# taz.de -- Flüchtlinge auf dem Mittelmeer: Notrufe bleiben unbeantwortet | |
> 16 Mal verunglückten Flüchtende im August 2022 tödlich auf dem | |
> Mittelmeer. Nach wie vor werden Notrufe von europäischen Behörden | |
> ignoriert. | |
Bild: Gekommen, um zu helfen: Das neue Rettungsschiff SOS Humanity 1 im Mittelm… | |
Sieben Jahre ist es an diesem Freitag her, dass die Leiche von Alan Kurdi | |
an die Küste des Mittelmeers gespült wurde. Das von der Fotografin Nilüfer | |
Demir nahe Bodrum aufgenommene Bild, das den toten Zweijährigen im roten | |
T-Shirt, mit kurzer Hose, die Hände ausgestreckt, in der Brandung zeigt, | |
erschütterte Millionen. Es zeigte das ganze Grauen des alltäglichen | |
Sterbens der Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa. | |
Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Seid Ra’ad al-Hussein, rief die EU | |
damals zum Handeln auf, die Kommission in Brüssel kündigte an, 120.000 | |
Flüchtlinge auf die EU-Mitgliedstaaten zu verteilen. „Wir müssen dringend | |
etwas tun“, versprach etwa Frankreichs Ministerpräsident Manuel Valls. | |
Doch das Gegenteil geschah. | |
[1][Auch heute hätte Alan Kurdi auf dem Weg nach Europa keine gute | |
Überlebenschance.] Am Donnerstagvormittag sah die Lage für die Flüchtlinge | |
auf dem Mittelmeer so aus: Ein Boot mit 80 Insassen, vor Tagen im Libanon | |
gestartet, treibt zwischen Kreta und Malta in Seenot. Schon 30 Stunden | |
zuvor hatten die Insassen einen Notruf abgesetzt. Ein in der Nähe | |
befindliches Handelsschiff erhält die Order, den Schiffbrüchigen Wasser und | |
Lebensmittel zu geben – und dann weiterzufahren. Zwei weitere | |
Handelsschiffe fahren an der Unglücksstelle vorbei. Am Donnerstagvormittag | |
erreicht das US-Kriegsschiff „Yuma“ die Schiffbrüchigen. Ob es die Insassen | |
an Bord nimmt, ist bis Redaktionsschluss unklar. | |
## Ein drittes Schiff war in Seenot geraten | |
Zur gleichen Zeit läuft 15 Seemeilen südwestlich der italienischen Insel | |
Lampedusa ein Gummiboot mit 14 Insassen voll mit Wasser. Acht Stunden zuvor | |
hatten sie einen Notruf abgesetzt. Rettungskräfte sind nicht in Sicht. | |
Ein drittes Schiff mit 70 Menschen war am Mittwochabend auf halber Strecke | |
zwischen Tripolis und Lampedusa in Seenot geraten. Statt nach Europa in | |
Sicherheit gebracht zu werden, kommt die sogenannte libysche Küstenwache | |
und bringt die Menschen zurück nach Libyen, wo sie interniert werden. | |
„Ein ganz normaler Tag“, sagt Maurice Stierl vom Alarm-Phone Mediterranean. | |
Die Initiative betreibt seit 2014 eine 24-h-Notruf-Hotline, bei der sich | |
Flüchtlinge melden können, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten. Zu | |
allen drei Booten hatten Stierls Mitstreiter*innen in den vergangenen | |
24 Stunden Kontakt, haben, wie stets, die Behörden alarmiert. | |
Nötig ist die Arbeit des Alarm-Phone, weil Notrufe von den europäischen | |
Behörden seit vielen Jahren ignoriert werden oder Hilfe zu spät geschickt | |
wird. 16 tödliche Unglücke gab es laut Zählung der | |
UN-Migrationsorganisation IOM allein im August. 1.224 Flüchtlinge und | |
Migrant*innen sind seit Anfang des Jahres auf dem Mittelmeer gestorben. | |
## Die Menschen sollen nicht nach Europa kommen | |
318 Boote in Seenot mit schätzungsweise 20.000 Insassen hat das Alarm-Phone | |
allein im zentralen Mittelmeer bisher in diesem Jahr begleitet. Ein | |
„absoluter Rekord“, sagt Stierl. „Extrem selten“ gebe es eine angemesse… | |
Reaktion der Behörden. Italien würde hin und wieder Hilfe schicken, vor | |
allem Malta, das für eine besonders große Rettungszone zuständig ist, | |
bleibe in der Regel aber völlig untätig. „Die warten einfach ab, ob die | |
Menschen es selbst schaffen, weiterzukommen.“ Auf Notfälle nicht zu | |
reagieren sei „ein Kalkül“, sagt Stierl. „Es wird versucht, so wenig wie | |
möglich in der Todeszone zu retten.“ Die Menschen sollen schlicht nicht | |
nach Europa kommen. | |
Gerade deshalb hat die EU, unter Federführung Italiens, seit 2016 die | |
sogenannte libysche Küstenwache aufgebaut. Die ist heute – ausgestattet mit | |
Schiffen aus Europa – nach Kräften bemüht, Flüchtlingsboote auf dem Meer zu | |
stoppen und wieder zurückzuschleppen. 14.184 Menschen erlitten in diesem | |
Jahr dieses Schicksal. Die UN zählen diese Rücksendungen fleißig mit und | |
twittern „Libya not safe“, können aber nichts dagegen unternehmen, dass die | |
Aufgegriffenen nach ihrer Ankunft wieder in Folterlager gesperrt werden. | |
Eigentlich ist es EU-Staaten nach Entscheidungen des EUGH verboten, | |
Flüchtlinge in das Bürgerkriegsland Libyen abzuschieben. Das hindert aber | |
vor allem die Rettungsleitstelle in Malta nicht daran, immer wieder die | |
libysche Küstenwache zu Unglücksstellen zu beordern – wohl wissend, dass | |
die Geretteten danach wieder in Libyen landen. Allerdings: Die Zunahme der | |
Kämpfe in Libyen scheint die Einsatzfähigkeit der Küstenwache zu schmälern, | |
so schildern es Beobachter. | |
Hoffnung geben dem Aktivisten Stierl indes die zivilen Rettungsschiffe, mit | |
denen das Alarm-Phone eng zusammenarbeitet. Rund 15 solcher NGO-Schiffe | |
sind im Mittelmeer heute entweder im Einsatz oder werden dafür aktuell fit | |
gemacht, unter anderem die Open Arms, Ocean Viking, Geo Barents, Sea Watch | |
3, Sea Eye 4. Am Donnerstag traf auch die „Humanity 1“ der SOS Humanity zu | |
ihrem ersten Einsatz im zentralen Mittelmeer ein. „Das zentrale Mittelmeer | |
ist weltweit die tödlichste maritime Fluchtroute, aber die europäischen | |
Staaten nehmen ihre Pflicht zur Seenotrettung nicht wahr“, sagt die | |
Geschäftsführerin von SOS Humanity, Maike Röttger. | |
## Die Schwierigkeiten für die NGOs sind gewachsen | |
Größer war die zivile Rettungsflotte noch nie. Die jahrelange Arbeit der | |
NGOs hat zu einem erstaunlich stabilen Spendenaufkommen geführt, das ihnen | |
ermöglicht, immer neue Schiffe anzuschaffen. Das Geld für den Einsatz der | |
„Humanity 1“ stammt zum Teil von der deutschen NGO Sea Watch. „Das ist ein | |
Beispiel dafür, wie stark und solidarisch die Antwort der Zivilgesellschaft | |
auf die Lage im Mittelmeer ist“, sagt Ruben Neugebauer vom Bündnis Leave No | |
One Behind. „Aber Seenotrettung allein kann nicht die politische Antwort | |
sein.“ Denn staatlicherseits habe sich die Situation seit dem Tod Alan | |
Kurdis zweifellos verschlechtert. „Von einer echten staatlichen Lösung mit | |
legalen Fluchtwegen sind wir weiter entfernt denn je.“ | |
Und die Schwierigkeiten für die NGOs sind gewachsen. „Die Kosten sind | |
regelrecht expolidert“, sagt der Grüne Erik Marquardt. Er hat das Bündnis | |
Leave No One Behind initiiert, das für viele der Seenotrettungs-NGOs | |
Aufbauhilfe geleistet hat. Der Grund dafür sei vor allem, dass die | |
Mittelmeer-Anrainer die Helfer:innen mit immer neuen Anforderungen | |
drangsalieren, festsetzen, Schiffe beschlagnahmen oder nicht an Land | |
lassen. | |
79.256 Menschen sind 2022 bislang auf dem Mittelmeer-Seeweg in Europa | |
angekommen – [2][nicht einmal mehr 20 Prozent davon auf Rettungsschiffen]. | |
Die meisten schaffen es heute aus eigener Kraft, etwa auf die italienische | |
Insel Lampedusa. Anders als noch vor einigen Jahren sind viele Flüchtlunge | |
nicht mehr mit aufgeblasenen Gummi-Schwimmkörpern unterwegs, sondern haben | |
häufiger Holzboote, die es mit Glück bis nach Italien schaffen können. | |
Das „Hotspot“ genannte, von der EU mitbetriebene Aufnahmezentrum auf | |
Lampedusa ist deshalb heute völlig überfüllt – und wird vom | |
Ex-Innenminister Matteo Salvini in diesen Wochen als Wahlkampfkulisse | |
genutzt. „Lampedusa kann nicht das Flüchtlingslager Europas sein“, sagte er | |
bei seinem letzten Besuch Anfang August. Der Chef der rechtsradikalen | |
Lega-Partei hat einen Einreisestopp zum Eckpfeiler seines Programms vor den | |
Neuwahlen am 25. September gemacht. Seine Chancen auf eine | |
Regierungsübernahme zusammen mit der Postfaschistin Giorgia Meloni stehen | |
gut. | |
## Die Ampel hatte das Problem erkannt | |
Das ist auch deshalb so, weil Italiens Rechte seit Jahren gut von der | |
Skandalisierung lebt, dass das Land – wie Malta und Griechenland – vom Rest | |
der EU zwar Geld bekommt, ihm ankommende Flüchtlinge aber nicht abgenommen | |
werden. | |
Das hatte in der Vergangenheit dazu geführt, dass den NGO-Schiffen immer | |
wieder der Zugang zu den Häfen verweigert wurde. Gegen Salvini läuft | |
deshalb bis heute ein Strafprozess. Deutschlands Innenminister Horst | |
Seehofer (CSU) hatte deshalb 2018 den sogenannten Malta-Mechanismus ins | |
Leben gerufen. Der sieht vor, dass die Mittelmeerstaaten Schiffbrüchige in | |
ihre Häfen lassen und andere EU-Mitglieder diese dann für ein Asylverfahren | |
aufnehmen. Die Idee war gut. Doch die Weiterverteilung verläuft so | |
stockend, dass der Mechanismus zu keiner spürbaren Entlastung Maltas und | |
Italiens führte. | |
Die Ampel hatte das Problem durchaus erkannt: „Wir streben eine staatlich | |
koordinierte und europäisch getragene Seenotrettung im Mittelmeer an und | |
wollen mit mehr Ländern Maßnahmen wie den Malta-Mechanismus | |
weiterentwickeln“, heißt es im Koalitionsvertrag. | |
Im Juni hatte die EU einen Solidaritätsmechanismus beschlossen, der | |
vorsieht, dass Staaten auf freiwilliger Basis Zusagen für die Aufnahme von | |
Flüchtenden aus der Mittelmeerregion machen. Bis Mitte 2023 sollen so | |
10.000 Menschen umgesiedelt werden. 3.500 nach Deutschland – eine | |
Größenordnung, die in den Außengrenzen-Staaten kaum das Gefühl echter | |
Lastenteilung auslösen dürfte. | |
Der Grüne Erik Marquardt hat den Passus zur Lage im Mittelmeer im | |
Koalitionsvertrag mit ausgehandelt. „Ich erwarte von der Ampel, da eine | |
Führungsrolle einzunehmen“, sagt er. „Der Plan dafür muss noch entwickelt | |
werden.“ Mit dem Solidaritätsmechanismus gebe es nur einen „keimenden Samen | |
und es ist völlig unklar, ob der mal ein Baum wird.“ | |
1 Sep 2022 | |
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Christian Jakob | |
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