Angaben liegt die Zahl der bekannten Opfer mit mehr als 400 im ersten | |
Quartal des Jahres höher als in den letzten sechs Jahren. | |
In den kommenden Wochen dürfte nun die Zahl der aus Sfax sowie aus den | |
ostlibyschen Städten Bengasi und Tobruk abfahrenden Boote extrem ansteigen. | |
Denn nach den Drohnenangriffen in Zawiya wird seit Sonntag auch in Tripolis | |
gekämpft. Die regierungstreue Einheit 444 hatte einen Kommandeur der | |
Rada-Miliz verhaftet, die wiederum mit Schmugglern aus Zawiya verbündet | |
ist. Das Milizenchaos Westlibyens wird sogar für die Menschenhändler zu | |
riskant. | |
Kritiker Haftars vermuten, dass die vielen aus Bengasi und Tobruk | |
ablegenden Boote mit Migranten und Flüchtlingen aus Bangladesch, Syrien, | |
Ägypten und Sudan nur mit dessen Einverständnis ablegen können. „Haftar | |
nutzt die Migration, um Druck auf Europa aufzubauen“, sagt der | |
Libyen-Experte Jalel Harchaoui. Offenbar mit Erfolg: Bei offiziellen | |
Gesprächen mit Italiens Regierungschefin Anfang Mai wurde nicht über die | |
Kriegsverbrechen von Haftars Soldaten gesprochen. | |
30 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Armeechef-Haftar-in-Libyen/!5514466 | |
[2] /Migrantinnen-in-Tunesien/!5924474 | |
## AUTOREN | |
Mirco Keilberth | |
## TAGS | |
Abdul Hamid Dbaiba | |
Schwerpunkt Libyenkrieg | |
Milizen in Libyen | |
Libyen | |
Tunesien | |
Migration | |
Libyen | |
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge | |
Schwerpunkt Flucht | |
Italien | |
Schwerpunkt Flucht | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Flucht | |
Geflüchtete | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Proteste in Libyen: Regierungskrise nach Israel-Kontakt | |
Ein Treffen von Libyens Außenministerin mit dem israelischen Amtskollegen | |
sorgt für Empörung. Der Rücktritt des Regierungschefs wird gefordert. | |
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Auf ein Abstellgleis gestellt | |
Bis zu sieben Monate müssen geflüchtete Kinder und Jugendliche auf ein | |
„Erstgespräch“ warten. Davor sind Asylantrag und Schulbesuch nicht möglic… | |
Geflüchtete in Libyen: Frei nach Monaten Zwangsarbeit | |
Der UNHCR hatte nach Protesten in Libyen festgenomme Geflüchtete als | |
schutzbedürftig eingestuft, doch unterstützte sie nicht. Nun sind sie frei. | |
Olaf Scholz in Italien: Überzeugungsbesuch in Rom | |
Während des Asylgipfels der EU-Innenminister besucht der Kanzler die | |
italienische Regierungschefin Meloni. Die steht beim Thema Migration unter | |
Druck. | |
Vor italienischer Küste: 1.400 Menschen gerettet | |
Die italienische Küstenwache ist mit einer großen Rettungsmission im | |
Mittelmeer unterwegs. An Publicity ist der Meloni-Regierung aber nicht | |
gelegen. | |
Migrant:innen in Tunesien: Ohne Perspektive | |
In Tunis eskaliert auf den Straßen Gewalt gegen Migrant:innen aus der | |
Subsahara. Es ist ein Versuch der Regierung, von der eigenen Schwäche | |
abzulenken. | |
Flüchtlinge protestieren gegen UNHCR: „UNHCR kämpft nicht für uns!“ | |
Vor dem Sitz des Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Genf kritisieren | |
Flüchtlinge dessen Politik gegenüber Libyen. Sie fühlen sich | |
alleingelassen. | |
Flüchtlinge auf dem Mittelmeer: Notrufe bleiben unbeantwortet | |
16 Mal verunglückten Flüchtende im August 2022 tödlich auf dem Mittelmeer. | |
Nach wie vor werden Notrufe von europäischen Behörden ignoriert. |