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# taz.de -- Andrea Arnold über ihren Film „Cow“: „Selbst ihr Atem ersche…
> Die Regisseurin Andrea Arnold hat vier Jahre lang eine Milchkuh
> begleitet. Ihr Film „Cow“ will die Persönlichkeit seiner Protagonistin
> zeigen.
Bild: Der Film „Cow“ folgt oft dem Kopf und den Augen seiner Protagonistin …
Wie sieht der Alltag einer Milchkuh aus? Der Dokumentarfilm „Cow“ von
[1][Andrea Arnold] zeigt ihn aus der Perspektive der Kuh Luma, die Kamera
begleitet sie auf Augenhöhe, im Stall des Familienbetriebs und auf der
Wiese, beim Melken und der Geburt ihres Kalbes. Zugleich nüchtern und
empathisch, kommt die britische Filmemacherin in ihrem Porträt über das
harte Leben von Nutztieren ganz ohne Kommentar aus und wirft Fragen über
das Bewusstsein von Tieren auf.
taz am wochenende: Frau Arnold, Sie haben Ihren Film „Cow“ als mehr als
einen Dokumentarfilm bezeichnet. Was meinten Sie damit?
Andrea Arnold: Bei der Weltpremiere in Cannes sagte ich etwas beiläufig,
dass ich „Cow“ nicht für einen Dokumentarfilm halte. Im Nachhinein glaube
ich, das war eher eine Frage, die ich mir selbst stellte. Ich weiß nicht
genau, wie ich es nennen soll, was ich da gemacht habe. Ich bin einer Kuh
namens Luma gefolgt, habe sie beobachtet und das Geschehen auf sehr
sachliche Art und Weise aufgezeichnet. In diesem Sinn ist es also ein
Dokumentarfilm. Aber irgendwie geht „Cow“ darüber hinaus und manchmal haben
wir begrenzte Möglichkeiten, Dinge zu benennen. Und vielleicht müssen wir
ja nicht alles etikettieren.
Die Dreharbeiten zogen sich mit Unterbrechungen über einen Zeitraum von
vier Jahren. Wie sah das konkret aus?
Zunächst hatte ich nur die Idee, etwas über Viehzucht zu machen, und ich
wusste nicht, wie ich es umsetzen kann. Das ist meine Art des Filmemachens:
ich entwickle und entdecke Dinge erst im Laufe der Zeit, es ist ein
Prozess. Der Grundgedanke war diesmal: [2][Wenn ich ein Tier lange genug
beobachte, kann ich seine Persönlichkeit und sein Empfindungsvermögen
sichtbar machen, sein Innenleben?] Kann ich das Unsichtbare zum Vorschein
bringen?
Was hat Sie daran interessiert?
Zu der Zeit las ich den irischen Dichter John O’Donohue, der von der
unsichtbaren Schönheit in uns schrieb, dem Denken, den Gefühlen und dem
Willen. Und ich wollte herausfinden, ob ich das auch bei einem Tier sehen
kann, in diesem Fall einer Milchkuh. Als wir dann mit den Dreharbeiten
begannen, wurde mir schnell klar, dass sich die Kamera vor allem auf den
Kopf und die Augen fokussieren muss. Es war eine erstaunliche Erfahrung:
sobald man beginnt, die Augen eines Tieres zu beobachten, beginnt man sich
zu fragen, was es denkt und fühlt. Man fängt an, Tiere anders wahrzunehmen.
Die Kamera ist meist ganz nah an Luma, folgt ihr überall hin. Wie hat das
rein praktisch funktioniert?
Mit einer ganz kleinen Crew, viel Geduld und Kompromissen. Ich wollte
zunächst analog auf Film drehen und wir haben tatsächlich damit
experimentiert, aber ich musste die Idee bald aufgeben, es war in vielen
Situationen nur mit einer kleinen Digitalkamera machbar. Wir haben dabei
kaum künstliches Licht benutzt, nur manchmal mussten wir ein bisschen
nachhelfen, um etwa nachts auf den Feldern etwas sehen zu können. Da halte
ich dann selbst den Scheinwerfer in der Hand, während die Motten um meinen
Kopf schwirren, man sieht dann auch im Film, wie sich das Licht bewegt,
weil ich versuche, sie zu verscheuchen.
Der Film hat keinen Kommentar, umso erstaunlicher ist die Tonspur.
Ich habe mit meinem Sounddesigner Nicolas Becker versucht, Lumas Geräusche
so aufzunehmen, dass es dreidimensional wirkt, als wäre man mittendrin.
Kühe sind sehr große Tiere und die Geräusche, die sie machen, wie das
Grunzen und das Muhen, selbst ihr Atem erscheinen wuchtig, man bekommt
wirklich ein Gefühl für ihre Größe, wenn man sie hört. Zugleich bekommt man
auch all die kleinen Dinge mit, die wirklich schwer einzufangen sind, wie
etwa dieses kleine, fast mürrisch klingende Schnauben, wenn sie mit dem
Kalb glücklich ist. Ich bin da sehr perfektionistisch, auch bei meinen
Spielfilmen, ich will jedes Geräusch vor Ort aufzeichnen. Wenn man es
später im Studio nachvertont, klingt es immer steril. Ich halte es mit
Bresson: Das Leben ist unnachahmlich. Man kann keinen Moment durch einen
anderen ersetzen.
Wie haben Sie Ihre Protagonistin Luma und damit den Bauernhof gefunden?
Zunächst haben wir uns in der Gegend von Essex umgesehen, weil ich einen
Ort wollte, der nicht allzu abgelegen ist, sondern auch an Menschen
erinnert, mit Zügen und Autos. Fündig geworden sind wir schließlich in
Kent, wo wir uns für einen mittelgroßen Bauernhof entschieden haben. Keine
niedliche kleine Farm und auch kein riesiger Milchindustriehof, sondern ein
Familienbetrieb, dessen Milch in die Supermärkte der Umgebung geliefert
wird. Als wir erklärten, was wir vorhatten, waren die Leute gleich sehr
offen und entgegenkommend. Sie erwähnten Luma und sagten, sie sei ziemlich
temperamentvoll. Da wurde ich gleich hellhörig. Wenn ich das Innenleben und
den Willen eines Tieres erkunden will, ist temperamentvoll hilfreich,
dachte ich. Das erhöht die Chance, ihren Charakter zu sehen.
Warum glauben Sie, dass Tiere ein Bewusstsein haben?
Ich hatte mein ganzes Leben lang Beziehungen zu Tieren und ich glaube, dass
man die Persönlichkeit und Gefühle eines Tieres sehen kann. Aber es gibt
natürlich andere Ansichten, viele sprechen Nutztieren so etwas wie ein
Bewusstsein ab. Es ist bequemer für uns so zu denken, um sie ohne
schlechtes Gewissen so benutzen zu können, wie wir es tun. Auch ich war mir
nicht sicher, was wir sichtbar machen könnten. Erst später hörte ich, dass
eine Kuh, die einen Namen hat, bis zu 500 Liter mehr Milch pro Jahr gibt.
Interessant, nicht wahr? Wenn sie einen Namen hat, bedeutet das
wahrscheinlich, dass man mit ihr spricht, und [3][je mehr Zuneigung man ihr
entgegenbringt, desto mehr Milch gibt sie]. Ich bin keine
Wissenschaftlerin, aber ich glaube, alle Lebewesen spüren die
Freundlichkeit oder Grausamkeit eines anderen Lebewesens.
Warum haben Tiere oft eine besondere Präsenz in Ihren Filmen?
Tiere und die Natur sind beim Schreiben immer da, sie sind eine Art mich
auszudrücken. Ich hatte eine sehr freie Kindheit, meine Mutter war 16 und
mein Vater 18, als ich geboren wurde. Ich war schon sehr früh draußen
unterwegs, mit drei Jahren. Die Gegend, in der wir wohnten, war eine Art
Siedlung, aber es gab viel Wildnis drum herum. Nichts Romantisches, eher
eine Art Land, das genutzt und dann verlassen wurde und verwilderte. Ich
habe mich dort sehr wohl gefühlt und es hat mich geprägt. Dieses Aufwachsen
macht einen großen Teil meiner emotionalen Landschaft aus.
Haben Sie mit „Cow“ Ihr Ziel erreicht, das Innenleben Lumas sichtbar zu
machen?
Ich denke, man kann ihre Persönlichkeit sehen, ihre wilde, unsichtbare
Schönheit, von der ich vorhin gesprochen habe. Ich glaube sogar, dass sie
sich am Ende selbst gesehen fühlte. Sie war sich der Kamera bewusst und
spürte, dass wir sie sahen. Das Bewusstsein eines Lebewesens wahrzunehmen
ist eine sehr intensive Erfahrung. Nur was Luma in dem Moment denkt, bleibt
ein Geheimnis.
5 Feb 2022
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## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
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