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# taz.de -- Demente Großeltern in der Coronakrise: „Wo genau bist du jetzt g…
> Jeder Tag unserer Autorin beginnt mit einem Anruf ihrer Großmutter. Die
> sitzt im Heim, hat Demenz und darf nicht mehr besucht werden. Sprechen
> geht.
Seit Corona beginnt meine Großmutter ihren Tag mit mir. Um 8.30 Uhr
klingelt das Telefon. Sie sitzt am Frühstückstisch. Jeden Morgen die
gleiche Frage: „Was hast du aus Berlin zu berichten?“ Sie erzählt die News
aus dem betreuten Wohnen, ich aus meinem [1][Homeoffice-Leben]. Homeoffice
findet sie faszinierend: „Die Arbeit wird dir durch das Internet
überbracht?“, fragt sie.
Meine Großmutter ist 94 Jahre alt, und sie hat Demenz. Vieles vergisst sie,
aber sie hat auch angefangen, die Welt anders zu sehen. Manchmal sehr
pragmatisch: „Hast du schon Ersatz gefunden?“, fragt sie mich ohne
Umschweife, nachdem ich mich von meinem Freund getrennt habe. Oft sehr
liebevoll – die strenge Frau, bei der ich als Kind nicht mit im Bett
schlafen durfte, wenn ich Albträume hatte, ist sie heute nicht mehr. Vor
Corona nahm sie sogar manchmal von selbst meine Hand.
– Was ist denn das für ein Piepsen im Hintergrund?
– Ich sitze hier gerade am Landwehrkanal. Hier gibt es viele Bäume, und die
Vögel zwitschern.
– Das ist ja nett. Vor meinem Fenster hat sich der Baum in ein herrliches
Grün verwandelt.
– Jetzt kannst du ja mal auf deinen Balkon gehen, wo es so schön warm ist,
oder?
– Ja, da sitze ich oft und beobachte die Vögelchen. Manchmal besuchen sie
mich. Vorhin kam eines vorbei. Sie sind die einzige Gesellschaft, die mir
noch geblieben ist.
Bis vor Kurzem hat meine Großmutter noch in ihrer eigenen Wohnung gelebt,
erst Anfang März ist sie in ein betreutes Wohnen umgezogen. Kurze Zeit
später kam die Ausgangssperre. Seit drei Wochen ist auch [2][Besuch im
Haus] verboten. „Mir fällt die Decke auf den Kopf“, sagt sie, „ich muss
doch mal ein paar Sonnenstrahlen sehen!“
## Es bleibt das Telefon
Als sie sich heimlich für einen Spaziergang nach draußen schleicht, wird
sie von einer Nachbarin entdeckt. Daraufhin wollen die anderen
Bewohner*innen nicht mehr mit ihr Karten spielen. „Dann will ich auch
nichts mit denen zu tun haben“, erklärt sie, „Rommé ist sowieso ein blöd…
Spiel.“ Aber das kann ich ihr nicht so recht abnehmen.
Dabei fällt es ihr ohnehin schwer, sich in der neuen Umgebung
zurechtzufinden. Von manchen geliebten Möbelstücken und Bildern musste sie
Abschied nehmen. Der Pullover, die Teetasse, das Fotoalbum – nichts
befindet sich am gewohnten Platz und muss immer wieder aufs Neue gesucht
werden. Wie schwierig es ist, neue Menschen kennenzulernen, wenn plötzlich
deren Namen und Gesichter aus dem Gedächtnis verschwinden, kann ich nur
erahnen. Lange Zeit sitzt sie beim Mittagessen allein am Tisch.
– Ich habe hier noch nicht so richtig Anschluss gefunden.
– Vielleicht musst du mehr auf die Leute zugehen?
– Da ist eine Frau hier, die ist neu, sie sitzt auch immer so allein da.
– Sprich sie doch mal an, sie freut sich bestimmt sehr darüber.
– Ich krieg irgendwie nicht so richtig den Dreh, ich müsste einen Vorwand
haben.
Doch mit neuen Bekanntschaften ist es vorerst vorbei. Vor einer Woche wurde
der erste bestätigte Coronafall im Haus gemeldet. Jetzt sind auch Garten
und Speisesaal tabu; die Bewohner*innen dürfen ihre kleinen Wohnungen
nicht mehr verlassen. Soziale Interaktionen beschränken sich auf die
überaus bemühten Pfleger*innen, die mehrmals am Tag vorbeischauen.
Ansonsten bleibt das Telefon. Schlimmer als die Angst, sich anzustecken,
ist, dass niemand zu Besuch kommen darf. Jeder Tag wird zum [3][Kampf gegen
die Einsamkeit], die Enge ihrer 26 Quadratmeter sind bedrückend: „Wir sind
schon ziemlich eingesperrt.“
Dank ihres abendlichen „Fernsehstündchens“ ist meine Großmutter über den
Verlauf der Pandemie jeden Tag bestens informiert. Ob sie realisiert, wie
gefährlich eine Infektion für sie wäre, weiß ich nicht.
Die Demenz kommt in Schüben, und jeder Tag ist anders. An manchen Tagen
kann sie sich nicht konzentrieren, und unser Telefonat endet nach zwei
Minuten. Oft ringt sie nach den richtigen Begriffen. Der Zahnarzt wird zum
„Halsbüro“. Unsere Gespräche wiederholen sich. Sie lebt auf Feste hin:
Weihnachten, Ostern, ihren Geburtstag. „Ostern fällt dieses Jahr wohl ins
Wasser?“, fragt sie mich jeden Tag seit Beginn der Krise.
Es gibt weniger Selbstzensur und mehr Emotionen, oder zumindest zeigt sie
Gefühle mehr als früher – auf jeden Fall mehr, als es für eine Frau ihrer
Generation akzeptabel zu sein scheint. Und weil die Hüllen fallen, geht es
gleich an die ganz großen Fragen. Die werden sehr eindringlich und direkt
gestellt: Ob ich echte Freunde habe, da in Berlin? Ob ich mich noch einmal
für das gleiche Studienfach entscheiden würde? Den richtigen Beruf gewählt
habe? Mit ihren Fragen ist sie dann doch sehr nah an dem, was mich gerade
bewegt.
– Habe ich dir schon einmal von meinem Verehrer erzählt?
– Der, der bei dir am Fenster vorbeiging?
– Ja, auf seinem Weg zum Bahnhof hat er immer kurz vor meinem Fenster
haltgemacht und gepfiffen. Die Wirtin meckerte: „Ach, muss der denn immer
so pfeifen, wenn er vorbeikommt?“
– War das ein Zeichen für dich?
– Genau, denn Herr Stefan und ich wollten zusammen mit dem Zug nach
Tübingen fahren.
– Ihr habt euch gesiezt?
– Ja, wir Studenten siezten uns damals. Na ja, wir waren da nicht so intim
wie ihr heute.
Meine Großmutter hat begonnen, die Bilanz ihres Lebens zu ziehen. Sie teilt
jetzt Erinnerungen, die in unseren bisherigen 27 gemeinsamen Jahren nicht
vorkamen. Erzählt, wie sie und ihre Schwester abwechselnd bei der Mutter im
Bett schliefen, nachdem ihre drei Brüder und der Vater im Krieg gefallen
waren.
Rekapituliert mit mir ihre gescheiterte Ehe. Erzählt von der sozialen
Ächtung als alleinerziehende Mutter in den 60ern und davon, wie sie deshalb
– anders als die verheirateten Paare – nie zu den gepflegten Abendessen
eingeladen wurde. Fragt mich zum ersten Mal, ob ich mich noch an unseren
gemeinsamen Besuch in Auschwitz erinnere.
## Respekt, Oma!
Klar erinnere ich mich daran. Ich war zwölf Jahre alt und sah sie absolut
nicht als Gesprächspartnerin. Für mich war sie – Fabrikantentochter und
begeistertes Mitglied im BDM – Täterin, so viel stand fest. Jedes ihrer
Worte fand ich unangemessen. Lieber blieb ich mit meiner Trauer allein oder
hielt mich an die Reisegruppe, wegen der wir überhaupt die Besichtigung des
Vernichtungslagers mitmachten. Dabei war meine Großmutter in ihrer
Unnahbarkeit wahrscheinlich noch sprachloser als ich.
Sie heiratete den Sohn eines Sozialdemokraten und einer Jüdin. Dass das
selbst nach Kriegsende einen massiven Bruch mit dem Standesdünkel und
Selbstverständnis ihrer Familie darstellte, wurde mir erst später klar. Was
die AfD treibt, findet sie „fürchterlich“. Und bei der letzten
Bundestagswahl hat sie die Grünen gewählt. Zukunftsgewandt, Oma, Respekt!
Überhaupt lebt sie mehr im Jetzt, als man das von einer 94-Jährigen
erwarten würde. Und sie möchte noch mehr als zuvor an meinem Leben
teilhaben.
– Wo genau bist du jetzt gerade?
– Ich sitze auf dem Tempelhofer Feld, weißt du, dort, wo früher der
Flughafen war.
– Ah ja. Ist das weit von deinem Zuhause weg?
– Ganz nah, 20 Minuten zu Fuß.
– Das ist ja nicht weit. Und wie ist das in eurer „WG“, unternehmt ihr au…
manchmal was zusammen?
– Wir kochen jeden Tag füreinander, und letzten Freitag haben wir sogar
eine kleine Party gefeiert und bis 3 Uhr morgens in der Küche getanzt.
– Ich komme dich in Berlin besuchen, wenn das alles hier vorbei ist.
3 May 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Franziska Schindler
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