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# taz.de -- November beginnt hart: Die Blätter rauschen. Schlaf kommt
> Draußen geht alles vor die Hunde. Eine warme Jacke wird gesucht und nicht
> gefunden. Die Kinder schreiben Wunschzettel.
Bild: Als sie aufwacht, sieht sie Schafe auf dem Tempelhofer Feld
Ich sitze hier und schreibe diesen Text, und draußen geht alles vor die
Hunde. Eben hat [1][Trump sich hingestellt und behauptet, die Wahl gewonnen
zu haben,] obwohl noch nicht fertig ausgezählt ist. [2][Wien hockt in
Schockstarre]. [3][Die Infektionskarte für Deutschland färbt sich
dunkelrot]. Die Straßen von SO36 sind jetzt abends so leer, dass mir der
routinemäßige Spätabendspaziergang allein zu unheimlich ist. Einer
Freundin, die in der Linienstraße wohnt, schlage ich gemeinsames Gehen vor.
Sie schreibt zurück: „Mittlerweile werden hier in Mitte ja Bomben in
Hauseingängen gezündet und Kinder im Park erstochen, also vielleicht auch
nicht ideal?“ Herrgottssakra.
Ich unternehme Dinge, die Zuversicht versprechen. Gehe am vorletzten
Oktobertag ins Kino und schaue [4][„Und morgen die ganze Welt“]. Aber auch
wenn am Ende als Funke der Hoffnung ein Nazi-Lager in die Luft fliegt: Ich
fühle mich vorgeführt. Schließlich braucht es bloß drei Elemente, damit die
Protagonistin ihre hübsche Antifa-Militanz entwickelt: die Sicherheit eines
wohlsituierten Elternhauses, ein ausgeprägtes Faible für Welterrettung und
den Crush auf durchtrainierte Kriegerkörper. Schäm.
Danach brauche ich dringend Bier. Um zwei vor elf erhaschen wir noch ein
paar Flaschen im Späti, dessen Rollläden schon halb heruntergelassen sind,
während die Betreiber hinter der Kasse Oud spielen und traurige türkische
Volkslieder singen. Wir trinken auf dem Zickenplatz, ergehen uns in
Erinnerungen an Anti-Castor-Aktivismus im Wendland, Eierwürfe in Düsseldorf
und Nazi-Prügeleien in Wasserburg am Inn.
## Daunenjacke in Knallfarbe
Als Nächstes versuche ich, mir ein Wohlfühlkleidungsstück für den
Coronawinter zu kaufen. Es soll ein wandelnder Schlafsack sein, gefüllt mit
tierlieb gezupften Daunen – erst dann dem Tier entrissen, wenn es quasi
schon als Pekingente auf dem Teller liegt – und bitte in einer
optimistischen Knallfarbe.
Der Outdoor-Händler am Oranienplatz lacht sich schlapp. Knallfarbe? Dafür
gebe es in Kreuzberg null Nachfrage, die Kundschaft wolle es schwarz, ob
ich das nicht wisse. Wusste ich nicht. Ich dachte: Wenn irgendwo in diesem
Der-Tod-ist-ein-Meister-aus-Land den Knallfarben der Vorzug vor Aschetönen
gegeben wird, dann in meinem Bunt-is-beautiful-Xberg. Verstört verlasse ich
den Laden. Erst später kommt mir der Strohhalm-Gedanke: Könnte es eine
Antifa ohne Nachwuchsprobleme sein, die sich so konsequent in Schwarz
hüllt?
Zu Hause haben die Kinder schon Wunschzettel für Weihnachten geschrieben.
Das kleine Kind hat „1 merschweinchen, 1 eipet, 1 planschbeken, eine
faradkwitsche“ notiert und hübsche Sternchen auf den Zettel gemalt. Die
große Tochter hat ein Fußballtrikot, einen Fußball, einen Tischkicker,
einen Ausflug ins Fußballstadion und einen „Nerf Ultra One Blaster“ auf die
Liste gesetzt. Letzteres ist ein Spielzeug-MG, das aus einem Trommelmagazin
Schaumstoffpfeile abschießt.
Ist das jetzt gelungene emanzipatorisch-feministische Erziehung oder die
nächste Generation einer sich neu verhärtenden Welt?
Ich wünsche Komplexitätsreduktion und betrete im goldenen Licht des
Novemberanfangs das Tempelhofer Feld. Himmel, Wolken, gehen, durchatmen.
Nach 200 Metern fühle ich nichts als Erschöpfung und muss mich setzen. Ich
lehne am Stamm eines kleinen Ahorns, höre die Blätter rauschen und schlafe
ein. Mitten am Tag. Als ich aufwache, ziehen links von mir friedliche
Schafe vorbei. Zu meiner Rechten hält sich Jackie Thomae ein Handy ans Ohr
und plant eine Buchpremiere im HKW. Vielleicht bin ich aber auch nicht mehr
wach geworden.
6 Nov 2020
## LINKS
[1] /Reaktionen-auf-US-Wahl/!5726203
[2] /Terror-in-Zeiten-von-Corona/!5722470
[3] /Entwicklungen-in-der-Coronakrise/!5726192
[4] /Spielfilm-ueber-die-Antifa/!5721036
## AUTOREN
Kirsten Riesselmann
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