# taz.de -- Feministischer Western „First Cow“: Männer, die über Rezepte … | |
> Kelly Reichardts Neo-Western „First Cow“ erzählt mit leichter Hand von | |
> Frühkapitalismus und toxischer Männlichkeit. Ohne weibliche Hauptrollen. | |
Bild: Außenseiter im Pionierland: King-Lu (Orion Lee) und Otis (John Magaro) i… | |
Wesen in Not: Auf einem grün überwucherten Waldboden liegt ein Salamander | |
auf dem Rücken. Hilflos zappelt er mit den Beinchen. Doch eine Menschenhand | |
greift ins Bild und dreht den Lurch vorsichtig um, sodass er in seinem | |
schaukelnden Amphibiengang davonhuschen kann. Wesen gerettet. | |
[1][„First Cow“] ist ein Film über das Wesentliche. Darüber, was Menschen, | |
genauer gesagt, was Männer erleben können, wenn sie sich gegen die Gewalt | |
entscheiden, wenn sie das „Wesentliche“ in sämtlichen Begegnungen | |
wahrnehmen. Kelly Reichardts siebter Langspielfilm erzählt eine Geschichte | |
aus dem 19. Jahrhundert, als Siedler:innen versuchten, den nördlichen | |
Teil des Doppelkontinents Amerika sich untertan zu machen. | |
Der Koch Otis (John Magaro), der „Cookie“ genannt wird, treibt sich um 1820 | |
mit einer Reisegruppe aggressiver Trapper-Haudegen im größtenteils | |
unerschlossenen Oregon Country herum. Er ist der sanfteste Held, den je ein | |
Neo-Western hervorgebracht hat: Es ist Cookies Hand, die – beim Pilzesuchen | |
– den Salamander rettet. Etwas später rettet Cookie einen nackten Mann, der | |
sich unter dem Blattgrün des Waldes versteckt hält und artig „Guten Tag“ | |
sagt, als Cookie ihn entdeckt. Der Mann heißt King-Lu (Orion Lee), stammt | |
aus China, ist auf der Flucht vor ein paar russischen Kopfgeldjägern und | |
darf die Nacht klandestin in Cookies Zelt verbringen. | |
Wie die beiden Männer sich wenig später in einem rudimentären Prä-Saloon | |
wiedertreffen, hat Reichardt (in ihrer Adaption des Romans „The Half Life“ | |
von Jonathan Raymond) trotz des düsteren Settings in eine Symbolik des | |
Friedens, der (in dieser Umgebung raren) weiblichen Attribute eingenistet: | |
Als in dem schmuddeligen Kneipenloch eine Prügelei ausbricht, bekommt | |
Cookie, der still sein Bier trinkt, von einem bulligen Westman ein Baby in | |
einem Korb zugeschoben: „Kannst du mal kurz darauf aufpassen, während ich | |
mich schlage?“ Cookie kann, das Baby nuckelt zufrieden am Schnullerlumpen. | |
## Hausarbeit und Schlummertrunk | |
Später nimmt Lu seinen neuen Freund zum Schlummertrunk mit in die | |
selbstgebaute Hütte. Und während Lu draußen ein bisschen Holz hackt, macht | |
Cookie sich nützlich: Er fegt den Schuppen, schüttelt die Fußmatte aus und | |
stellt ein paar abgerissene Blumen ins Fenster. Er macht’s den beiden nach | |
Kräften gemütlich. | |
Denn Lu, Cookie und höchstwahrscheinlich auch alle anderen Menschen sind | |
empfänglich für Gemütlichkeit, für Frieden – und für Kulinarik. Der | |
zurückhaltende Cookie stellt sich als versierter Koch und Patissier heraus. | |
Wenn er Milch hätte, sinniert er eines behaglichen Abends in Lus Hütte, | |
könnte er Krapfenteig anrühren, die Dinger in Fett frittieren und dann mit | |
Honig bestreichen, hmmm … | |
Dass der britische „Chief Factor“ (Toby Jones) der Gegend gerade eine Kuh �… | |
die titelgebende „First Cow“ von Oregon – geliefert bekommen hat, bringt | |
den unternehmerisch fuchsschlauen und stetig vom Erfolg träumenden Lu auf | |
eine Idee. Könnte man die Kuh nicht heimlich melken, zum Beispiel nachts, | |
wenn ihr Besitzer nichts davon mitbekommt? Die (mit sahniger Milch | |
verfeinerten) Krapfen wären der Renner auf dem armseligen Marktplatz. | |
So bringt „First Cow“ mit seiner Geschichte leichterhand die Themen | |
Frühkapitalismus und toxische Männlichkeit zusammen. Denn (weiße) Männer, | |
Einwanderer, sind in der Historie der USA üblicherweise wilde Kerle, die | |
Tod und Teufel und den Attacken der Ureinwohner:innen trotzen müssen, | |
um in der unwirtlichen Umgebung zu überleben, um „es zu schaffen“. Die | |
dabei viel ihrer Menschlichkeit über Bord werfen, die lernen, sich zu | |
nehmen, was sie wollen. | |
## Die Kuh streicheln | |
Bei Reichardt ist es anders. Sie zeigt, welche Möglichkeiten es noch gibt: | |
Man(n) kann sich von der Gewalt distanzieren. | |
Man kann das Wesen des anderen respektieren, Kühe streicheln (die schönste | |
Szene des Films ist die höfliche erste Annäherung Cookies an das | |
zwangsemigrierte Rind), Krapfen backen und verkaufen, abends in der Hütte | |
sitzen und Pläne schmieden. Einfach befreundet sein. Männliche Gefühle, und | |
das ist ein weiterer weiser Schachzug von Reichardt und Raymond, kann man | |
auch ohne angedeutete oder explizite Homoerotik und ohne | |
„Männerfreundschaft“-Klischees inklusive Besäufnis und gemeinsamem | |
Sporterleben darstellen. | |
In [2][Jacques Audiards 1851 ebenfalls im frühen Oregon spielenden Drama | |
„The Sisters Brothers“ aus dem Jahr 2018] gibt es eine ähnliche Figur | |
unter den brutal agierenden titelgebenden Revolverhelden: Auftragskiller | |
Eli Sisters, gespielt von John C. Reilly, ist zwar schnell mit der Knarre | |
zur Hand, sein überaus gefühlloser Bruder Charlie (Joaquin Phoenix) sogar | |
noch schneller. | |
Doch Eli hat auch eine andere, sensible Seite. Er genießt das saubere | |
Gefühl, nachdem er sich mit dem neuartigen „Zahnpulver“ die Beißer geputzt | |
hat. Und angestachelt von Ideen des Mannes, den die Brüder eigentlich töten | |
sollen, denkt Eli immer mehr darüber nach, was passierte, wenn man sich | |
gewaltfrei verständigen, nicht mehr das Recht des Stärkeren anwenden würde: | |
Ist das überhaupt möglich? | |
Bei Kelly Reichardt hält sich die Kamera von Anfang an aus der Gewalt | |
heraus, dreht (in handgreiflichen Situationen) weg, filmt etwas anderes, | |
Friedfertigeres. Ihre Bilder (Kamera: Christopher Blauvelt) flackern sanft | |
und weich im natürlichen Licht, dazu zupft der Folk-Musiker William Tyler | |
ein paar ulkige Töne, die nie ins Folkloristisch-Esoterische driften, | |
sondern stets einen leisen Humor mitschwingen lassen. | |
## Klischeefrei gendern | |
Ihre beiden ungewöhnlichen Helden werden dennoch irgendwann eingeholt von | |
einem damals (wie heute) geltenden Konsens. Doch Reichardt schafft es, mit | |
ihrer retrospektiven Geschichte hoffnungsvoll nach vorne zu deuten, das | |
Thema Gender trotz des vor Machoklischees wimmelnden Schauplatzes modern | |
und klischeefrei anzugehen: Männer sind und waren eben nicht immer nur | |
tumbe Typen, die nur Sex und Gewalt im Kopf haben. Sondern unterhalten | |
sich, wenn sie allein sind, auch mal über Rezepte. | |
Als „First Cow“ vor zwei Jahren im Wettbewerb der Berlinale lief, bildete | |
er ein wohltuendes Gegengewicht zu Filmen wie „DAU. Natasha“ von Ilja | |
Chrschanowski, „Favolacce“ von den Brüdern D’Innocenzo oder [3][„Siber… | |
von Abel Ferrara], die – neben vielen Qualitäten – teils doch wieder auf | |
altbekannte Stereotype des triebgesteuerten, in sich zerfressenen, | |
unzufriedenen Mannes aufbauten. | |
Reichardt beweist in „First Cow“, dass ein feministischer Film nicht | |
unbedingt weibliche Hauptrollen braucht. Und dass aus ihrer weißen | |
Erzählperspektive heraus (Reichardt und der Drehbuch- und Romanautor | |
Raymond sind langjährige Arbeitspartner:innen) durchaus sensibel von der | |
Kolonialisierungsgeschichte Amerikas berichtet werden kann. | |
In einer herrlich-absurden Szene möchte der ehrgeizige Chief Factor | |
hochrangigem britischem Besuch ein von Cookie gebackenes Spezialdessert | |
(den Pfannkuchenauflauf Clafoutis) kredenzen. Zum Festschmaus lädt er auch | |
einen Stammeshäuptling ein, und zwingt ihm ein Gespräch über die | |
Biberschwanz-Hutmode auf. Der Häuptling lässt sich seine Verwunderung nicht | |
anmerken. | |
Aber komisch, das sah man schon vorher an den Reaktionen der | |
Ureinwohner:innen auf die Floßfahrt der Kuh, wirken hier eigentlich | |
immer nur diese weißen Eindringlinge mit ihren Hierarchien, Angebereien, | |
Eitelkeiten und Essgewohnheiten. „First Cow“ zeigt, was sich | |
gesellschaftlich im Denken und Handeln verändern könnte. Weil es sich | |
verändern muss. | |
4 Jul 2021 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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