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# taz.de -- Biologin über Gendertheorie: „Zivilisation ist androzentrisch“
> Meike Stoverock untersucht in dem Buch „Female Choice“ das
> Paarungsverhalten von Tieren und Menschen. Und findet ein Muster gegen
> männliche Dominanz.
Bild: Der Täuberich muss sich um die Möglichkeit der Fortpflanzung bewerben
taz: Frau Stoverock, Ihr Buch trägt den Titel „Female Choice“ – ein
biologischer Begriff, der sich auf das Paarungssystem vieler Tierarten
bezieht. Was hat das mit dem Menschen zu tun?
Meike Stoverock: Es beschreibt ein System, bei dem sich Männchen um
Möglichkeiten zur Fortpflanzung bewerben müssen. Um Sex zu bekommen, müssen
sie Leistungen erbringen; kämpfen, Geschenke machen, hübsch aussehen. Die
Weibchen entscheiden, mit wem sie sich fortpflanzen. Bis zur
Sesshaftwerdung, als Menschen noch keine hochkultivierten Wesen waren, galt
die female choice auch dort. Erst durch den Aufbau einer nach männlichen
Bedürfnissen gestalteten Zivilisation wurde dieses Prinzip unterdrückt.
Sie bezeichnen diese Unterdrückung als das Fundament, auf dem alle heutigen
politischen Systeme und Kulturkreise stehen. Worauf stützt sich Ihre These?
Natürlich ist es problematisch, Phänomene aus dem Tierreich eins zu eins
auf den Menschen zu übertragen, deshalb bin ich zurückgegangen zu dieser
Schwelle zwischen frühen Hominiden und Menschen, die komplexe Gedanken
formulieren. Menschen waren einmal Instinktwesen. Ich versuche zu zeigen,
dass diese Instinkte nicht aufgehört haben, sondern in diese entstehende
sesshafte Zivilisation integriert wurden. Sexualität und Fortpflanzung sind
der wichtigste Evolutionsmotor. Ich glaube, dass Menschen da in einer
vorkulturellen Zeit keine Ausnahme waren. Da strebten Männer nach Sex, der
nicht frei verfügbar war, weil Frauen ihn kontrollierten.
Es ist nicht unproblematisch, sich auf evolutionsbiologische Unterschiede
bei Menschen zu beziehen, Stichwort Eugenik. Sie plädieren für eine
wertneutrale Neubesetzung.
Es ist vernünftig, bei biologischer Argumentation genau hinzuschauen. Für
mich spielt eine entscheidende Rolle, dass diese gesamten biologischen
Erkenntnisse über die Jahrhunderte immer nur von Männern zu ihrem eigenen
Nutzen interpretiert wurden. Sie haben ihr Wissen, ihre Erkenntnisse
ausgenutzt und missbraucht, wodurch furchtbare Verbrechen möglich wurden.
Ich glaube, man sollte Unterschiede zwischen Menschen – nicht nur Männern
und Frauen, auch zwischen Alten und Jungen sowie verschiedenen Ethnien
benennen können. Wichtig ist: Der biologische Sachverhalt eröffnet
Möglichkeiten, die patriarchale Deutung begrenzt oder verhindert diese.
Denn sie wertet und weist Menschen einen Platz zu, und das ist nicht
zufällig fast immer einer unter dem weißen männlichen Individuum.
Das formulieren Sie deutlich: „Unsere Zivilisation funktioniert nur für
eine Sorte Mensch: den Mann.“
Ja, wir leben in einer androzentrischen Zivilisation. Das bedeutet, dass
die Welt auf den Mann, seinen Körper, seine Eigenschaften und Prioritäten
zugeschnitten ist. Ganz praktisch kann man das in der medizinischen
Forschung sehen und in der Gestaltung von Sicherheitsmaßnahmen. All das ist
zugeschnitten auf einen Körper, der eher männlichen Parametern entspricht.
Das führt regelmäßig dazu, dass solche Maßnahmen für Menschen außerhalb
dieser festgelegten Norm nicht passen.
Um dem Androzentrismus etwas entgegenzusetzen, betrachten Sie die Biologie
des Menschen und ihre Auswirkungen auf unsere Gesellschaft aus
feministischer Sicht. Wie geht das?
Für mich spielt die anhaltende Unterdrückung der Frau eine ganz wesentliche
Rolle für die strukturellen Ungerechtigkeiten, die uns heute beschäftigen.
Dabei ist die Unterdrückung der weiblichen Sexualität und der damit
einhergehenden female choice für mich keine Nebenwirkung des
Zivilisationsprozesses, sondern seine bedingende Grundvoraussetzung.
Wenn wir zurück zur female choice gehen, würde also alles gut werden?
Nicht, wenn wir nicht unsere gesellschaftlichen Narrative ändern. Denn ein
Muster der female choice ist, dass sich 80 Prozent der Frauen für nur 20
Prozent der Männer entscheiden. Das heißt, eine Mehrzahl an Männern bekommt
keinen Sex. Das heißt nicht, dass diese Männer Versager sind. Wenn wir uns
die Tierwelt anschauen, dann ist das Männchen, das keine Partnerin findet,
der Normalfall. Das Premiummännchen, das sich fortpflanzt, ist die
Ausnahme. Daran ist nichts Ungewöhnliches.
Sie schreiben aber, dass männliche Lebewesen, die keinen Zugang zu Sex
haben, aggressiv werden.
Genau. Physisch gesehen, wird Testosteron im Körper durch Sex abgebaut, –
auch bei Frauen. Testosteron ist ein Leistungshormon, das Muskelwachstum
fördert. Allerdings macht es in hohen Mengen aggressiv. Da wird es
problematisch: Wenn Testosteron im Körper ansteigt, es aber keine
Möglichkeit gibt, es abzubauen, entsteht sexueller Frust. Dass männliche
Individuen diesen an Schwächeren auslassen, zieht sich wie ein roter Faden
durch die Tier- und Menschenwelt.
Für Männer, die unfreiwillig enthaltsam leben, hat sich der Begriff
„Incels“ etabliert. Sie fallen besonders durch Hass und Hetze im Internet
auf. Wie gefährlich sind sie für unsere Gesellschaft?
Ich glaube, diese Aggression gehört zum Mannsein dazu. Damit soll aber
keineswegs gewaltsames Verhalten gerechtfertigt werden. Aber um diese
Gewalt in den Griff zu bekommen, muss man sie als etwas Integrales
begreifen – als Teil der menschlichen Natur. Die unfreiwillige sexuelle
Enthaltsamkeit führt zu Einsamkeit, zu dem Gefühl, ein Versager zu sein und
am Mindestanspruch der männlich geprägten Zivilisation zu scheitern. Es
gibt aber Männer, die nach dem Prinzip der female choice nicht erwählt
werden und sie müssen wir als Gesellschaft auffangen. Denn selbst wenn sie
nicht gewaltsam agieren, wählen Incels häufig rechtskonservative Parteien,
die an der patriarchalen Ordnung festhalten und unserer Gesellschaft damit
schaden.
Wie könnte man dem entgegenwirken?
Ihnen Hilfe anbieten, zum Beispiel, indem man ihnen sexuelle Erleichterung
durch professionelle Sexbegleitung verschafft, wie sie für Menschen mit
Beeinträchtigung oder alte Menschen bereits möglich ist und von
Krankenkassen mitfinanziert wird.
Sie konzentrieren sich auf die binäre Geschlechterordnung. Ist das nicht
unzeitgemäß?
Ich denke auch, dass dieser rein binäre Begriff nicht zeitgemäß ist, aber
da es in meinem Buch vor allem um fortpflanzungsbiologische Aspekte geht,
habe ich mich auf Frau und Mann konzentriert. Bei der Fortpflanzung kommt
es schließlich auf zwei unterschiedliche Geschlechter an, die bestimmte
genetische Merkmale aufweisen. Dass sowohl kulturell als auch biologisch
die Bandbreite der Geschlechter viel weiter ist, steht für mich außer
Frage.
Sie schreiben, dass Menschen, bei denen Chromosom- und Hormonpegel nicht
dem gleichen Geschlecht entsprechen, non-binär seien. Beweist das nicht aus
biologischer Sicht, dass der Glaube an eine binäre Geschlechterordnung
faktisch falsch ist?
Der ist auf jeden Fall falsch. Wenn die Chromosomen auf ein Geschlecht
hindeuten, die Hormone aber auf ein anderes – was will man da als
biologisches Geschlecht benennen? Bei beidem handelt es sich um physische
Faktoren, die deutlich messbar und nachweisbar sind. Das nicht-binäre
Geschlecht ist weitaus mehr als nur eine kulturelle Spinnerei, als die es
ja oft von Kritikern bezeichnet wird. Wenn wir solche biologischen
Erkenntnisse mehr in den Diskurs mit reinbringen, dann kann das
nicht-binären und trans Personen helfen, Akzeptanz für ihre Identität zu
bekommen.
Erhoffen Sie sich das von Ihrem Buch?
Mein naiver Wunsch ist es, eine Handreichung zu schaffen. Momentan scheint
der Geschlechterdiskurs verhärtet. Man redet kaum miteinander. Jeder
beansprucht die absolute Wahrheit für sich und alles, was davon abweicht,
wird zum Feindbild erklärt. Ich möchte zeigen, wie stark Biologie und
Kultur Hand in Hand gehen.
Können Sie das ausführen?
Ich denke, dass Kultur sowohl die Macht hat, biologische Muster zu
verstärken, Stichwort toxische Männlichkeit, als auch biologische Muster zu
behindern, wie etwa bei der female choice und der Unterdrückung weiblicher
Sexualinstinkte. Ich möchte einen Beitrag leisten, dass Menschen, egal
welchen Geschlechts, ihre Existenz besser verstehen und es schaffen,
einander mehr zu respektieren – als Menschen mit unterschiedlichen
Bedürfnissen.
14 Mar 2021
## AUTOREN
Sophia Zessnik
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