| # taz.de -- Kaum Termine in der Corona-Zeit: Nebel im Gehirn | |
| > Dauernd müde – und welcher Wochentag war noch gleich? Nach der langen | |
| > Zeit ohne Termine können einen Kleinigkeiten völlig aus dem Konzept | |
| > bringen. | |
| Bild: Beim nächsten Mal desinfiziere ich auch meine Hände. Versprochen! | |
| Nach Wochen ohne Termine bin ich irgendwie ein bisschen aus der Zeit | |
| gefallen. Das letzte Mal hatte ich diesen Zustand nach der Geburt meines | |
| Sohnes. Später habe ich gelernt, dass man diesen Nebel im Gehirn | |
| „Still-Demenz“ nennt. Analog nennt man das, was ich jetzt erlebe, dann wohl | |
| „Corona-Demenz“. Ständig suche ich irgendwas, oft vergesse ich, welchen | |
| Wochentag wir gerade haben, ich schlafe nur noch stundenweise und bin | |
| dauernd müde. Es macht mich fertig. | |
| Jetzt haben seit Kurzem die Berliner Bibliotheken wieder auf. Das ist | |
| super, da ich einen Großteil meiner Lektüre, unserer Hörspiele und Filme | |
| dort ausleihe. Leider sind die Öffnungszeiten noch eingeschränkt, aber das | |
| wäre normalerweise kein Problem. Ich bin gut mit Terminen und | |
| Öffnungszeiten. Nein, ich war gut darin, vor Corona. Jetzt leider nicht | |
| mehr. | |
| Montag, Mittwoch, Feitag, 13–19 Uhr, das sind die Zeiten. Oft scheitere ich | |
| schon am Wochentag und stehe vor herabgelassenen Rollläden. Wenn ich aber | |
| zufällig wirklich am richtigen Tag zur richtigen Zeit da bin, muss ich | |
| natürlich alle Coronaregeln beachten. | |
| Am Eingang steht ein junger Mann und fragt nach dem Bibliotheksausweis. | |
| Dann muss ich die Maske aufsetzen und einen Einkaufskorb nehmen. Eingang | |
| und Ausgang sind durch rot-weißes Flatterband voneinander getrennt, damit | |
| man sich nicht zu nahe kommt. Eigentlich alles gut zu bewältigen. Trotzdem | |
| vergesse ich meistens was, zum Beispiel den Korb. Oder ich gehe durch die | |
| falsche Tür raus, was mir dann sehr peinlich ist. | |
| ## Wie ein Roboter | |
| Mittlerweile halte ich wenigstens den Ausweis immer schon bereit, bevor ich | |
| reingehe, und zeige ihn unaufgefordert vor. Der junge Mann fragt trotzdem | |
| nach, wie ein Roboter. Vielleicht hat er dieselben Probleme wie ich. | |
| Diesen Mittwoch nun ist etwas anders. Am Eingang steht statt des | |
| gelangweilten Mannes eine junge agile Frau mit Maske. Ich halte ihr | |
| ungefragt den Ausweis hin, nehme den Korb, die Maske hatte ich schon | |
| draußen aufgesetzt. Ich fühle mich gut, zum ersten Mal hab ich an alles | |
| gedacht. | |
| Da aber sagt sie etwas. Ich verstehe es nicht, wegen der Maske. Verwirrt | |
| frage ich nach. Beim dritten Mal kapiere ich: ich soll meine Hände | |
| desinfizieren. Der Kampfgeist erhebt seine Stimme in meinem Inneren. Ich | |
| habe vorm Losfahren zu Hause die Hände frisch gewaschen, ich bin mit dem | |
| Rad gekommen und habe nichts und niemanden angefasst. Ich will meine Hände | |
| nicht desinfizieren, das ist völliger Blödsinn. Machen die eigentlich jede | |
| Woche neue Regeln? Damit diese Verwirrungen nie mehr aufhören? | |
| Zum ersten Mal halte ich mich nicht an eine Coronavorschrift und gehe | |
| wortlos an der Frau vorbei. Meinen Ausweis, den ich vorschriftsmäßig in der | |
| Hand halte, lege ich auf ein Regal vor den Medien-Rückgabe-Automaten. | |
| Vermutlich hat mich aber dieser Zwischenfall völlig aus dem Konzept | |
| gebracht. Denn bei der Ausleihe merke ich, dass ich den Ausweis nicht mehr | |
| habe. | |
| Eigentlich will ich der Bibliothekarin sagen, dass ich ihn vermutlich | |
| draußen liegen gelassen habe, aber ich kriege das nicht hin. Sie schlägt | |
| mir vor, ihn sicherheitshalber zu sperren. Ich bin verzweifelt, es fühlt | |
| sich an wie ein schlechter Traum. Der liegt doch da draußen, ich muss ihn | |
| doch nur holen, hier muss nichts gesperrt werden, das macht doch alles nur | |
| noch komplizierter, verdammt. Ich weiß es – und kann es nicht artikulieren. | |
| Wegen des Nebels im Gehirn. | |
| Irgendwann sammle ich mich, staple meine Medien vor ihr auf, gehe zur | |
| falschen Tür raus, greife mir den Ausweis vom Regal und lege ihn | |
| triumphierend vor der Bibliothekarin ab. „Gut, dass ich den noch nicht | |
| gesperrt hatte“, sagt sie freundlich. Ich nicke ergeben. Beim nächsten Mal | |
| desinfiziere ich auch meine Hände. Versprochen! | |
| 6 Jul 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Gaby Coldewey | |
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