| # taz.de -- Alltagsrassismus und Corona: Abstand, für uns normal | |
| > Ein Meter achtzig? Das ist der Abstand, den uns gegenüber sowieso alle | |
| > einnehmen. Wir, das sind die Nichtdeutschen, die mit dunklerer Hautfarbe. | |
| Bild: In der Pandemie Ausdruck von Fürsorge, sonst auch Ausdruck von Rassismus… | |
| In den Coronatagen sind wir in unserem Element. Mit „uns“ meine ich die | |
| anderen, die Nichtdeutschen, die Freaks, die mit dunklerer Hautfarbe, die | |
| womöglich nur gebrochen Deutsch sprechen können, die Außenseiter. Für uns | |
| ist diese Anormalität die Norm. Wir fühlen uns sicher. Die Leute halten | |
| Abstand? Ein Meter achtzig? Für uns ist das der Abstand, den uns gegenüber | |
| sowieso alle einnehmen. Die Leute wechseln die Straßenseite? [1][Normal.] | |
| Ich sitze in einem Wartezimmer. An der Wand ein Zettel mit der Bitte, keine | |
| Mobiltelefone zu benutzen. Um mich herum nur Männer, keiner von ihnen aus | |
| dem „Wir“-Team. Alle haben ihre Telefone in der Hand, also nehme ich meins | |
| auch heraus und lese Nachrichten aus meinem Land. | |
| Ein Mann kommt herein, sucht nach einem Platz. Bevor er sich setzt, fragt | |
| er mich, ob ich das Schild nicht gesehen hätte? Warum ich mein Telefon | |
| benutze? Keiner der Anwesenden schaut auch nur auf. Ich stecke das Telefon | |
| ein. | |
| Minuten später klingelt es, der Klingelton ist „Maneater“ von Hall & Oates. | |
| Der Mann, der mich ermahnt hat, zieht sein Telefon aus der Tasche und | |
| spricht gute drei Minuten lang laut hinein. | |
| Ein paar Tage später, Ostbahnhof, ich trete durch den Hintereingang ein, | |
| vor mir zwei junge Männer. Ihnen kommt ein asiatisch aussehender Mann | |
| entgegen. Als er auf der Höhe der beiden angekommen ist, tritt ihm einer | |
| der beiden von hinten in den Rücken. Als der Angegriffene sich umdreht, | |
| spucken ihm die beiden ins Gesicht und beschimpfen ihn. Ich frage den Mann, | |
| ob alles in Ordnung ist. Er nickt nur und geht weiter, als sei das alles | |
| völlig normal. | |
| Am nächsten Tag gehe ich mit meiner Tochter spazieren. Wir beide haben | |
| dunkle Haut, aber wenn wir zusammen durch Berlin gehen, fühlen wir uns | |
| sicher. Die Stadt verlassen wir meist mit dem Zug oder dem Flugzeug. Wir | |
| fahren nie an die Seen im Umland. Dort liegen zu viele Leute in der Sonne, | |
| um sich zu bräunen, die uns nicht mögen, weil wir mit dunkler Haut geboren | |
| sind. Wenn mich meine Tochter nach dieser Absurdität fragt, sage ich ihr, | |
| diese Leute seien nur neidisch auf uns. | |
| Inzwischen sind wir an der Grenze von Mitte und Prenzlauer Berg angekommen | |
| und meine Tochter schlägt vor, kurz Pause zu machen. Wir halten vor einem | |
| Hauseingang. | |
| Eine Frau Mitte dreißig kommt aus dem Haus. Sie bleibt im Eingang stehen | |
| und starrt uns eine Minute lang schweigend an. Schließlich geht sie an uns | |
| vorbei, zieht ihr Telefon aus der Tasche, spricht hinein und blickt sich im | |
| Weggehen immer wieder nach uns um. Sie verschwindet um die Ecke, taucht | |
| aber bald wieder auf der anderen Straßenseite auf und starrt uns weiter an. | |
| Ich rufe hinüber: „Hey, ist alles okay?“ | |
| Sie spricht in ihr Telefon, wobei es mir scheint, dass niemand am anderen | |
| Ende der Leitung ist. Ich rufe noch mal: „Alles in Ordnung?“ Meine Tochter | |
| nimmt Abstand von mir, murmelt: „Papa, du weißt doch, ich kann es nicht | |
| leiden, wenn du mit deiner fadicha anfängst.“ Fadicha ist hebräischer Slang | |
| für Peinlichkeit. Ich beharre nicht auf meinen Prinzipien, aber wenn es | |
| sein muss, dann streite ich mich. Sie ist fast zwölf. | |
| Die Frau kommt über die Straße. Ich sage: „Ich habe gesehen, dass sie uns | |
| angeschaut haben, und wollte sichergehen, dass alles in Ordnung ist.“ Sie | |
| antwortet: „Nein, nein, ich habe Sie überhaupt nicht angeschaut.“ Ich: „… | |
| haben uns angeschaut, als Sie das Haus verlassen haben und als Sie | |
| weggegangen sind. Jetzt sind Sie zurückgekommen, um uns weiter zu | |
| inspizieren.“ Sie: „Nein, ich meine, ja, also ich habe Sie noch nie gesehen | |
| und jetzt stehen Sie hier. Das fand ich komisch.“ | |
| Ich: „Sie kennen sonst jeden, der vor Ihrem Haus haltmacht? Sie drehen | |
| jedes Mal Runden, wenn jemand vor Ihrem Haus steht, den Sie nicht kennen? | |
| Kennen Sie diese Leute da?“ Ich zeige auf ein Paar, das neben uns | |
| angehalten hat und sich gemeinsam über einen Stadtplan beugt. | |
| Sie: „Ich kenne diese Leute nicht, aber mir wäre wohler, wenn Leute wie Sie | |
| nicht hier stehen würden.“ Und dann ist sie weg. Vielleicht in den | |
| Weinbergspark, um sich zu bräunen. | |
| Zu Hause lese ich über Pfarrer Patrick Asomugha und stelle mir vor, wie | |
| sich die Leute mal wieder fragen: Wie ist so was möglich, hier und heute? | |
| Ja, so was ist möglich. Gegen das Virus wird es bald eine Impfung geben. | |
| Die rassistische Pandemie wird bleiben. | |
| Aus dem Englischen von Ulrich Gutmair | |
| 11 Jun 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ze'ev Avrahami | |
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