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# taz.de -- Behindertenbeauftragter über Teilhabe: „Da fehlt der Nachdruck“
> Bremens erster Behindertenbeauftragter Joachim Steinbrück geht in den
> Ruhestand. Warum er gerade die CDU loben muss – und woran es aktuell
> hapert.
Bild: Sieht gut aus, ist aber für behinderte Menschen nicht barrierefrei – d…
taz: Ist Ihre Bilanz nach 15 Jahren als [1][Landesbehindertenbeauftragter]
eher positiv oder doch ernüchternd, Herr Steinbrück?
Joachim Steinbrück: Es ist schon einiges passiert. Dennoch habe ich oft das
Gefühl, dass die Politik, die die gleichberechtigte Teilhabe behinderter
Menschen zum Ziel hat, halbherzig gemacht wird. Da will niemand Ärger
haben, weil das schnell als diskriminierend eingeordnet wird. Aber es gibt
sowohl auf Landes- als auch auf Bundesebene wenige, die eine solche Politik
wirklich aktiv voranbringen.
Wie ist da Ihre Erfahrung mit den Senaten seit 2005?
Ganz am Anfang haben zwei CDU-Senatoren sehr beherzt und konsequent
gehandelt, indem sie Baustopps verhängt haben. Zuerst der Bausenator
Ronald-Mike Neumeyer, als es um die Neugestaltung des Leibnizplatzes ging
und dann Kultursenator Jörg Kastendiek, als es um die Barrierefreiheit
eines Aufzuges in der Kulturbehörde ging. Bei den nachfolgenden
SenatorInnen habe ich – unabhängig von der Parteifarbe – ein solch
beherztes Eingreifen oft vermisst. Deren Handeln war eher zögerlich.
Deshalb müht man sich nun jahrelang an einer Richtlinie zur barrierefreien
Gestaltung öffentlicher Gebäude ab: 2013 haben wir damit angefangen – und
sie ist immer noch nicht fertig.
2018 bekam Bremen aber doch ein neues Behindertengleichstellungsgesetz!
Dem ging ein Verfahren voran, das fast vier Jahre dauerte. Auch da hätte
mehr Zügigkeit gut getan. Drei der Rechtsverordnungen, die nach diesem
Gesetz notwendig erlassen werden müssen, wurden vom Senat erst in der
letzten Woche verabschiedet. Deshalb konnte die Schlichtungsstelle, die
eingerichtet werden soll, ihre Arbeit immer noch nicht aufnehmen – obwohl
das Gesetz sie seit Ende 2018 vorsieht. Diese Prioritätensetzung macht
deutlich: Auch da fehlt es an Nachdruck.
Gibt es auch Positives?
Es hat schon auch Fortschritte gegeben: Beispielsweise haben wir jetzt ein
Regio-S-Bahnnetz. Das gab es zum Beginn meiner Amtszeit ja noch gar nicht –
und die Bahnhöfe werden jetzt zunehmend barrierefreier. Es gibt Strukturen
wie den Landesteilhabebeirat, der die Interessen behinderter Menschen
besser vertreten kann. Positiv finde ich auch die neuen Initiativen, mit
dem ruhenden Verkehr in den Stadtteilen anders umzugehen. Bisher wird das
illegale Parken ja geduldet. Für behinderte Menschen ist das ein großes
Problem – doch man wollte sich nicht mit den Leuten anlegen, die ihren
Zweitwagen auf den Gehweg stellen wollen.
Die Sozial-, Verkehrs- und BausenatorInnen in Bremen kommen seit langem von
den Grünen – einer Partei, die sich in ihrer eigenen Wahrnehmung sehr für
die Rechte behinderter Menschen stark macht. Sie aber loben die CDU.
Ich hatte mir das 2005 auch anders vorgestellt. Aber das beherzte Handeln
der CDU-Senatoren hat mir damals auch geholfen, mich hier zu etablieren.
Die grünen Bausenatoren – Maike Schaefer kann ich da noch nicht wirklich
bewerten – haben zwar auch gesagt, dass Barrierefreiheit wichtig ist. Aber
durch ihre Prioritätensetzung haben sie gezeigt: Das ist nachrangig. Im
Verkehrsentwicklungsplan, der ja ein Kind von Senator Joachim Lohse ist,
taucht das Thema zwar auf. Das ist positiv. Aber am Ende löst das trotzdem
nicht meine Befürchtung auf, dass FußgängerInnen – und damit auch
behinderte Menschen – nachrangig behandelt werden.
Gleichstellungspolitik für behinderte Menschen wird politisch unterstützt,
solange sie nichts kostet.
Das kann ich uneingeschränkt bestätigen. Als es etwa darum ging, den
Behinderten- in Teilhabeausweis umzubenennen, hat die Bürgerschaft ganz
schnell gehandelt. Aber bei der Forderung nach finanziellen Mitteln zur
Beseitigung von Barrieren im öffentlichen Raum, die ich von Anfang an
aufgestellt habe, hatte ich nur geringe Erfolge. Das führt unter anderem
dazu, dass auch eine Gesamtschwerbehindertenvertretung, ein
Gesamtpersonalrat oder Frauenbeauftragte in Räumen sitzen, in die Menschen
mit Rollstuhl nicht hinkommen können. Das ist ein Zustand, der seit 2003
schrittweise abgeschafft werden sollte – so will es das Gesetz. Da ist zu
wenig passiert. Ich hätte mir zumindest einen Etat von ein, zwei Millionen
Euro im Jahr zum systematischen Abbau von Barrieren gewünscht. Der ist nie
geschaffen worden.
Die behindertenfeindliche Pflasterung von Straßen im Viertel hat ja auch im
rot-grünen Milieu viele Freunde.
Wir haben zwar versucht, da an einem Runden Tisch Kompromisslinien zu
finden. Was ich aber schwierig finde, ist die Situation am
Ostertorsteinweg. Da ist die Priorität falsch gesetzt worden: Wenn die
historische Anmutung so eine starke Gewichtung bekommt, finde ich das
problematisch.
2009 wurde die Inklusion in den Bremer Schulen eingeführt – rot-grün hat
sich dafür sehr gerühmt. Doch die gelebte Praxis ist mangels Ressourcen
sehr schwierig und frustrierend.
Die Zahl der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die einen
regulären Schulabschluss erreichen, ist seit 2009 stark gestiegen. Das ist
ein Erfolg, der in der Beschreibung der schwierigen Situationen an den
Schulen, die ich gar nicht schönreden will, oft untergeht. Dass die
Inklusion in der Praxis auf so viele Probleme stößt, liegt einerseits an
den Ressourcen, andererseits spielen aber auch Barrieren in den Köpfen eine
Rolle. Behinderte SchülerInnen werden häufig immer noch als Problemkinder
definiert. Es geht da auch um die eigene Haltung. Bremen hat auch den
Fehler gemacht, 2006 den Studiengang Behindertenpädagogik zu schließen.
Dabei war die Inklusion damals schon absehbar.
2006 wurde die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet, seit 2009 ist
sie hierzulande auch verbindlich. Was ist seither passiert?
Trotz aller Ernüchterung hat sie der Behindertenpolitik in Deutschland
Rückenwind gegeben. Dass Selbstbestimmung gefördert und niemand mehr
gezwungen werden soll, gegen seinen Willen in einem Heim zu wohnen, ist ein
Erfolg. Aber wenn man eine Parallele zur Gleichberechtigung von Mann und
Frau zieht, die ja seit 1949 im Grundgesetz steht, ist der Prozess noch
lange nicht abgeschlossen. Und das Benachteiligungsverbot behinderter
Menschen steht erst seit 1994 im Grundgesetz. Da braucht man viel Ausdauer
und Zähigkeit.
Und auch andere Gesetze?
Wir haben heute zwar ein Verbandsklagerecht, aber das ist sehr begrenzt –
und man kann auch nur feststellen lassen, dass gegen geltendes Recht
verstoßen worden ist. Auch die individuellen Rechte behinderter Menschen
sind schwach ausgeprägt und schwer durchsetzbar – anders als etwa in den
USA, wo im Zweifelsfall immense Schadensersatzforderungen drohen würden.
Als Behindertenbeauftragter werden Sie ja auch nur angehört.
Meine schärfste Waffe ist die Beschwerde bei den zuständigen SenatorInnen.
Und die können das übergehen.
Natürlich. Das nutzt nur, wenn man jedenfalls einen Teil der öffentlichen
Meinung hinter sich bringen kann. Aber ich habe schon das Gefühl, dass in
Politik und Verwaltung ein großes Interesse daran besteht, nicht öffentlich
von mir kritisiert zu werden. Ich betone: öffentlich.
Gleichstellung behinderter Menschen gilt aber oft immer noch als Luxus, den
man sich gönnt, wenn man es sich leisten kann – dabei geht es um
Grundrechte!
Ja. Schon bei dem Besuch von Toiletten fehlt es an der Gleichstellung.
Menschen mit Rollstuhl müssen etwa an Hochschulen oft weite Wege
zurücklegen, um überhaupt ein WC zu erreichen. Ginge es um nicht-behinderte
Menschen, gäbe es starke Proteste! Viele würden so lange Wege unzumutbar
finden. Menschen mit Behinderung wird das aber zugemutet. Und die Haltung
vieler ist: Die sollen doch dankbar sein, dass es überhaupt ein
Behinderten-WC gibt! Da wird dann genau gezählt, wie viele Leute das
betrifft. Wenn es nur wenige sind, nimmt man sich das Recht heraus, sie
auszugrenzen. Da schwingt immer der Gedanke mit: Lohnt sich das für die
paar eigentlich?
29 Apr 2020
## LINKS
[1] https://www.behindertenbeauftragter.bremen.de/
## AUTOREN
Jan Zier
## TAGS
Leben mit Behinderung
Gesellschaftliche Teilhabe
Behindertengleichstellungsgesetz
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