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# taz.de -- Film über pädosexuellen Missbrauch: Wenn das alte Leben zerstört…
> Gonçalo Waddington Film „Patrick“ erzählt von einem Opfer pädosexuellen
> Missbrauchs. Der Blick bleibt dabei zurückhaltend und beobachtend.
Bild: Pai (Adriano Carvalho) und Patrick (Hugo Fernandes), der als Kind entfüh…
Ein junger Mann liegt ausgestreckt auf einem Behandlungsbrett, nur ein
Handtuch über der Hüfte und eine schwarze Schutzbrille über den Augen, eine
Frau in weißer Klinikkleidung entfernt mit einem Lasergerät jedes Haar an
dem knabenhaft schlanken Körper.
Das Bild erinnert an Patrick Bateman in „American Psycho“, jenen
26-jährigen Serienmörder in der Verfilmung [1][von Bret Easton Ellis’]
Satire über die turbokapitalistische Gier der achtziger Jahre, der obsessiv
seinen Körper perfektionierte, wenn er nicht gerade Prostituierte und
Obdachlose abschlachtete.
Auch der 20-Jährige mit der Gesichtsakne hier heißt Patrick (Hugo
Fernandes) und wird psychopathisches Verhalten zeigen, das weit über den
Wunsch nach makelloser, jugendlicher Perfektion hinausgeht. Er lebt in
Paris mit einem wohlhabenden Mann Mitte dreißig, von dem er sich aushalten
lässt.
Er feiert exzessiv, in den Clubs der Stadt, wo er kokst und Pillen schmeißt
und forsch sehr junge Mädchen aufreißt. Und wenn sein Sugar-Daddy beruflich
verreist ist, schmeißt er schon auch mal eine Party in dessen Luxusloft.
## Als Kind entführt und missbraucht
Etwas treibt ihn um, er sucht Kontakt, aber der Anruf bei einem Mann namens
Mark, den er wiedersehen will, wird von diesem schnell abgebrochen. Als es
bei einer Wohnungsparty so laut wird, dass die Nachbarn die Polizei rufen
und Patrick bei der versuchten Vergewaltigung eines Mädchens festgenommen
wird, stellt sich beim Verhör auf dem Revier heraus, dass er der Junge
namens Mário ist, der vor zwölf Jahren in Portugal entführt wurde und
seitdem als verschollen galt.
Auf dem Laptop entdecken die Beamten pornografische Videos, die Patrick
offensichtlich mit unter Drogen gesetzten Mädchen gedreht hat. Auch
Aufnahmen seines eigenen Missbrauchs als Kind und anderes pädosexuelles
Material, das Patrick im Internet angeboten hat, finden sich auf dem
Computer. Was genau in den Jahren seit dem Verschwinden des damals
achtjährigen Mário passiert ist, lässt sich nur erahnen.
Offenbar wurde er von Portugal nach Brüssel verschleppt und kam erst mit 18
Jahren wieder frei. Er behielt den Namen, den ihm sein Entführer gab,
tauchte ab und baute sich in Paris ein neues, unerkanntes Leben auf.
Der Inspektor, der bereits damals in dem Fall ermittelte, bietet
Patrick/Mário nun einen fragwürdigen Deal an: als strafmildernde Maßnahme
soll er zu seiner Familie im ländlichen Portugal zurück, um sich der
Vergangenheit zu stellen, die er hinter sich lassen wollte. Doch Heimkehr
wohin, wenn das alte Leben zerstört ist?
## Gonçalo Waddington; vom Schauspieler zum Regisseur
Seine Mutter (Teresa Sobral) hatte sich bereits mit seinem Tod abgefunden
und kann nun damit ebenso wenig umgehen wie mit den Anschuldigungen gegen
ihn. In seinen Augen hat sie ihn aufgegeben, ebenso wie sein Vater, der den
Verlust nicht ertrug und sich aus dem Staub gemacht hatte.
Hin und her gerissen zwischen zwei Leben und Identitäten bleibt
Patrick/Mário ein Fremder, auch seine Muttersprache muss er erst mühsam
wiedererlernen. Nur zu seiner Cousine Marta (Alba Baptista), die inzwischen
22 ist, entwickelt er sehr zaghaft ein brüchiges Vertrauen.
Der portugiesische Filmemacher Gonçalo Waddington, Jahrgang 1977, der
bislang hauptsächlich als Schauspieler arbeitete und etwa in [2][Miguel
Gomes’ Trilogie „1001 Nach]t“ mitwirkte, hat für sein Regiedebüt einen
alles andere als leichten Stoff gewählt. Opfer von Gewalt werden oft, wenn
sie keinen anderen Umgang mit ihren traumatischen Erfahrungen finden,
selbst zu Tätern.
Waddington zeigt diese Gewaltspirale konsequent aus Sicht des jungen
Protagonisten, der als Kind jahrelang Opfer sexuellen Missbrauchs wurde und
nun diese Gewalt selbst bei minderjährigen Mädchen anwendet, zugleich noch
immer die Aufmerksamkeit und Zuwendung seines alten Peinigers sucht.
## Weder Jugendlicher noch Mann, weder homo noch hetero
Seiner Kindheit beraubt, lebt er nun in einem Nichtzustand: er ist weder
Mário noch Patrick, weder Jugendlicher noch Mann, weder Portugiese noch
Franzose, weder homo noch hetero, weder gut noch böse. Aus diesen, auch
moralischen, Widersprüchen entwickelt Waddington eine [3][verdrehte
Coming-of-Age-Geschichte], in der sich ein junger Mann von seiner
Vergangenheit und den Erwartungen seines Umfelds befreien muss, um hinter
all dem Schmerz sich selbst zu finden. Die Möglichkeit des Scheiterns
inbegriffen.
Diese Perspektive ist unmittelbar und lässt zugleich Freiraum, nicht alles
auserzählen und erklären zu müssen. Es ist ein beobachtender Blick, der
auch den hilflosen Umgang seiner Familie eher registriert als bewertet.
Waddington inszeniert dabei sehr zurückgenommen und nie effektheischend,
die Gewaltakte etwa zeigt er nicht.
Nur Hugo Fernandes’ brütender Gesichtsausdruck und wie er sich durch die
Welt bewegt, lassen die immense Anspannung und das Trauma erahnen, die in
diesem Körper stecken. Das macht „Patrick“ nicht weniger intensiv und
bedrückend, ganz im Gegenteil.
15 Jul 2021
## LINKS
[1] /Bret-Easton-Ellis-neuer-Roman/!5135256
[2] /Portugiesische-Kino-Trilogie-1001-Nacht/!5327515
[3] /Neue-Jugendromane-fuer-den-Sommer/!5782383
## AUTOREN
Thomas Abeltshauser
## TAGS
Coming-of-Age-Film
sexueller Missbrauch
Film
Entführung
Pädophilie
Spielfilm
Spielfilm
Portugal
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