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# taz.de -- Corona und Behinderungen: „Nicht über uns ohne uns“
> Jenny Bießmann lebt mit einem Team von AssistentInnen und berät Menschen
> mit Behinderung. Unsolidarisch findet sie die Lockerungsdiskussionen.
Bild: Jenny Bießmann, vorn im Bild, bei einer Rollstuhl-Rallye in Mainz
taz: Frau Bießmann, wie nah ist Ihnen Corona gekommen?
Jenny Bießmann: Schon ganz am Anfang, als Corona in Berlin noch gar nicht
so präsent war, war einer meiner Assistenten für 14 Tage in Quarantäne. Er
war zum Glück nicht infiziert, aber das hat uns alle in Aufruhr versetzt.
Wenn sich einer aus meinem Team infiziert, fallen automatisch alle
AssistentInnen aus, weil ja alle miteinander in Kontakt sind.
Was bedeutet das ganz konkret für Sie?
Ich habe fünf Angestellte für eine 24-Stunden-Assistenz. Wenn mein Team
wegen Corona komplett ausfallen würde, würde alles zusammenbrechen. Ich
würde gar nicht aus dem Bett rauskommen. Ich muss auch nachts gelagert
werden, ich würde Schmerzen bekommen, könnte nicht auf Toilette gehen. Ich
habe derzeit das große Glück, weiterhin arbeiten zu können – im Homeoffice
natürlich. Auch das würde dann wegbrechen.
Und dann?
Behinderte Menschen, die wie ich im Arbeitgebermodell ihre AssistentInnen
selbst beschäftigen, sind komplett auf sich gestellt. Das ist ja auch so
gewollt, denn so haben wir die größtmögliche Autonomie und
Selbstbestimmung. Aber es gibt halt kein Back-up. Deshalb sind die meisten
behinderten ArbeitgeberInnen gerade damit beschäftigt, Notfallpläne
aufzubauen: Wer kann einspringen, lassen sich Familie und Freunde
einspannen … Die Senatsverwaltung hat vor einigen Wochen bekannt gegeben,
dass es jetzt erlaubt ist, auch Freunde und vor allem Familienangehörige
über das persönliche Budget zu beschäftigen. Das ist fürs Back-up ganz
wichtig.
Dann achten Sie besonders auf Schutzmaßnahmen?
Meine AssistentInnen beachten natürlich streng die Hygienemaßnahmen, also
vor allem ganz oft Hände waschen. Aber weder sie noch ich tragen
Mundschutz. Ich habe rund um die Uhr Assistenz, ich brauche bei allem
Hilfe, meine AssistentInnen kommen mir so nahe, da würde ein Mundschutz
sowieso nichts helfen. Das ist aber bei anderen behinderten
ArbeitgeberInnen anders, und in den persönlichen Budgets ist dafür kein
Geld vorgesehen.
Gibt es da überhaupt keine Unterstützung?
Ich arbeite bei einem gemeinnützigen Verein, der behinderte
ArbeitgeberInnen berät. Unser Verein hat gerade aus der Soforthilfe der
Aktion Mensch 50.000 Euro bekommen, die wir entsprechend weiterverteilen.
Behinderte ArbeitgeberInnen können bei uns Geld für Schutzkleidung, aber
auch für die Fahrtkosten ihrer AssistentInnen, die ja nicht alle ein Auto
haben, beantragen. Außerdem können wir damit Honorarkräfte finanzieren,
wenn AssistentInnen ausfallen. Zudem war es uns wichtig, Bonuszahlungen an
die AssistentInnen zu ermöglichen.
Vergleichbar zu der Coronaprämie, die der Senat gerade an
Krankenhausmitarbeiter verteilt?
Unsere AssistentInnen sorgen dafür, dass behinderte Menschen in dieser Zeit
eben nicht in Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen betreut werden
müssen. Daran hat der Senat bei seinen Bonuszahlungen an Pflegekräfte
leider nicht gedacht. Zumindest nicht auf die Schnelle. Wenn unsere
Regierung gut ist, kann sie ja noch nachsteuern. Wir sind da im Gespräch.
Auf der einen Seite steht die absolute Notwendigkeit der Assistenz. Auf der
anderen Seite kann jeder Kontakt mit den wechselnden Assistenten auch ein
Risiko bergen. Beeinflusst diese Ambivalenz das Miteinander?
Ich kann da nur für mich und mein Team sprechen. Meine AssistentInnen haben
ihre eigenen Kontakte auf ein Minimum reduziert, weil sie wissen, wie
schwerwiegend es für mich wäre, mich mit Corona zu infizieren. Ich habe
eine fortschreitende Muskelerkrankung. Wenn die Triage greifen würde, würde
ich nicht mehr behandelt. Ich muss aber auch sagen, dass ich noch relativ
entspannt bin – ich gehe weiterhin raus und nehme auch Termine wie
Physiotherapie wahr. Man kann sich nicht gegen alles absichern. Leben ist
trotz allem wichtig.
In Italien und Spanien mussten Mediziner entscheiden, wer an die knappen
Beatmungsgeräte kommt und wer nicht. Mit diesen Bildern im Kopf war die
sogenannte Triage auch in Deutschland zunächst sehr präsent.
Es ist nicht so, dass das zu den Hauptsorgen der Menschen gehört, die wir
beraten. Weil ja auch einfach die Notwendigkeit noch nicht da ist. Aber wir
als Verein engagieren uns auch politisch, und für uns ist die Aussonderung,
die Diskriminierung, das Treten von Menschenrechten in diesem Zusammenhang
ein ganz großes Thema.
Was wäre die richtige Vorgehensweise, wenn zum Beispiel zu viele
schwerkranke Menschen oder ältere Menschen mit Vorerkrankungen auf zu
wenige Beatmungsgeräte treffen?
Ich maße mir überhaupt nicht an, das besser zu wissen. Aber auch hier ist
unsere Forderung: Nicht über uns ohne uns. Die Behindertenverbände müssen
in Empfehlungen, wie sie die intensivmedizinischen Fachgesellschaften für
die Triage gegeben haben, miteinbezogen werden. Das ist aber nicht
passiert.
Nach mehreren Wochen mit Beschränkungen wegen der Pandemie werden die Rufe
nach Lockerungen laut, künftig sollten vor allem Risikogruppen isoliert
werden. Ihre Meinung dazu?
In den vergangenen Wochen war die gesamte Gesellschaft dafür
verantwortlich, was mit unserem Gesundheitssystem passiert, und ich denke,
nur so kann es funktionieren. Wenn nur die sogenannte Risikogruppe, junge
Leute wie ich oder auch Menschen in Pflegeheimen, ein Jahr oder noch länger
nicht rausgehen, nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, keinen
Besuch empfangen dürften, bis ein Impfstoff gefunden ist – das wäre ein
absolutes Unding.
4 May 2020
## AUTOREN
Manuela Heim
## TAGS
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