# taz.de -- Krisenmanagement und Ungleichheit: Der infizierte Rechtsstaat | |
> Viel ist in der Corona-Krise die Rede von Solidarität. Doch über die | |
> ungleiche Verteilung der Lasten, die der Shutdown erzeugt, wird kaum | |
> gesprochen. | |
Bild: Tafel in Essen: Zu den blinden Flecken gehören Solidaritäts- und Vertei… | |
Kontaktverbote trocknen den öffentlichen Raum aus. Sie trennen uns von | |
unserem Lebensumfeld, von den Vereinen und Orchestern, vom Einzelhändler um | |
die Ecke, der nicht nur Dienstleister ist, und sie sperren die unzähligen | |
Institutionen zu, die Menschen in Not und Einsamkeit persönliche Ansprache, | |
soziale Hilfe und empathische Zuwendung gewähren. Betroffen ist aber auch | |
der politische Diskurs auf Straßen, in Gaststätten, auf Podien und in | |
Hörsälen. An seine Stelle ist eine bedrückende Einigkeits- und | |
Entschlossenheitsrhetorik getreten, die auf den unsichtbaren „Feind“ und | |
seine Bekämpfung verengt ist. | |
Im politischen Wettbewerb gewinnt derzeit, wer die drastischsten Maßnahmen | |
gegen das Virus verkünden und sich so als Macher präsentieren kann. Doch | |
ohne öffentlichen Diskurs verlieren wir den Blick auf Ungleichheiten und | |
notwendige Differenzierungen. | |
Der öffentliche Diskurs leidet erstens unter der Marschroute „Es geht um | |
Leben und Tod“. Doch auch wenn es um den Schutz von Leben und Gesundheit | |
geht, wägen wir, wie jüngst bei der gesetzlichen Neuregelung der | |
Organspende, ab, welche sozialen und politischen Kosten wir in Kauf zu | |
nehmen bereit sind, um Leben zu retten. Vielleicht hat auch die Dominanz | |
der Virologen und Epidemiologen in der öffentlichen Diskussion und in der | |
Beratung der Politik dazu geführt, dass neben den medizinischen | |
Notwendigkeiten nichtmedizinische Aspekte zurückgetreten sind, etwa die | |
Frage, wie lange es eine Gesellschaft (und vor allem die zunehmende Zahl | |
der Genesenen) eigentlich akzeptieren wird, dass sie ausnahmslosen | |
flächendeckenden Restriktionen unterworfen wird, die die unterschiedlichen | |
gesundheitlichen Risiken nicht berücksichtigen. | |
Zu den blinden Flecken, in denen der Diskurs derzeit gar nicht stattfindet, | |
gehören zweitens Solidaritäts- und Verteilungsfragen. Viel ist derzeit zu | |
lesen, dass es um eine gemeinsame Kraftanstrengung geht, um einen Akt der | |
Solidarität mit den Schwächeren, zu der nun jeder seinen Beitrag leisten | |
müsse. Vergleichsweise wenig ist davon die Rede, dass sich diese Lasten | |
höchst ungleichmäßig verteilen. Sie verteilen sich ungleich in der | |
Wirtschaft: Hier wird es viele Unternehmen und Betriebe nach dem Auslaufen | |
der Beschränkungen nicht mehr geben, während die großen Unternehmen von den | |
Autoherstellern bis zu den Banken auf Staatshilfen bauen können und sich | |
die Krise für Konzerne wie Amazon sogar als eine Lizenz zum Gelddrucken | |
entpuppt. | |
Und die Lasten verteilen sich ungleich zwischen den Generationen: Unter | |
diesen werden die Gruppen, die als Risiko- oder Hochrisikoträger ausgemacht | |
sind, durch den gesellschaftlichen Shutdown maximal geschützt, während sich | |
die folgende Rezession für die Jüngeren in einem massiven [1][Verlust von | |
Lebenschancen] auswirkt. Sie verteilen sich ungleich mit Blick auf | |
Bildungsmöglichkeiten, weil der Schulausfall in bildungsbürgerlichen oder | |
sonst gut situierten Elternhäusern erfahrungsgemäß besser kompensiert | |
werden kann als in den sozial ohnehin benachteiligten und schwächeren | |
Schichten. Sie verteilen sich aber auch ungleich zwischen denen, die im | |
Eigenheim mit Garten bei einem Glas Wein abends auf der Terrasse und den | |
anderen, die in beengten Räumen im elften Stock eines Hochhauses sitzen. | |
Dass diese Diskussionen bislang allenfalls unter der Oberfläche einer | |
voluminösen Krisenrhetorik stattfinden, hat wesentlich mit der | |
zivilisatorischen Katastrophe von Bergamo zu tun. Natürlich ist es auch der | |
Umstand, dass manche Menschen sterben werden, der viele umtreibt, aber es | |
sind vor allem die Rahmenbedingungen und Begleiterscheinungen in den | |
italienischen Krankenhäusern: die Notwendigkeit von Triage-Entscheidungen, | |
die normative Selbstverständlichkeiten in Frage stellen; Videos von | |
überfordertem und weinendem Klinikpersonal, dem gegenüber man ein | |
schlechtes Gewissen bekommt, das man durch Applaus vom Balkon zu | |
besänftigen versucht; Geschichten von Menschen, die auf Intensivstationen | |
ohne ihre Familienangehörigen sterben müssen; der Zusammenbruch der | |
sonstigen medizinischen Versorgung. | |
Am Ende ist es eine ähnliche Logik wie in der Flüchtlingspolitik: Wir | |
ertragen viel, aber keine Bilder von Elend und leidenden Menschen. Bei | |
realistischer Betrachtung geht es dabei gar nicht um sozialstaatliche | |
Solidarität, sondern um unsere Sorge, dass die normativen Grundgerüste | |
unserer Gesellschaft, „unsere Werte“ dementiert werden. Wir verteidigen | |
hier rechtsstaatliche Grundfesten gegen drohende Verrohungstendenzen. | |
Das sind sehr berechtigte Anliegen, die zukünftige politische | |
Entscheidungen, etwa über die Finanzierung der Krankenhäuser und die | |
[2][Bezahlung des Pflegepersonals,] steuern mögen. Aber sie entheben uns | |
nicht von der Verpflichtung, bei den anstehenden Verlängerungen der | |
rechtlichen Restriktionen tatsächliche Unterschiede mehr als bislang in den | |
Blick zu nehmen. Im Gegenteil: Wenn wir stärker nach Risikogruppen | |
differenzieren und daher insbesondere ältere Menschen noch konsequenter zu | |
schützen würden als bislang, so würden wir das auch tun, um ein „zweites | |
Bergamo“ zu verhindern. Zugleich müssen wir aufgrund der sozialen Unwuchten | |
stärker nach Angewiesenheit differenzieren: Es kann ein Jahr ohne Karneval, | |
Oktoberfest und volle Fußballstadien geben, aber schon wenige Wochen mit | |
geschlossenen Frauenhäusern, [3][Tafeln, Selbsthilfegruppen] und | |
Bildungseinrichtungen sind zivilisatorisch nicht hinnehmbar. | |
Man hört schon die ersten Stimmen, die empfehlen, die | |
Disziplinierungsstrategien gegen Corona zukünftig auch im Kampf gegen den | |
Klimawandel einzusetzen. Auch das spricht für einen differenzierten | |
Exit-Diskurs, der der Infektion unseres demokratischen Rechtsstaats | |
vorbeugt. | |
26 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Huster | |
Thorsten Kingreen | |
Uwe Volkmann | |
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