# taz.de -- Doppelbuch über Spekulative Poetik: Wir sind ein Gespräch | |
> Bisweilen sehr theoretisch, ebenso auch pointiert: Armen Avanessian und | |
> Anke Hennig führen in „I – I“ und „ONE + ONE“ einen nachdenklichen | |
> Trialog. | |
Bild: Mehrdimensionale Dialogform und Rollentausch: Anke Hennig (l.) und Armen … | |
„Viel hat von Morgen an, seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander, | |
erfahren der Mensch“, heißt es in Friedrich Hölderlins Hymne | |
„[1][Friedensfeier“]. Und sehr vieles ist bereits über diese unerhörte | |
Formulierung geschrieben worden, dass der Mensch hier nicht nur ein | |
Gespräch führt, in dem er von anderen dieses oder jenes erführe. Nein, wir | |
Menschen sind ein Gespräch, in dem wir mit- und durcheinander letztlich | |
wohl vor allem uns selbst erfahren – wer oder was auch immer das sei. | |
So ähnlich – oder vielleicht auch ganz anders – mögen die Berliner | |
Literaturwissenschaftlerin Anke Hennig und der [2][Philosoph Armen | |
Avanessian] gedacht haben, als sie es vor bald zehn Jahren unternahmen, in | |
einem schreibenden Gespräch eine „spekulative Poetik“ zu entwickeln. | |
Und tatsächlich scheint dieser Titel auch aus Hölderlins Zeit der | |
Frühromantik stammen zu können, ging es doch damals nicht zuletzt darum, | |
mit „Spekulation“ und „Poesie“ die von Immanuel Kant gerade gezogenen | |
„Grenzen der bloßen Vernunft“ zu überwinden. | |
Und doch verbirgt sich dahinter gerade kein historisches Forschungsprojekt, | |
sondern eher die Reaktion auf ein hochaktuelles Problem, nämlich die | |
Vereinnahmung der auf individuelle Kreativität und kritische | |
Selbstreflexion ausgerichteten romantischen Universitätsidee durch einen | |
das Kreativitätsparadigma kooptierenden Kapitalismus. | |
## Umfassende Abrechnung mit dem System Universität | |
Konsequenterweise hat Avanessian nach dem zweiten an der Berliner Freien | |
Universität mit Hennig geschriebenen Buch anstelle einer Habilitation in | |
„Überschrift“ (2014) eine umfassende Abrechnung mit dem System Universität | |
vorgelegt und seine Unilaufbahn beendet. Seither arbeitet er als freier | |
Autor und unterrichtet an Kunsthochschulen. Hennig ist nach Stationen an | |
[3][der Berliner] und der Londoner Universität der Künste inzwischen an der | |
Uni Bochum angestellt. | |
Gerade ist im Berliner Merve Verlag ihr drittes gemeinsames Buch als | |
Abschluss ihres Projekts erschienen, laut Untertitel eine „Spekulative | |
Poetik von Feminismus, Algorithmik, Politik und Kapital“. Es ist zugleich | |
eine Art Summe ihrer bisherigen Arbeiten, und das programmatisch | |
dialogische, Mit- und Gegeneinanderschreiben hat nun die folgerichtige | |
Ausformung gefunden, dass dieses Buch als zwei Bücher erscheint, „ONE + | |
ONE“ und „I – I“. | |
Was freilich zugleich wie ein verlegerischer Coup wirken mag, ist aber auch | |
Produkt(e) gewordenes Formprinzip, ohne das man die Inhalte nur | |
unzureichend versteht. | |
Gründete Avanessians „Anti-Kritik“ der Universität gerade darin, dass der… | |
angeblich so kritischer Geist als vom herrschenden Kapitalismus | |
inkorporiert letztlich doch nur dessen Status quo sichere, wollte die | |
spekulative Poetik der kritischen Reflexion akademischer | |
Vergangenheitsverhaftung andere Verfahrens- und Verhaltensweisen | |
entgegenstellen, die nicht nur tatsächlich zukunftsgerichtete Positionen | |
und Handlungsmöglichkeiten entwickeln, sondern diese auch umzusetzen | |
beabsichtigte. | |
## Poetik als eine Lehre des Machens | |
Poetik wird hier letztlich wörtlich verstanden als eine Lehre des | |
„Machens“. | |
Der ganz auf die vermeintlich individuell-innovative Leistung in | |
„Qualifikationsschriften“ ausgelegten akademischen Arbeit stellten sie dazu | |
ein echt kollaboratives Schreiben gegenüber, das gegensätzliche Positionen | |
nicht auf den kleinsten gemeinsamen Nenner herunterschrauben wollte, | |
sondern in dem jede/r vielmehr erst im Widerspruch der/des anderen die | |
wahre Begründung der eigenen Position finden sollte. „Du weißt es“, heißt | |
das seit dem ersten gemeinsamen Buch „Präsens“ (2012). | |
Die Schreiber kommen zu sich selbst nur durch und als die/der andere, nur | |
im und als Gespräch – oder auch Gestreit, denn was die beiden zu dieser | |
auch gendertheoretisch und psychoanalytisch begründeten Produktionsform | |
prädestiniert, ist ja gerade ihre Gegensätzlichkeit: Das Einzige, was sie, | |
den Österreicher mit armenischen Wurzeln und die auch in der Sowjetunion | |
aufgewachsene Ostdeutsche, verbinde, heißt es einmal scherzhaft, sei die | |
Ferne von den Westdeutschen. | |
In einer mehrdimensionalen Dialogform zwischen „ich“, „du“ und „wir�… | |
oftmals in der Typografie abgehoben –, die miteinander kommunizieren und | |
ihren früheren Texten widersprechen, entsprechen und ab und an auch | |
monologisieren, arbeiten sich Avanessian und Hennig nun an einer Fülle von | |
„spekulativen“ Themen ab, die ihre Konzeption des „Othering“, also einer | |
fruchtbaren Entfremdung, zugleich beleuchten und erproben sollen: | |
präemptive Kriegsführung, das Geschlecht maschineller Intelligenz, die | |
Finanzialisierung des Lebens und vieles andere mehr, was zum großen Teil | |
bereits in früheren Büchern auftauchte, hier aber in den Trialog mit sich | |
selbst und seinem anderen tritt. | |
## Äußerst prägnant, pointiert und unterhaltsam | |
Das ist bisweilen sehr theoretisch, kompliziert und keineswegs immer auf | |
allgemein verständliche – um nicht zu sagen: unakademische – Weise | |
beschrieben, immer wieder aber auch äußerst prägnant, pointiert und | |
unterhaltsam, anhand von Filmbeispielen, in biografischen oder geradezu | |
literarischen Passagen erzählt. | |
Dennoch wird dieses experimentelle Doppelbuch – dessen zwei Teile übrigens | |
auch problemlos einzeln gelesen werden können, beide allerdings vom Studio | |
HelloMe kongenial designt wurden – sicher nicht jedem gefallen und noch | |
seine Liebhaber könnten es stellenweise entnervt zur Seite legen. | |
Wer sich aber darauf einzulassen vermag, dürfte nicht nur durch viele neue | |
Einsichten belohnt werden, sondern nimmt auch Teil an einem bemerkenswerten | |
geisteswissenschaftlichen Experiment: dem unerhörten Versuch, im Denken des | |
Anderen Theorie und Praxis eins werden zu lassen. | |
Darum also nicht einfach: Gut, dass wir geredet haben. Sondern: Gut, dass | |
ein Gespräch wir sind. | |
7 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.zgedichte.de/gedichte/friedrich-hoelderlin/friedensfeier.html | |
[2] /Merve-Buch-Ethnofuturismen/!5531216 | |
[3] https://www.udk-berlin.de/startseite/ | |
## AUTOREN | |
Tom Wohlfarth | |
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