# taz.de -- Neuauflage von Donna Haraways Essays: Ein Kabel als Nabelschnur | |
> Die Aufsätze der Feministin erscheinen als „Monströse Versprechen“ in | |
> einer Neuauflage. Sie denkt Biologie, Kultur und Technologie brilliant | |
> zusammen. | |
Bild: Welche Rollen spielen Frauen im Fortschritt? Haraways Visionen sind richt… | |
Verkabelt mit Smartphone, mit Headset vor dem Bildschirm, ein Hörimplantat | |
im Ohr. Wenn es eines Belegs für die prophetische Kraft von Donna Haraways | |
Essay „A Cyborg Manifesto“ von 1985 bedürfte – die Lebenswelt des 21. | |
Jahrhunderts liefert sie täglich. | |
Reizvokabeln wie die von der „artefaktischen Natur“, die Forderung, das | |
„Bild des Cyborgs nicht länger als ein feindliches zu betrachten“, oder | |
Sätze wie: „Die Lust an Maschinenpotenzen hört auf, Sünde zu sein“, trug… | |
der 1944 geborenen Feministin und Naturwissenschaftlerin den Vorwurf einer | |
unkritischen Apologie der Technik ein. | |
Die Einsicht der US-amerikanischen Wissenschaftlerin, „nicht länger in | |
einer ‚natürlichen‘ Welt leben“ zu können, war jedoch nie affirmativ | |
gemeint. Den unwiderruflichen „Zusammenbruch der sauberen Trennung zwischen | |
Organismus und Maschine“ sah Haraway als Aufforderung an Feministinnen, | |
„Methoden für die Analyse und Herstellung von Technologien finden, die zu | |
einem Leben führen, wie wir es alle wollen, ohne Herrschaft vermittels | |
Rasse, Geschlecht und Klasse“. | |
## Inspirierende Querdenkerin | |
„Monströse Versprechen“ ist eine Neuauflage von Haraways 1995 unter diesem | |
Titel erschienenen Essays. Hier lässt sich der theoretische Werdegang einer | |
der inspirierendsten Querdenkerinnen unserer Zeit nachvollziehen. Von dem | |
lustvoll spielerischen Techno-Optimismus aus der Zeit ihres | |
Cyborg-Manifesto bis zum deutlich düstereren Ton ihres jüngsten Aufsatzes: | |
„Anthropozän, Kapitalozän, Plantagozän, Chtuluzän: Making Kin“ aus dem … | |
2015. | |
Die Einsicht in die „unumkehrbare Zerstörung“ durch den Ökozid, die sie in | |
diesem neuen Text zeichnet, ist für die heute 72-jährige Denkerin kein | |
Grund zur Positionsaufgabe oder ein Zeichen von Alterspessimismus. Mit | |
ihren „Cyborgs für irdisches Überleben“ proklamiert sie den Aufbau einer | |
artübergreifenden Widerstandfront im „Bauch des Ungeheuers Neue Weltordnung | |
AG“. | |
Nur dann sei für „Multispezies-Assemblagen, die auch Menschen umfassen, ein | |
Gedeihen“ auf dem Planeten möglich – wahrlich eine „monströse“ | |
Herausforderung für das anthropozentrische Denken. | |
„Making Kin“ – der auf den ersten Blick unverständlich klingende | |
Titel-Appendix ist ein Beleg dafür, wie produktiv sie Kultur- und | |
Naturwissenschaften verbindet. Das altertümliche Wörtchen kin hat sie bei | |
William Shakespeare entlehnt. Kin bedeutet so viel wie „Verwandtschaft“. | |
Und „Verwandtschaft machen“ versteht Haraway in dem Sinne, dass die | |
„artübergreifende Ökogerechtigkeit“ nur zu erreichen sei, wenn die | |
Verbindung zwischen Verwandtschaft und biologischer Abstammung zugunsten | |
fantasievollerer Kombinationen aufgelöst wird. | |
## Ein Affe im Weltraum | |
Noch heute großartig: ihr Aufsatz „Von Affen und Müttern. Eine Allegorie | |
des Atomzeitalters“ aus dem Jahr 1989. Darin stellt sie dem Bild der | |
Verhaltensforscherin Jane Goodall, die die runzlige Hand eines Schimpansen | |
im Gombe-Nationalpark von Tansania ergreift, die Aufnahme des verkabelten | |
Schimpansen HAM entgegen. Dieses „vollkommene Kind des Weltraums“, eine | |
frühe Kreuzung aus kybernetischer Technologie und Organismus, umkreiste im | |
Rahmen des bemannten Raumfahrtprogramms der Nasa 1961 die Erde. Der Essay | |
ist eine wirkmächtige Ikone des Gegensatzes zwischen dem mythischen | |
Ökosystem und dem Anti-Ökosystem schlechthin. | |
Die leisen Zweifel der deutschen Feministin Frigga Haug im Geleitwort, ob | |
es bei Haraways atemberaubendem Theoriemix mit rechten marxistischen | |
Dingen zugeht, widerlegt Haraways glänzender Aufsatz „Genfetischismus“. | |
Analog zu Marxens Analyse vom Fetischcharakter der Ware kritisiert sie | |
darin die Idee des Gens als allmächtigen „Master-Moleküls“. Und sieht es | |
stattdessen als sich ständig verändernden „Knotenpunkt in dynamischen | |
Kommunikationszusammenhängen“. | |
Haraways Analyse, dass „Kommunikations- und Biotechnologien die | |
entscheidenden Werkzeuge zum Umbau unserer Körper“ seien, ist heute | |
womöglich noch aktueller als vor 20 Jahren. Umso dringlicher stehen | |
Arbeiter- und Frauenbewegung vor der Aufgabe, die „theoretische Starre“ zu | |
überwinden, die der kämpferischen Wissenschaftlerin früh auffiel. | |
„Warum scheint der Sozialismus so mit dem ‚Arbeiter‘ als Quelle allen Sei… | |
verheiratet zu sein und der Feminismus wie durch eine Nabelschnur mit | |
diesem anderen mythischen produktiven Wesen Frau?“, fragte Haraway schon | |
1981 auf der Internationalen Sozialismus-Konferenz in Jugoslawien. Haraways | |
seitdem hartnäckig wiederholte Mahnung an die Feministinnen, im Grunde aber | |
an alle progressiven Kräfte, sich die nötige Kompetenz in Sachen | |
Technologie anzueignen, findet interessanterweise ihren aktuellen Nachhall | |
in den Manifesten und Debatten der – zumeist männlichen – | |
„Akzelerationisten“. | |
## Denken ohne Datenbrille | |
Philosophen und Blogger wie Nick Land, Nick Srnicek, Alex Williams und | |
Armen Avanessian in Deutschland fordern vehement, die Linke müsse „ jede | |
vom Kapitalismus ermöglichte technologische und wissenschaftliche | |
Errungenschaft zu ihrem Vorteil ausnutzen“. | |
Was Haraway von diesen unterscheidet, ist, wie konsequent sie Technologie | |
für eine „feministische, antirassistische und multikulturelle Zukunft“ | |
einsetzen will. Kein Zweifel: Die lässt sich nur entwerfen, wenn Biologie, | |
Technologie und Kultur so brillant zusammengedacht werden, wie Haraway es | |
überzeugend vormachte. | |
Eine ganz außerordentliche Fusion, die dieser Pionierin des | |
grenzüberschreitenden Denkens bis heute offenbar noch ganz ohne Datenbrille | |
gelingt. | |
2 Sep 2017 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arend | |
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