| # taz.de -- Einsamkeit und Corona: Bäume umarmen im Park | |
| > Die isländische Regierung hat ihren Einwohnern geraten, sie sollen gegen | |
| > den Berührungsmangel in Coronazeiten Bäume umarmen. Das hilft auch in | |
| > Berlin. | |
| Bild: Der stellvertretende Direktor der isländischen Forstverwaltung empfielt,… | |
| Ich gehe mal wieder Gassi mit mir selbst. Das mache ich mindestens zweimal | |
| am Tag. Für die Laune. Meistens treffe ich so einmal am Tag Paul im | |
| Hausflur. Der ist nett, aber textet einen immer genau die fünf Sätze zu | |
| viel zu, auf die man keine Lust mehr hat. Doch heute haben sich auch diese | |
| fünf Sätze zu viel gelohnt: „Meine Mutter war ein Medium“, hat er erzähl… | |
| „ich kann das deshalb auch ein bisschen, liegt wohl in den Genen, und ich | |
| sehe, du hast kein Corona. Das versichere ich dir.“ | |
| Ich nicke. Dann bemerke ich den skeptischen Ausdruck auf meinem Gesicht, | |
| lasse locker und schiebe nach: „Das beruhigt mich sehr. Vielleicht schicke | |
| ich meine Freunde bei dir vorbei, denen die Tests zu teuer sind, die aber | |
| trotzdem VertreterInnen der Risikogruppe besuchen möchten.“ | |
| Ich gehe also coronafrei im Park spazieren. Im Görlitzer Park gibt es einen | |
| Teich, den unverständlicherweise kaum jemand kennt. Drumherum viele schöne | |
| große Bäume. Als ich zum dritten Mal meine Runde drehe, fällt mir ein alter | |
| Mann auf, der auch zum dritten Mal seine Runde dreht. Und immer, wenn ich | |
| an ihm vorbeigehe, tut er so, als würde er sich einen Baum näher | |
| betrachten. Er macht dann einen Schritt ab vom Wege, fast ins Gebüsch | |
| hinein. Bei unserer dritten Begegnung verstehe ich, das macht er, [1][um | |
| unserer gemeinsamen Atemluft] aus dem Weg zu gehen. | |
| Unsereins vergisst die Ängste vieler Menschen wieder viel zu oft. Traut er | |
| sich nur selten aus seinen einsamen vier Wänden hinaus? Auf der Hut? Vor | |
| uns? Ich würde ihn gerne beruhigen. Ihm von meinem Persilschein von Pauls | |
| Wahrsagergnaden erzählen. Aber am Ende denkt der, ich bin so ein | |
| Aluhütchen. | |
| ## Das ist gesund | |
| „Die isländische Regierung hat ihren Einwohnern geraten, sie sollen gegen | |
| den Berührungsmangel in Coronazeiten Bäume umarmen.“ – Der Mann schaut mi… | |
| fragend an, ob er gemeint ist. – „Ich mache das eh schon die ganze Zeit. | |
| Gegen die Einsamkeit.“ Ich umarme demonstrativ den nächstbesten Baum. | |
| „Ich begrüße das, dass dieser Hinweis nun von ganz oben an meine | |
| Mitmenschen herangetragen wird. Bäume umarmen ist so oder so gesund. Die | |
| Liebe zwischen den Spezies ist grenzenlos.“ | |
| „Wissen Sie, was Sie da gerade umarmen?“, ruft er mir zu. | |
| Ich schaue nach oben, aber ich sehe vor lauter Blättern den Baum nicht. Ich | |
| bin zwar auf dem Land groß geworden, aber dennoch ein eingefleischt | |
| ignorantes Supermarktkind. Der einzige noch praktizierende Bauer in meinem | |
| Dorf stehe da immer mit dem Schießgewehr, um Kinder vom Acker zu | |
| vertreiben, wurden wir gewarnt, also hingen wir an der Slurrymaschine im | |
| Supermarkt herum, statt etwas über Feld, Wald und Wiesen zu lernen. „Nein, | |
| wir hatten auf'm Dorf keine Waldschule wie die Stadtkinder.“ sage ich | |
| entschuldigend. | |
| „Das ist eine...“, ruft er mir zu. Dann geht er zu einem Baum in seiner | |
| Nähe, tätschelt ihn und lässt seine Hand dann auf ihm ruhen. – „Und das … | |
| eine...“ Ich hauche meinen Baum an. „Der reinigt jetzt die Atemluft und | |
| schickt sie sauber zu Ihnen. Dann können wir Pingpong spielen mit dem | |
| Sauerstoff.“ | |
| Er lacht freundlich, findet das aber wahrscheinlich albern. War es ja auch. | |
| Aber mir fiel nichts Besseres ein, um eine nette Verbindung herzustellen. | |
| Mit Poesie hab ich es nicht so. Schon gar nicht spontan. Poesie ist | |
| Mathematik mit Worten. Und Mathe ist doch ein Arschloch, wie Sie wissen. | |
| „Ich war lange nicht mehr draußen“, sagte er. – „Ja, das habe ich | |
| befürchtet.“ – „Schön hier.“ | |
| Wir winken uns zu. Als ich mich noch mal umdrehe, hat er seine Arme vor | |
| einer Linde ausgebreitet und lässt seinen Kopf an die Rinde sinken. Linden, | |
| die kenne ich, die kleben jetzt in voller Blütenpracht so wundervoll. | |
| 30 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sarah Diehl | |
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