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# taz.de -- Corona, Beherbungsverbote und Hesse: Flucht aus dem Risikogebiet
> Im Vergleich zu den USA geht es uns Deutschen noch gut: Wir haben die
> Wahl, ob wir uns der Gefahr aussetzen oder zu Hause bleiben.
Bild: Auf dem Einhorn aus den Risikogebiet? Lübeck während einer Sturmflut am…
Wie geht’s denn so im [1][Risikogebiet]? Die Woche begann mit diesem, durch
ironische Fröhlichkeit nur mühsam überdeckten Anruf meiner Mutter aus einem
bayerischen Gerade-mal-nicht-Risikogebiet. Berlin-Mitte! Inzidenz
schwindelerregend! Alltagsverhalten hochriskant! Überall feiernde junge
Leute, hochzeitende Großfamilien, unbekümmert sich vor Gemüsemärkten und
Spätis ballende Menschentrauben. Über Nacht war meine Wahlheimat in
Verdacht geraten.
Und wie immer ist es mit den Statistiken und Fernsehbildern so: Ja, es ist
alles wahr – und zugleich auch wieder nicht. Man kann durchaus risikoarm
leben mitten im Risikogebiet. Zum Beispiel den Laden meiden, dessen
Besitzer und Stammkundschaft auf Masken pfeifen. Aber was bringt einem das,
wenn die Herbstferien anstehen und die Nachrichten voll sind von
MinisterpräsidentInnen anderer Bundesländer, die mit
[2][Beherbergungsverboten] versuchen, sich die Virenschleudern aus den
Hotspots vom Hals zu halten?
Es ist ein ungutes Déja-vu: Der Tag beginnt wieder, wie im Frühjahr, mit
der Prüfung der Infektionskurve auf der Website des
Robert-Koch-Instituts, im Radio kreisen die Nachrichten um Worte wie
Reisewarnung und Kanzleramtsgipfel – und die Kinder fragen: „Können wir
jetzt zu Oma?“ Tja: „Wir beobachten die Lage“, sage ich zu den Kindern –
einer dieser typisch windelweichen Erwachsenensätze, der zurzeit aber
wirklich mal zutrifft. Denn von Tag zu Tag ändert sich die Lage ja
tatsächlich.
Erst macht Schleswig-Holstein dicht für Urlaubsgäste aus Berlin, dann
Brandenburg, dann hört man, [3][Merkel und die MinisterpräsidentInnen]
erwögen „bundesweit einheitliche Maßnahmen“, und am Ende spricht die
Kanzlerin angesichts des föderalen Starrsinns von Unheil. Ein merkwürdig
hilfloses Wort aus dem Munde einer modernen Staatenlenkerin, das sich
geradezu biblisch ausnimmt neben den medizinisch-technokratisch anmutenden
Begriffen, die uns gerade begleiten.
Unheil, das klingt nach: „Seltsam, im Nebel zu wandern! / Leben ist
Einsamsein. / Kein Mensch kennt den anderen. / Jeder ist allein.“ Ja, jeder
ist allein, bastelt sich die eigene Risikoabschätzung zurecht, wie es mit
dem eigenen Gewissen zu vereinbaren und mit dem Alltag gangbar ist. In
unserem Fall heißt das: Freiwillige Selbstquarantäne – noch ein Großeinkauf
und dann eine Woche Homeoffice für die Eltern und Rumhocken für die Kinder,
damit wir doch noch zu Oma fahren können.
## Das Gefühl der freien Wahl stärkt die innere Akzeptanz
Spaß ist das keiner, dieser Spagat zwischen Nachrichtenlage und Essen
kochen, Texte redigieren und Kindern Alternativen zum Smartphone verordnen
(„geht doch mal in den Park, Kastanien sammeln!“) – aber er ist wenigstens
selbst gewählt. Und mit dem Gefühl, die Wahl zu haben, steigt auch die
innere Akzeptanz.
Wer aber nicht die Wahl hat, wie die US-AmerikanerInnen, die im
virologischen wie politischen Risikogebiet leben und trotzdem täglich zur
Arbeit müssen und einkaufen –- wer sich also täglich einer großen Gefahr
aussetzen muss und vom eigenen Präsidenten weder Vorschläge noch
Versprechen für gesundheitspolitische Maßnahmen zu hören bekommt, sondern
nur Hohn (stellt euch mal nicht so an, ich hab’s ja auch überstanden) – der
oder die hat womöglich noch nicht einmal die Wahl, sich per Stimmabgabe für
einen anderen Kurs an der Staatsspitze einzusetzen:
Weil er oder sie sich aufgrund von bürokratischen Tricksereien gar nicht
erst registrieren lassen kann. Oder weil die Briefwahlurne, die da vor der
Tankstelle oder neben dem Waffenladen (!) steht, mit der Aufschrift
„official ballot drop box“ eigenhändig von den Republikanern aufgestellt
wurde, wie gerade in Kalifornien geschehen.
Der mit [4][Steroiden vollgepumpte Chefzyniker im Weißen Haus] und seine
AnhängerInnen lassen nichts unversucht, um mit Methoden, die man eher in
zentralasiatischen Halbdiktaturen vermuten würde, einen politischen Wandel
zu verhindern. Wenn [5][Jens Spahn, deutscher Gesundheitsminister] und
Kanzlerkandidat vieler Herzen, recht hat und Corona ein „Charaktertest“ ist
für eine Gesellschaft – dann ist Donald Trumps Amerika durchgefallen. Aber
das ist nun ja nichts Neues.
Wenn aus Mangel an politischer Einigkeit der Umgang mit dem Coronavirus auf
eine persönliche Moralfrage zusammengeschrumpft ist, dann will ich diese
Woche auch privat zu Ende erzählen: Nach Quarantäne Flucht aus dem
Risikogebiet mit Pinkelpause im Gebüsch statt auf dem Raststättenklo und
Kaffee aus dem Drive-in. Unauffällig den Pkw mit dem verdächtigen
Nummernschild abgestellt.
Stuttgarter Zeitung lesen („Wichtiger als einheitliche Regeln ist die
Bereitschaft zur Selbstdisziplin“). Und hoffen auf einen Abstecher an den
Lago Maggiore, in die Gegend, die schon Hermann Hesse seine Nebelfantasien
ausgetrieben hat. Der Coronawinter wird noch lang genug.
17 Oct 2020
## LINKS
[1] /Berlin-ist-Corona-Risikogebiet/!5719155&s=risikogebiet/
[2] /Umstrittene-Massnahme-gegen-Corona/!5719387&s=risikogebiet/
[3] /Bund-Laender-Gipfel-zur-Coronalage/!5719765&s=merkel/
[4] /Corona-Infektion-des-US-Praesidenten/!5718292&s=trump/
[5] /Jens-Spahn-und-RKI-zur-Coronalage/!5719076&s=charaktertest/
## AUTOREN
Nina Apin
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