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# taz.de -- Ausgang für Risikogruppen: Kein Stubenarrest für Heimbewohner
> Heime gelten als ganz besonders gefährdet durch Corona. Einsperren dürfen
> sie ihre Bewohner trotzdem nicht, auch wenn einzelne das wohl versuchen.
Bild: Trost für isolierte Heimbewohner: Musiker spielen in Schwerin für Senio…
Minden taz | Die Aushänge tauchten Anfang April am Schwarzen Brett auf.
[1][Spazierengehen und Einkaufen sei derzeit nicht erlaubt],schreibt die
Heimleitung einer Einrichtung irgendwo in der niedersächsischen Provinz.
Das gehe aus dem Erlass des Landes Niedersachsen klar hervor, heißt es
weiter. Fotos dieser Aushänge liegen der taz vor.
Der Haken daran: Die Einrichtung wird gar nicht von akut gefährdeten
Pflegebedürftigen bewohnt, sondern von jungen Erwachsenen. Mittlerweile
haben sich Bewohner und Angehörige erfolgreich gegen die rigide
Ausgangssperre gewehrt. Dass der Name ihrer Einrichtung in der Zeitung
genannt wird, möchten sie deshalb nicht. Man wird ja noch ein Weilchen mit
der Heimleitung auskommen müssen. Aber es dürfte wohl nicht die einzige
Einrichtung sein, in der es Konflikte dieser Art gibt. Viele Heime und
Wohngruppen bewegen sich da gerade auf schwankendem Grund.
Wörtlich steht in der Verfügung des zuständigen Gesundheitsamtes, die
wiederum auf den entsprechenden Weisungen des niedersächsischen
Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung beruht: „Die
Betreiberinnen und Betreiber der o. g. Einrichtungen sind aufgefordert, die
Bewohnerinnen und Bewohner anzuhalten, die Einrichtungen und das
dazugehörige Außengelände nicht zu verlassen.“
Das ist deshalb so schwammig formuliert, weil viel mehr als Appelle
rechtlich gar nicht drin sind: Denn natürlich gelten auch für Menschen in
Heimen oder Einrichtungen des betreuten Wohnens die gleichen
Freiheitsrechte wie für jeden anderen Menschen. Ein Haus- oder Zimmerarrest
lässt sich nicht einfach so anordnen, schon gar nicht per Hausordnung. Das
erklärt auch das Ministerium auf Nachfrage. Um Menschen einzuschließen,
benötigt man immer noch einen richterlichen Beschluss oder eben eine
Quarantäne-Anordnung des Gesundheitsamtes, die aber nur bei einer Infektion
oder einem begründeten Verdachtsfall möglich und dann auch zeitlich
befristet ist.
## Panikreaktion nach Corona-Ausbruch in Wolfsburger Heim
Entstanden ist die Weisung, nachdem das Land durch die ersten schweren
Ketteninfektionen in Pflegeheimen aufgeschreckt worden war. [2][Vor allem
der Ausbruch im Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg,] wo mittlerweile über 40
Bewohner verstorben sind, sorgte dafür, dass der Krisenstab im
Sozialministerium die Regeln noch einmal erheblich verschärfte. Weil es
Berichte gab, dass das Besuchs- und Betretungsverbot dadurch unterlaufen
wurde, dass sich die Bewohner draußen mit ihren Angehörigen trafen, sollten
nun auch die Ausgänge eingeschränkt werden.
Denn, auch das hatte die Erfahrung in Wolfsburg und in anderen Heimen
gezeigt, wenn das Virus erst einmal eingeschleppt worden ist, wird es
schwer beherrschbar. Das Robert-Koch-Institut geht davon aus, dass ein
Drittel der Coronatoten in Deutschland in Heimen sterben.
Als Einrichtung im Sinne dieses Erlassen gelten allerdings nicht nur
Pflegeheime. Er betrifft auch Behinderte oder Einrichtungen zur
Wiedereingliederung für psychisch Kranke.
Und da wird es eben schwierig: „Es ist natürlich etwas komplett anderes, ob
wir hier über schwer Pflegebedürftige reden oder über Menschen mit einer
Beeinträchtigung, die möglicherweise auch noch einen hohen Bewegungsdrang
haben“, sagt Holger Stolz, Geschäftsführer der Lebenshilfe Niedersachsen.
Als einer der größten Träger in diesem Bereich steht die Lebenshilfe nun
vor der Aufgabe, für jede einzelne Einrichtung nach handhabbaren Lösungen
zu suchen.
Dass sich Anfragen aus diesem Bereich häufen, bestätigt auch die
Medizinethikerin Dr. Julia Inthorn vom Zentrum für Gesundheitsethik der
evangelischen Landeskirche in Hannover: „Anfangs ging es ja vor allem um
die Extremsituationen: Was ist, wenn wir tatsächlich [3][in eine Situation
geraten, die eine Triage] notwendig macht? Das ist glücklicherweise
abgewendet worden. Dann ging es um die Situation in Palliativstationen und
ähnlichen Einrichtungen, die plötzlich neue Patienten aufnehmen mussten,
weil die nach einem Klinikaufenthalt nicht zurück in ihre Heime durften.
Jetzt kommen wir allmählich beim Heimalltag an, also da, wo man sich fragen
muss: Wie organisieren wir uns denn nun?“
Hier seien pragmatische und lebenspraktische Lösungen gefragt, findet sie.
Und viele Pflegeeinrichtungen entwickeln die auch, sofern sie die
Ressourcen dazu haben. In vielen Bereichen wären allerdings bessere
demokratische Beteiligungsstrukturen wünschenswert.
Die Kapazitäten und Fähigkeiten, solche Lösungen zu entwickeln, sind
allerdings unterschiedlich verteilt, sagt ein Insider aus der Heimaufsicht.
Das hängt zum einen daran, wie gut die personelle Ausstattung ist, zum
anderen aber auch daran, wie gut der Draht zu den örtlichen
Aufsichtsbehörden ist. Große Träger sind hier oft im Vorteil, sagt er.
## Heimbetreiber fürchten Ermittlungen
Bei manchem Betreiber regiert wohl auch einfach die Angst. Immerhin häufen
sich die Meldungen [4][über Heime, gegen die Ermittlungen eingeleitet]
werden, weil der Verdacht besteht, sie hätten bei einem Corona-Ausbruch die
Auflagen und Vorschriften des Gesundheitsamtes nicht schnell oder sorgsam
genug umgesetzt.
Der Grundkonflikt zwischen dem Wunsch nach Rechtssicherheit und klaren
Regelungen einerseits und andererseits der Notwendigkeit, passende
Regelungen für jede einzelne Einrichtung zu finden, wird sich nie ganz
auflösen lassen, glaubt der Lebenshilfe-Landesgeschäftsführer Stolz. Dazu
seien die Voraussetzungen einfach zu unterschiedlich – im Hinblick auf die
Anfälligkeit für das Virus genauso wie im Hinblick auf die
Einsichtsfähigkeit der Betroffenen. Und die aktuellen Lockerungen machen es
nicht leichter. „Ich werde dauernd gefragt, wann die Werkstätten endlich
wieder aufmachen“, seufzt er. Aber das wird wohl noch eine ganze Weile
dauern.
Bei den Neuregelungen der vergangenen Woche hat Niedersachsen allerdings
überraschend eine Lockerung der Besuchsregelungen möglich gemacht –
Bedingung ist aber, dass die Heime ein umfassendes Hygienekonzept vorlegen,
Besuche auf wenige Angehörige beschränken und den Kontakt unter den
Heimbewohner ebenso einschränken. Daran, wie das umzusetzen ist, tüfteln
die meisten noch.
22 Apr 2020
## LINKS
[1] /Kontaktverbote-wegen-Corona/!5670492/
[2] /Corona-Tote-im-Pflegeheim/!5676116/
[3] /Ethikerin-zu-Medizinversorgung-in-Krisen/!5669071/
[4] /Corona-in-Pflegeeinrichtungen/!5674650/
## AUTOREN
Nadine Conti
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