| # taz.de -- Einsamkeit als Phänomen: Bloß ein Gefühl | |
| > Braucht man wirklich ein Einsamkeitsministerium? Jakob Simmank hat einen | |
| > wunderbaren Essay über die Fallstricke eines Gegenwartsdiskurses | |
| > geschrieben. | |
| Bild: Gentrifizierung in London. Harte Ökonomie, die Armut erzeugt, und dann v… | |
| Einsamkeit, so hört man immer öfter, sei eine Krankheit. | |
| Neurowissenschaftler wie [1][John Cacioppo] und [2][Manfred Spitzer] | |
| vertreten prominent diese These. Sie stützen sich auf Untersuchungen, die | |
| einen Zusammenhang zwischen Einsamkeit und vorzeitigem Sterben behaupten. | |
| In der reißerischen Diktion Spitzers wird daraus ein „Killer“, | |
| „Todesursache Nummer eins“ und die [3][„Epidemie Einsamkeit“]. | |
| Dagegen wendet sich in einem neu erschienenen Buch der | |
| Wissenschaftsjournalist Jakob Simmank. „Einsamkeit. Warum wir aus einem | |
| Gefühl keine Krankheit machen sollten“ ist ein knapp einhundert Seiten | |
| umfassender Essay, der in seiner Argumentation ausgesprochen prägnant ist. | |
| Und der sich gegen die Tendenz wehrt, Verwerfungen und Ambivalenzen des | |
| Sozialen rein medizinisch zu erklären, was zwingend die Frage dem passenden | |
| Medikament nach sich zieht. | |
| Dass dieser Prozess hingegen bereits in vollem Gange ist, zeigt unter | |
| anderem das in Großbritannien 2018 geschaffene [4][Einsamkeitsministerium], | |
| das erste seiner Art weltweit, oder Veranstaltungen wie die „Loneliness | |
| Awareness Week“, mit denen das Ausmaß und die Gefährlichkeit der | |
| vermeintlichen Krankheit bekannt gemacht werden soll. | |
| Immerhin gelten bis zu 9 Millionen Briten als betroffen, ist zu lesen. Nun | |
| wendet Simmank ein, dass solche Strategien gegen Einsamkeit zwar nicht zu | |
| verdammen seien, aber angesichts der Verwüstungen durch die | |
| Austeritätspolitik der vergangenen Jahre und Jahrzehnte eher eine | |
| PR-Kampagne als tatsächliches Handeln sei – zudem das Ministerium nur ein | |
| Budget im niedrigen zweistelligen Millionenbereich hat. Das dürfte ungefähr | |
| so sinnvoll sein wie das Bild eines Rettungsrings für einen Ertrinkenden. | |
| ## Zerrissene soziale Beziehungen | |
| Wenn die sozialen Beziehungen der Menschen zerrissen werden, weil sie aus | |
| den Städten verdrängt werden, in denen sie sich ein Leben nicht mehr | |
| leisten können und sich mit drei Niedriglohnjobs durchkämpfen müssen oder | |
| in die Arbeitslosigkeit gedrängt werden, wenn der öffentliche Nahverkehr | |
| kaputt gespart und soziale Einrichtungen geschlossen werden, dann wird | |
| einem eine [5][„Awareness Week“] kaum helfen. | |
| Das sieht dann auch die Forschung so, die bereits eine Pille gegen | |
| Einsamkeit entwickelt. Das Steroidhormon Pregnenolon soll der Wirkstoff des | |
| Wundermittels sein, geforscht wird daran unter anderem von Stephanie | |
| Cacioppo, der Witwe von John Cacioppo. Anzuwenden immer dann, wenn man sich | |
| einsam fühlt. Doch Simmank hat einen grundsätzlichen Einwand. | |
| Man dürfe Einsamkeit nicht wie ein zu beseitigendes Übel behandeln, sondern | |
| müsse es als ein ambivalentes Gefühl betrachten. Auf Distanz zu gehen, kann | |
| durchaus wohltuend sein, in der im Englischen gebräuchlichen Unterscheidung | |
| zwischen loneliness und solitude klingt das noch an. Es komme mehr auf | |
| Einsamkeitsfähigkeit an, so Simmank, also die Fähigkeit, solche | |
| Ambivalenzen aushalten zu können. | |
| Statt über Einsamkeit als Krankheit müsse man über soziale Isolation | |
| sprechen, schreibt Simmank. Es sei bezeichnend, dass der emotional | |
| aufgeladene Einsamkeitsdiskurs mit all seinen medizinisch-pharmakologischen | |
| Implikationen die gesellschaftlichen Voraussetzungen verdeckt. Arme | |
| Menschen sterben früher als reiche, aber das habe keine Kampagnen zur | |
| Folge. Armut lässt sich dann doch schlecht als Schicksal und Krankheit | |
| verkaufen. Das ist bei Einsamkeit schon einfacher, obwohl ebenfalls | |
| unzutreffend. | |
| ## It's the economy, stupid! | |
| Mit einer abstrakten Kulturkritik, die alles auf die Flüchtigkeit und | |
| Hektik unserer Zeit zu schieben versucht, kann Simmank allerdings auch | |
| nichts anfangen. Er beharrt darauf, dass es um die ökonomischen und | |
| politischen Bedingungen geht, die letztlich den entscheidenden Unterschied | |
| zwischen unfreiwilliger und freiwilliger Einsamkeit machen. „Wir haben ein | |
| gesellschaftliches Problem“, heißt es gegen Ende des Buchs. | |
| Simmank schlägt sozialpolitische Maßnahmen vor, die weitaus grundsätzlicher | |
| ansetzen – wie eine bessere Verteilung von Arbeit, die Wertschätzung von | |
| Sorgearbeit, die Schaffung von Begegnungsorten und die Bekämpfung der | |
| Altersarmut. | |
| Wer also künftig nicht nur in seiner Wohn- und Arbeitszelle ein paar Pillen | |
| schlucken möchte, um das Elend noch aushalten zu können, sollte nicht nur | |
| zur Kenntnis, sondern auch ernst nehmen, was Simmank an dem herrschenden | |
| Diskurs über Einsamkeit kritisiert. | |
| 19 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.johncacioppo.com/ | |
| [2] https://www.droemer-knaur.de/autor/manfred-spitzer-3001722 | |
| [3] https://www.hr1.de/programm/hirnforscher-prof-manfred-spitzer-ueber-corona-… | |
| [4] https://www.aerzteblatt.de/archiv/196430/Strukturpolitik-Symptom-Einsamkeit | |
| [5] https://www.awarenessdays.com/awareness-days-calendar/category/awareness-we… | |
| ## AUTOREN | |
| Jakob Hayner | |
| ## TAGS | |
| Gentrifizierung | |
| Einsamkeit | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Kolumne Der rote Faden | |
| Wald | |
| Kolumne Berlin viral | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Corona, Beherbungsverbote und Hesse: Flucht aus dem Risikogebiet | |
| Im Vergleich zu den USA geht es uns Deutschen noch gut: Wir haben die Wahl, | |
| ob wir uns der Gefahr aussetzen oder zu Hause bleiben. | |
| Waldbewohner über Distanz: „Der Wald hat mich gerettet“ | |
| Günther Hamker wohnt seit über 50 Jahren in einer Hütte in | |
| Südniedersachsen. Ein Gespräch über Alkoholsucht, schnarchende Hunde und | |
| Einsamkeit. | |
| Einsamkeit und Corona: Bäume umarmen im Park | |
| Die isländische Regierung hat ihren Einwohnern geraten, sie sollen gegen | |
| den Berührungsmangel in Coronazeiten Bäume umarmen. Das hilft auch in | |
| Berlin. | |
| Psychoanalytiker über Corona-Krise: „Jeder sieht, was er sehen möchte“ | |
| Was bringt die Coronakrise in uns hervor: Solidarität oder Egoismus? Ein | |
| Gespräch mit dem Psychoanalytiker Peter Schneider. |