# taz.de -- Coronavirus in Deutschland: Leben retten ja, aber … | |
> Wie viel wert ist ein Menschenleben? Kommt drauf an. Die Abwägung ist | |
> nicht nur in der Gesundheitspolitik üblich. | |
Bild: Jedes Leben gleich viel wert? Bestatter mit Särgen | |
Wie wichtig ist uns ein Menschenleben? Und ist uns jedes Leben gleich viel | |
wert? Zwei Männer aus dem Südwesten haben in dieser Woche diese Fragen | |
aufgeworfen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble sagte dem Tagesspiegel | |
[1][in einem sehr klugen Interview] zur Debatte über die | |
Coronaschutzmaßnahmen: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von | |
Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit | |
nicht richtig.“ | |
Der grüne Kommunalpolitiker Boris Palmer sagte [2][in einem sehr kühlen | |
Interview] auf Sat.1: „Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, | |
die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und | |
ihrer Vorerkrankungen.“ Ein Satz, der allein schon wegen seiner | |
Empathielosigkeit schmerzt. Einerseits verwundert es also nicht, dass sich | |
gerade gegen Palmer eine breite Allianz der Entrüsteten bildete: Der | |
CSU-Chef nennt die Debatte „gefährlich“. | |
Grünen-Vorstände aller Ebenen distanzierten sich binnen Stunden von ihrem | |
Tübinger Parteifreund. Und schon vor Palmer, aber nach Schäuble | |
kommentierte Margarete Stokowsi in ihrer Spiegel-Kolumne: „Unangenehm ist, | |
wie explizit davon ausgegangen wird, dass ein paar Leute jetzt wohl | |
geopfert werden müssen.“ Ja, das ist unangenehm. Unangenehm ist allerdings | |
auch, dass in der Kritik ein sehr selektiver Moralismus mitschwingt. | |
Dass neben dem Coronavirus auch die Coronarestriktionen Menschen töten – in | |
einer Menge, die sich nicht beziffern lässt –, blendet sie aus. Vor allem | |
aber: Dass Politik und Gesellschaft vor Entscheidungen verschiedene Güter | |
miteinander abwägen und der Schutz von Menschenleben nicht automatisch alle | |
andere aussticht, ist kein Phänomen der Coronakrise. Es ist Normalität – | |
und manchmal unvermeidbar. | |
## Die Pflicht zur Organspende würde auch Menschen retten | |
„Abwägungen sind Teil jeder Gesundheitspolitik“, schrieb Anna Holzscheiter, | |
Politikprofessorin mit Schwerpunkt auf Internationale Gesundheitspolitik, | |
[3][schon Anfang April in einem Essay]. Der plötzlichen Entrüstung über | |
diesen Fakt hafte etwas „Scheinheiliges“ an. Ein Beispiel: Auch eine | |
Pflicht zur Organspende würde ohne Frage Menschenleben retten. Eine solche | |
Pflicht steht aber nicht zur Debatte. Der Bundestag konnte sich im Januar | |
noch nicht mal zur weniger weit gehenden Widerspruchslösung durchringen. | |
Das Recht auf Selbstbestimmung stand über dem Schutz von Leben. Wir könnten | |
Menschenleben retten, wenn wir den motorisierten Verkehr abschaffen. Machen | |
wir aber nicht, weil es sowohl Reisefreiheit als auch Wirtschaft ruinieren | |
würde. Wir könnten Menschenleben retten, indem wir Alkohol verbieten. | |
Machen wir aber nicht, weil Alkohol so schön lustig macht. Wir könnten | |
Menschenleben retten, wenn wir auch während Grippewellen Mundschutz tragen | |
und die Hände waschen. | |
Hat uns bisher aber schlicht nicht interessiert. Warum der Schutz von | |
Menschenleben jetzt plötzlich einen viel höheren Stellenwert erhält? | |
Wahrscheinlich liegt es an der Wucht der Coronapandemie, die ohne | |
Schutzmaßnahmen wohl mehr Opfer fordern würde als Straßenverkehr und | |
Influenza zusammen. Zu Recht dominiert sie seit Wochen Politik, Alltag und | |
Medien. Sie hat uns damit Fragen von Leben und Tod aufgezwungen, die wir im | |
Normalbetrieb gerne verdrängen. | |
Die Chance, die sich daraus für den Humanismus ergibt: Vielleicht bleibt | |
etwas hängen. Vielleicht wird das Menschenleben auch in künftigen | |
Abwägungen einen höheren Stellenwert erhalten als in der Vergangenheit. | |
Denn tatsächlich ist eine Gesellschaft erstrebenswerter, die es erst nach | |
einer mühsamen Abwägung erträgt, nicht jedes Leben schützen zu können, als | |
eine Gesellschaft, die wie Boris Palmer eine kalte Kosten-Nutzen-Rechnung | |
über das Sterben anstellt. | |
Aber eines kann auch in Zukunft nicht passieren: dass wir jedes politische | |
Handeln nur danach ausrichten, dass jeder Mensch so lange lebt wie möglich. | |
2 May 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/bundestagspraesident-zur-corona-krise-s… | |
[2] https://www.sat1.de/tv/fruehstuecksfernsehen/video/202082-oberbuergermeiste… | |
[3] https://www.wzb.eu/de/forschung/corona-und-die-folgen/die-covid-19-pandemie… | |
## AUTOREN | |
Tobias Schulze | |
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