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# taz.de -- Der Mensch denkt und Corona lenkt: Bei Rammstein im Alptraum
> Als Musikerin ist unsere Autorin gerade quasi in Corona-Frührente. Immer
> noch besser als bei einer Skandalband mitzuspielen, findet sie.
Bild: Band zum Schreien: Szene aus Rammsteins-Video „Radio“, projiziert auf…
Alle arbeiten wieder. Die im [1][„Homeoffice“] (Unwort des Jahres) sowieso,
aber auch alle anderen. Nur ich hab weiterhin nichts zu tun. Die Konzerte,
die vom April und Mai auf September verschoben wurden, werden nun auf 2021
verlegt. Andere soloselbstständige Musiker*Innen schreiben: „Huch! Ich hab
ja mehr zu tun als vor Corona!“ und zählen ihre Streamaktivitäten auf.
[2][„Streamen“ ist das zweite Unwort des Jahres.]
Ich streame nicht, ich häng lieber ein bisschen rum. Es ist fast wie
früher. Was hat man da bloß immer gemacht? Da war man eben jede Nacht
unterwegs und hat sich tagsüber erholt, um abends wieder loszuziehen. Aber
abgesehen davon, dass die Freund*innen jetzt alle entweder Kinder,
Beziehungen oder viel Arbeit haben, hat man ja auch selbst nicht mehr die
Kondition für ein tägliches Ausgehprogramm, und es ist ja auch nicht mehr
so interessant wie früher.
Dann bin ich eben Frührentnerin, nur eben ohne Rente. Freund*innen sagen,
ich soll jetzt mal die Grundsicherung für Künstler*innen beantragen, bevor
alle Reserven verbraucht sind. Ich will zuerst nicht, aber Corona-Zeiten
sind anders prekär als frühere prekäre Zeiten. Nun bin ich also
soloselbstständige Hartz-IV-Künstlerin. Es ist gar nicht so schlimm, und es
geht ja wieder vorbei. Eines Tages wird es wieder volle Konzerte, Stücke
mit 20 Leuten auf der Bühne geben. Jetzt ist erst mal Sommer, und ich hab
den Rest vom Jahr frei.
Nachts aber plagt mich ein schwerer Albtraum. Ich spiele bei [3][Rammstein
mit, gehöre zur Band], stehe mit den Typen in einem großen Backstage rum
und bin verzweifelt. Was hab ich denn mit denen zu tun? Wie bin ich bloß
hierhergekommen? Ich fand die doch immer so schlimm, so blöd, so dumm. Und
dieser schreckliche [4][Sänger mit seinen Vergewaltigungsgedichten] und die
ganze Naziästhetik, das richtet sich doch gegen alles, wofür ich stehe!
Warum mache ich da mit? Aber das Konzert geht gleich los, und es gibt
keinen Weg zurück.
## Weiß geschminkt und in Betttücher gewickelt
Die Musiker haben weiß geschminkte Gesichter und sind mit weißen Togas oder
Togen – so um den Körper geschlungene Betttücher – bekleidet. Der Sänger
spricht mich an, ich müsse dann aber beim Konzert schon ein bisschen Haut
zeigen. Betreten nicke ich und hoffe es reicht, wenn ich auf der Bühne mal
einen Arm aus der Toga strecke.
Mein Herz, meine ganzen inneren Organe sind vor Kummer schwer wie Stein,
auch außerhalb des Körpers lastet etwas ganz Schweres auf mir – Gedanken
rasseln durchs Gehirn, aber ich kann mich trotz der größten Anstrengung
nicht entsinnen, wann und warum ich mich darauf eingelassen hatte, bei
Rammstein mitzumachen.
Dann wird eine große Rückwand des Backstagebereichs wie von Zauberhand
hochgezogen, und dahinter kommt ein Supermarkt zum Vorschein, mit
Einlassbereich und Einkaufswagen, wie bei Rewe oder Edeka. In
weihnachtlicher Dekoration werden Elektrowaren, und teure Markenartikel
präsentiert. Ich verstehe: Das ist wie bei den Oscars, da kriegen die Stars
ja auch wertvolle Präsente. Und bei Rammstein gehört wohl zu jedem
Backstage ein Geschenke-Supermarkt, steht vielleicht so im Tour-Rider.
Schweißgebadet erwache ich, erkenne nach und nach die Umrisse meines
Schlafzimmers, werde mir langsam bewusst, dass ich doch nicht bei Rammstein
spiele, sondern bei mir zu Hause und immer noch Corona-Frührentnerin bin.
Was für ein Glück! Aber was will mir dieser Traum nur sagen?
In der folgenden Woche scheint es plötzlich ein bisschen aufwärts zu gehen.
Konzerte werden angefragt, in kleiner Besetzung, draußen. Theaterprojekte
für 2021 verabredet. Geht es wirklich weiter? Die Stimmung hebt sich. Aber
erst mal abwarten. Denn der Mensch denkt und Corona lenkt.
13 Jul 2020
## LINKS
[1] /Die-Wahrheit/!5693249
[2] /Der-musikalische-Sommer-in-Berlin/!5691726
[3] /Rammstein-Konzert-in-Berlin/!5602295
[4] /Till-Lindemanns-Lyrik/!5676513
## AUTOREN
Christiane Rösinger
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