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# taz.de -- Corona-Tote im Pflegeheim: Das Sterben der Alten
> 23 Tote in 11 Tagen: Die Bilanz des Corona-Ausbruchs in einem Pflegeheim
> in Wolfsburg ist erschütternd. Hätten frühe Tests Leben retten können?
Bild: Ein Sarg wird vom Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg abtransportiert
Ein paar graue dreistöckige Gebäuderiegel, idyllisch gelegen, mit Blick ins
Grüne, auf ein Stückchen Wald. Seit etwas mehr als einer Woche kennen viele
die Zickzackfassade des Hanns-Lilje-Heims in Wolfsburg. Es wurde zum Symbol
für eine lange befürchtete Katastrophe: für das, was passiert, wenn Corona
im Pflegeheim ankommt.
Das Drama beginnt am Mittwoch, den 18. März. Am Vormittag informiert das
Wolfsburger Gesundheitsamt die Heimleitung darüber, dass der Ehemann einer
Mitarbeiterin positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Die Mitarbeiterin
ist im Dienst, sie wird umgehend nach Hause in die Quarantäne geschickt. Am
Nachmittag die nächste Meldung vom Amt: Ein Bewohner, der zur Behandlung
ins Klinikum überwiesen wurde, wird positiv getestet. Im Heim häufen sich
zudem die Fieberfälle. Die Leitung sucht deshalb erneut den Kontakt zum
Gesundheitsamt, in Absprache mit dem städtischen Krisenstab werden die
Hygienemaßnahmen verstärkt. So berichtet es die Sprecherin der Diakonie
Wolfsburg, Bettina Enßlen, später.
Am Montag, den 23. März meldet die Stadt Wolfsburg den ersten Todesfall,
die Zahl der Infizierten steigt rasant an. Trotzdem werden noch einmal drei
Tage vergehen, bevor der Krisenstab entscheidet, die übrigen Bewohner:innen
und das Pflegepersonal testen zu lassen. Am Donnerstag, den 26. März, eine
Woche und einen Tag nach Bestätigung des ersten Falls, werden Abstriche bei
allen Bewohner:innen des dritten Stocks durchgeführt. Als im zweiten Stock
ein weiterer Fieberfall auftritt, werden die Tests auf die übrigen
Bewohner:innen ausgedehnt.
Die Ergebnisse verkündet Oberbürgermeister Klaus Mohrs (SPD) in einer
gemeinsamen Pressekonferenz von Stadt und Diakonie am Samstag, den 28.
März. Sie sind desaströs: 72 der insgesamt 145 Bewohner:innen sind
infiziert, 12 zu diesem Zeitpunkt schon verstorben. Der Freitag vor der
Pressekonferenz gehört zu den schlimmsten Tagen: 8 Tote meldet die Stadt im
Heim, 6 Frauen und 2 Männer, im Alter zwischen 76 und 100 Jahren.
## Eine neue Phase der Epidemie
Während Menschen im gesamten Land vor ihren Bildschirmen dabei zusehen
können, wie Heimleiter und Diakoniesprecherin vor laufenden Kameras um
Fassung ringen, häufen sich die Meldungen auch aus anderen Altenheimen. Von
einer „neuen Phase der Corona-Epidemie“ spricht der Virologe Christian
Drosten. Eine Phase, die mit deutlich höheren Sterblichkeitsraten
einhergehen werde als bei den jungen Skiurlaubern, mit denen man es bisher
zu tun gehabt hatte.
Noch während man in Wolfsburg auf die letzten Testergebnisse wartet, berät
der Krisenstab über die weiteren Maßnahmen. Infizierte und Nichtinfizierte
müssen nun möglichst konsequent voneinander getrennt werden – durch eigene
Eingängen, eigenes Personal, möglichst bis hin zu Küche, Wäscherei und
Anlieferung. Das ist nicht einfach, auch wenn das Hanns-Lilje-Heim keine
kleine Einrichtung ist.
Deshalb favorisiert der Krisenstab eine Zeit lang die Evakuierung in ein
nahe gelegenes, leer stehendes Hotel. Man beginnt, dort Räume auszustatten,
Hilfspersonal steht bereit. Doch dann wird die Umsiedlung wieder
abgeblasen. Vor allem die Pflegenden, aber auch beteiligte Ärzt:innen
haben Bedenken. Der Stress des Umzugs und die völlig fremde Umgebung hätten
eine sofortige Verschlechterung des Gesundheitszustandes zur Folge, sagt
Torsten Juch, der Heimleiter. Das Hanns-Lilje-Heim ist auf
Gerontopsychiatrie, also die psychiatrische Behandlung älterer Menschen,
und vor allem auf Demenzkranke spezialisiert. Das macht die Situation
besonders schwierig. „Unsere Bewohner verstehen nicht, was mit ihnen
passiert“, sagt Juch.
Normalerweise versucht man hier, die „demenziell veränderten“
Bewohner:innen behutsam in der Welt zu belassen, in die sie gerade
versinken. Mit Dingen von früher, zum Beispiel. Der Werbeprospekt des Heims
zeigt ein paar ältere Herren im Hof, die eifrig einen alten Käfer mit
Schaum und Schwämmen bearbeiten. Um dem großen Bewegungsdrang der
Demenzkranken entgegenzukommen, können sie sich in Haus und Garten frei
bewegen. Ein Uhrendummy sendet ein Signal, wenn sie den geschützten Bereich
verlassen. Dann lotst das Pflegepersonal sie zurück.
## Die Pflegenden arbeiten längst am Limit
All das geht nun nicht mehr. Zuerst werden die Gemeinschaftsbereiche
geschlossen, dann die Bewohner:innen auf ihre Zimmer verwiesen.
Gleichzeitig entfällt das, was für Menschen in diesem Zustand so wichtig
ist: Gewohnheiten und die wenigen noch vertrauten Gesichter. Allein der
Anblick einer maskierten Pflegerin lässt manche die Fassung verlieren,
berichtet der Heimleiter. Selbst alltägliche Verrichtungen wie etwas zu
trinken anzureichen, sind jetzt schwierig, weil die verstörten
Bewohner:innen ängstlich oder bockig die Kooperation verweigern. Andere
kommen mit dem Eingesperrtsein nicht klar, klopfen dauernd an alle Türen.
Auch die Anspannung und Erschöpfung der Pflegenden, die längst am Limit
arbeiten, überträgt sich. Manchmal sieht man sie rauchend auf dem Balkon
stehen. In ihren Schutzanzügen sehen sie aus wie Spurensicherer am Tatort.
Bundesweit leben rund 800.000 Menschen in Alten- und Pflegeheimen, eine
offizielle Statistik, wie viele Heime bereits Coronafälle bestätigen
konnten, gibt es noch nicht. „Der Personaleinsatz wird für viele betroffene
Heime schnell zum nächsten großen Problem“, weiß Birgit Eckhardt von der
Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (LAG FW) in
Niedersachsen. Dazu kommen zusätzliche Hygienevorschriften. Allein das An-
und Ablegen der Schutzkleidung bedarf einer Schulung und einer präzise
eingehaltenen Reihenfolge, sonst schleppt man am Ende doch verseuchte
Tröpfchen mit sich herum. Post holen, das Blumenwasser wechseln – auch die
vielen Kleinigkeiten, die sonst Besucher:innen übernehmen, müssen erledigt
werden. Außerdem Kontakt halten zu den besorgten Angehörigen. Diese müssen
im schlimmsten Fall aushalten, dass ihre betagten Eltern oder Großeltern
ganz allein sterben. In Wolfsburg organisieren sie jetzt Fenster-Dates für
diejenigen, die das noch können. Manche Senioren stehen dann am Fenster und
winken ihren Familienangehörigen durch die Glasscheibe zu.
Für den Dienst auf der Coronastation haben sich genug Freiwillige gefunden.
„Wer sich nicht in der Lage sieht, auf die Infiziertenstation zu gehen,
muss auch nicht“, versichert Bettina Enßlen auf taz-Anfrage. Auf der
Infiziertenstation arbeiten zurzeit auch Menschen, die selbst positiv
getestet wurden, aber keine Symptome zeigen. Mit Genehmigung des
Gesundheitsamts lässt sich in solchen Fällen die Quarantäne aussetzen. Doch
wenn der Krankenstand steigt, wird es eng.
Die Landespolitik reagierte betroffen, aber auch hilflos: Sozialministerin
Carola Reimann wettert zunächst über unverantwortliche Angehörige, die ihre
Lieben zum Kaffeeklatsch aus dem Heim holen. Dann erließ sie ein
Aufnahmeverbot für alle Pflegeeinrichtungen, sofern sie keine umfassende
Quarantäne gewährleisten können. In Wolfsburg geht man nun davon aus, dass
das Virus mit einem neuen Bewohner ins Heim kam. Alle Maßnahmen zielen
darauf ab, ein Einschleppen des Virus zu verhindern. Doch was, wenn es
einmal drin ist?
## Die Dunkelziffer ist vermutlich hoch
Für Birgit Eckhardt von der LAG FW ist längst klar, welche Lehren man auch
aus dem Wolfsburger Desaster ziehen muss: mehr Schutzkleidung für
Pflegekräfte und schnellere, umfangreichere Tests in den Heimen. Nur so,
glaubt sie, ließen sich Ausbrüche frühzeitig eindämmen. Die Zahl der
positiv Getesteten sinkt in Wolfsburg, seit die Bereiche konsequent
getrennt sind.
Am ebenfalls betroffenen Klinikum Wolfsburg agierte der Krisenstab anders:
Als sich hier Mitarbeiter:innen mit Covid-19-Symptomen meldeten, wurde
sofort umfangreich getestet – trotz Wochenende. Am Montag und Dienstag lag
dann ein Großteil der Ergebnisse vor. Allerdings müssen die Tests in kurzen
Abständen wiederholt werden, um tatsächlich alle Infizierten schnell finden
und isolieren zu können. Der Aufwand ist hoch, und bisher ist er eben nur
für den medizinischen Bereich vorgesehen, der zur kritischen Infrastruktur
gehört – auch um die begrenzten Kapazitäten zu schonen.
Doch wenn sich das Drama von Wolfsburg nicht an vielen Orten wiederholen
soll, wird man umsteuern müssen. Schon jetzt, sagt Eckhardt, sei die
Dunkelziffer hoch. „Wir sehen in vielen Einrichtungen erhöhte
Mortalitätsraten, höher als in den üblichen Grippemonaten – aber getestet
wird nur, wenn es eine eindeutige Symptomatik gibt. Wenn das ohnehin schon
geschwächte Herz nicht mehr mitmacht, testet niemand.“
In Wolfsburg ermittelt nun auch noch die Staatsanwaltschaft Braunschweig,
wegen des Verdachts fahrlässiger Tötung. Ein Anwalt hat die Diakonie
angezeigt. Gleichzeitig kann sich das Heim vor Hilfsangeboten kaum retten.
Und man schöpft ein wenig Hoffnung: „Ein Bewohner saß heute Morgen im Bett
und hat gesungen“, schreibt die Diakoniesprecherin in einer ihrer täglichen
Mitteilungen.
4 Apr 2020
## AUTOREN
Nadine Conti
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