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# taz.de -- Jetzt lernt man seine Nachbarn kennen: In jedem Haus ein Aluhut
> Es ist eng in der Großstadt. In Coronazeiten lernt man seine Nachbarn
> kennen – oft mehr, als einem immer lieb ist.
Bild: Bitte keine Werbung
In den letzten Monaten habe ich meine Nachbarn kennengelernt. Zuerst habe
ich sie immer öfter gesehen, im Treppenhaus, im Hinterhof, auf ihren
Balkonen. Dann habe ich immer mal wieder mit ihnen geplaudert, im
Treppenhaus, vom Hinterhof zu ihren Balkonen hoch. Mittlerweile kenne ich
sie besser, als ich es gern hätte.
Ganz unten wohnt eine kleine Patchwork-Familie. Die Teenager-Tochter
balanciert lieber auf der im Hinterhof aufgespannten Slackline, als mit dem
neuen Freund ihrer Mutter und derselben auf dem Balkon Kuchen zu essen. An
einem sonnigen Nachmittag habe ich mich mal für fünf Minuten auf die
Slackline gesetzt und bin ein bisschen hoch und runter gewippt. Seitdem
hängt ein Sitzverbotsschild an der Leine.
Über der Patchwork-Familie lebt ein junges Sportlerpaar, das ich immer nur
zusammen und immer nur in Radlerkleidung und Helm antreffe. Dann ist da die
alleinerziehende studierende Mutter mit ihrer kleinen Tochter, die mir ihre
neuesten Schürfwunden zeigt, während ich interessiert nicke.
Die Tochter nennt ihre Mutter nicht Mama, sondern „Tanja“, was ich erst
nach einer Weile verstanden habe. Noch länger hat es gedauert, bis ich
verstanden habe, dass die Tochter „Anja“ heißt und nicht ebenfalls „Tanj…
Etwa drei Wochen lang war ich der Mutter deswegen mit Skepsis begegnet.
Im zweiten Stock lebt das andere junge Paar, das sich zum Coronastart zwei
kleine Katzen zugelegt hat, die nun immer im Hof herumstreunen. Wenn ich
und mein Freund – wir sind das dritte junge Paar im Haus – auf das zweite
junge Paar mit den Katzen treffen, wird es durch die beidseitige Ahnung,
man müsse sich wohl jetzt eigentlich anfreunden, immer etwas unangenehm.
## Grillen zum Lockdown
Letztens kamen mir dann aber das junge Paar mit den Katzen zusammen mit dem
Sportlerpaar sowie Holzkohle und Gemüsespießen auf der Treppe entgegen.
Nachdem ich zuerst beleidigt war, dass wir als einziges junges Paar aus dem
Haus nicht zum Grillspaß eingeladen wurden, war ich dann doch ganz froh,
dass sich die beiden gefunden haben, wenn es mit uns schon nicht geklappt
hat.
Im vierten Stock wohnt unser Verschwörungstheoretiker. Der wollte ganz zu
Beginn des Lockdowns, etwa Ende März, unbedingt grillen – als sonst niemand
wollte. Es kam zu noch viel unangenehmeren Gesprächen, und ich war sehr
froh, dass die Mutter der Slackline-Teenagerin beherzte und ausdauernde
Widerworte fand.
Mittlerweile glaube ich, dass jedes Haus eine(n)
Verschwörungstheoretiker(in) hat. Als ich Freunden von meinem
Verschwörungstheoretiker erzählt habe, haben sie von ihren erzählt: vom
Paar nebenan, das seine Kinder aus Angst vor Staatsinfiltrierung seit
einem Jahr nicht mehr in den Kindergarten schickt. Oder vom
Berghain-Barkeeper, dessen Freundin sieben Wochen lang mit allen
Coronasymptomen schrecklich krank im Bett lag, der sie aber nicht ins
Krankenhaus oder zum Arzt gebracht hat, weil man kränker zurückkomme.
Ich kenne meine Nachbarn gut. Zu gut. Ich habe mich letztens dabei ertappt,
dass ich vorm Losgehen nach eindringlichem Lauschen durch den Türspion
geschielt habe, bevor ich die Wohnungstür aufgemacht habe.
Vor einigen Tagen hatte ich einen frühen Arzttermin. Als ich um sieben Uhr
morgens in den Hinterhof ging, um mein Fahrrad abzuschließen, saß dort eine
rauchende Frau mit Kaffeetasse, die ich noch nie zuvor gesehen habe, in der
Morgensonne.
Ich blieb stehen und überlegte, wie sie durch die beiden Haustüren in den
Hinterhof gekommen sein könnte. Da schaute sie mich an und sagte: „Tag, du
musst Marlene sein. Ich wohne neben dir und hab ein Paket für dich
angenommen.“
16 Jun 2020
## AUTOREN
Marlene Militz
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