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# taz.de -- Iranischer Film gewinnt die Berlinale: Das Handwerk des Tötens
> Die 70. Berlinale ist dem Ruf treu geblieben, ein politisches
> Filmfestival zu sein. Der Goldene Bär ging an Mohamad Rasoulofs „There Is
> No Evil“.
Bild: Darya (Baran Rasoulof) im iranischen Gewinnerfilm „There Is No Evil“
Den Befehl, den Hocker wegzuziehen, kann jeder mal erhalten. Für iranische
Wehrdienstleistende gehört das zu ihren Aufgaben. Und im Iran ist
Wehrdienst Pflicht. Dass dieses Wegziehen des Hockers für die Soldaten
bedeutet, eine Hinrichtung zu vollstrecken, ist das Thema von [1][Mohamad
Rasoulofs Spielfilm „There Is No Evil“], der bei der Preisverleihung der
70. Berlinale am Sonnabend den Goldenen Bären erhielt.
In vier Episoden erzählt der Film vom Handwerk des Tötens, zeigt von
Gewissensbissen geplagte Rekruten vor oder nach der Tat. Eingangs schildert
er den Alltag eines Henkers, ohne dass man dessen Beruf erahnen würde. Doch
schon in der Anfangsszene inszeniert Rasoulof das Verladen eines Sacks Reis
in den Kofferraum eines Autos so verstohlen, dass einen das Gefühl von
drohendem Unheil beschleicht. Man fragt sich unwillkürlich, was da so
diskret in den Wagen gewuchtet wurde – es hätte auch eine Leiche gewesen
sein können, die aus dem Weg geschafft werden soll.
Mit Rasoulof wurde genau fünf Jahre nach [2][Jafar Panahi, dessen
Dokufiction „Taxi“ damals im Berlinale-Wettbewerb gelaufen war], wieder ein
iranischer Regisseur in Abwesenheit mit dem Goldenen Bären geehrt. Wieder
wundert man sich bei Rasoulof, wie zuvor bei Panahi, dass es sein Film
überhaupt nach Berlin geschafft hat. Die Kritik am Regime für dessen
Festhalten an der Todesstrafe, die der Film teils sehr vehement deutlich
macht, scheint ein klarer Fall für die Zensur. Dass er trotzdem zu sehen
war, wirkt wie ein Wunder.
Statt Mohamad Rasoulof – er kam später bei der Pressekonferenz per Telefon
zu Wort – nahm seine in Deutschland lebende Tochter Baran Rasoulof, die
selbst als Darstellerin in einer Episode mitwirkt, den Preis entgegen. Was
die Arbeit an dem Film für die Beteiligten bedeutet, formulierte dann der
Produzent Farzak Pak. Er bedankte sich im Namen „der Darsteller und aller
anderen, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um an dem Film
mitzuwirken.“
## Drastisch, nicht plakativ
Unter den Konkurrenten dieses Jahrgangs war Rasoulofs Film ein würdiger
Anwärter. Er vermochte die Brisanz seines Themas in präzisen, teils
scheinbar beiläufig auf ihre Pointen hinsteuernden moralischen Miniaturen
zu erzählen, die drastisch, aber nicht plakativ waren. Seinen Mut zu
belohnen, war die richtige Entscheidung der Jury unter ihrem Präsidenten
Jeremy Irons. Irons wies bei der Verkündung des Goldenen Bären darauf hin,
dass sich die Jury durchaus heftig gestritten hat. Ihre Entscheidungen sind
dennoch weitgehend nachvollziehbar.
Neben Rasoulof waren es einerseits altbekannte Filmemacher, die positiv
auffielen. Vor allem der Koreaner Hong Sangsoo, zuletzt 2017 mit „On the
Beach at Night Alone“ im Wettbewerb der Berlinale, überzeugte mit „The
Woman Who Ran“, der den silbernen Bären für die beste Regie gewann. Das tat
er insbesondere durch die feinen, gewohnt minimalistisch gehaltenen
Gespräche seiner Protagonistin mit verschiedenen Freundinnen, die sich
lakonisch, aber vielsagend über Lebensentwürfe und die Fragen nach Glück
mit und ohne Männer austauschen. Zugleich steuerte er durch den brillant
aufgebauten Auftritt einer Katze eine der schönsten Tierszenen des
Wettbewerbs bei.
Um ein Tier, genauer gesagt, eine Kuh, kreiste auch [3][Kelly Reichardts
„First Cow“], ein Western über Milchdiebe, Kapitalismus und
Männerfreundschaft in feindlicher Umgebung, wunderbar verdichtet zu einer
Geschichte aus der Zeit der frühen Besiedlung des Westens der USA im 19.
Jahrhundert. Dass der Film der US-Amerikanerin leer ausging, mag damit zu
tun haben, dass er keine Weltpremiere war. Was auch für ihre Landsfrau
[4][Eliza Hittman und deren Beitrag „Never Rarely Sometimes Always“] gilt,
ein konzentriertes Porträt einer noch nicht ganz Volljährigen, die
ungewollt schwanger geworden ist.
Hittmans ergreifendes, in den nach rechts gedrifteten USA höchst aktuelles
Plädoyer für das Recht auf Abtreibung erhielt den Silbernen Bären Großer
Preis der Jury. Zur Recht allerdings stellt sich langfristig die Frage, ob
Preise für Filme, die keine Weltpremiere auf der Berlinale haben, dieser
ernsthaft guttun.
## Kleinbürgerliche Hölle
Neben Hittman zeichnete die Jury mit den Zwillingsbrüdern Fabio und Damiano
D'Innocenzo zwei weitere jüngere Filmemacher mit einem Silbernen Bären aus.
Für ihren stilsicher beklemmenden zweiten Spielfilm „Favolacce“ über die
kleinbürgerliche Hölle in einem Vorort von Rom erhielten die zwei
31-Jährigen verdient den Silbernen Bären für das beste Drehbuch.
Als weiterer Italiener konnte sich Elio Germano, der auch in „Favolacce“ zu
sehen war, über einen Silbernen Bären als bester Darsteller freuen. Den
Preis erhielt er jedoch für die Titelrolle in Giorgio Dirittis Biopic
„Volevo nascondermi“ über den Außenseiter-Künstler Antonio Ligabue. Elio
Germano gab den körperlich und geistig beeinträchtigten Maler mit einer
sensiblen Wucht, die im Wettbewerb ihresgleichen suchte. Dass Italien stark
im Wettbewerb vertreten war, mag nicht zuletzt am neuen künstlerischen
Leiter Carlo Chatrian liegen.
Wobei längst nicht alle Auszeichnungen der Jury zwingend erschienen. Die so
zeitgeistkritische wie platt abgespulte französisch-belgische
Digitalisierungskomödie „Effacer l'historique“ von Gustave Kervern und
Benoît Delépine erschien eher wie eine Notlösung für den Silbernen Bären �…
70. Berlinale, der seinerseits eine Notlösung war, nachdem der
Alfred-Bauer-Preis in diesem Jahr entfiel: Im Januar hatte die Zeit
berichtet, dass der erste Berlinale-Leiter Alfred Bauer wichtige Positionen
in der NS-Filmbürokratie bekleidete.
## Viele starke Frauenfiguren
Ebenso kann man darüber diskutieren, ob der Silberne Bär für eine
herausragende künstlerische Leistung an die Kamera von Jürgen Jüres in Ilja
Chrschanowskis kontroversem Film „DAU. Natasha“ sein musste. Die höchst
fragwürdig erscheinenden [5][Entstehungsbedingungen des Films, die dem
Regisseur unter anderem den Vorwurf der Manipulation und des
Machtmissbrauchs einbrachten] machen diese Entscheidung mehr als heikel.
Aber auch ästhetisch kann man nach dem Durchleiden dieser sehr langen gut
zweistündigen Zeitreise in den Stalinismus, die in quälender
Ausführlichkeit expliziten Sex, eine Folterszene unter Beteiligung eines
ehemaligen KGB-Mitarbeiters und viel Sauferei bietet, fragen, ob man dem
Werk mit dem Preis nicht mehr Bedeutung verleiht als ihm gebührt.
Freuen kann man sich hingegen über Paula Beers Silbernen Bären für die
beste Darstellerin. Ihre Hauptrolle in [6][Christian Petzolds „Undine“]
gehörte zu den unaufdringlichen Glanzleistungen dieses an starken
Frauenfiguren reichen Wettbewerbs. Ihre Undine wechselt elastisch zwischen
sachlich-kühl, wenn sie als Historikerin Berliner Stadtmodelle erläutert,
und geheimnisvoll-gefährlich, wenn sie unbedingte Liebe einfordert. Schade
aber, dass der andere Beitrag aus Deutschland, [7][Burhan Qurbanis kluge
Neuffassung von „Berlin Alexanderplatz“ aus Sicht eines Migranten],
komplett leer ausging.
Erfreuliche Filme fanden sich selbstverständlich auch viele in den
Nebensektionen. Im Panorama etwa Bastian Günthers Drama „One of These
Days“, das nach realem Vorbild den Irrsinn eines „Hands on the
truck“-Wettbewerbs in den USA zeigt, bei dem Menschen tagelang ihre Hände
an ein Fahrzeug halten. Wer am längsten durchhält, gewinnt. Das demütigende
Gewinnspiel in einer Provinzstadt nutzt Günther als Brennglas, um die
Ängste und Nöte der sozialen Unterschicht des Landes zu schildern. Oder der
beklemmend klaustrophobische Dokumentarfilm „Saudi Runaway“ von Susanne
Regina Meures, in dem die saudiarabische Protagonistin Muna sich selbst mit
dem Mobiltelefon filmt, wie sie ihre Flucht aus dem totalitären Staat
vorbereitet und während der Hochzeitsreise in die Tat umsetzt.
## Großer Zugewinn: „Encounters“
Im Forum gab es unter anderem mit „Victoria“ von Sofie Benoot, Liesbeth De
Ceulaer und Isabelle Tollenaere eine wunderbar desorientierende Mischung
aus dokumentarischer Beobachtung und filmischem Tagebuch über California
City, eine Stadt in Kalifornien, die überwiegend aus Sandstraßen besteht –
ein Planungsirrtum, bei dem die erwarteten Einwohner ausblieben. Die
Wenigen, die dort an den paar asphaltierten Wegen Häuser bezogen haben,
sind bei ihren täglichen Verrichtungen in der Wüste zu erleben. Ein
stilles, einprägsames Erlebnis, das mit dem Caligari-Filmpreis geehrt
wurde.
Einen großen Zugewinn brachte dieses Jahr die neue Sektion „Encounters“.
Dieser parallele Wettbewerb für eigensinnige Filmemacher bot ein paar der
schönsten Filme des Festivals. Darunter Victor Kossakovskys Dokumentarfilm
„Gunda“ mit Schweinen, Hühnern und Kühen als Protagonisten. Auch wenn der
russische Filmemacher darin ein klar veganes Anliegen verfolgt, sind die
kunstvoll und erstaunlich direkt gehaltenen Schwarzweißbilder für sich
schon eine Sensation, weil man die Tiere als Figuren erlebt. Und die
österreichische Regisseurin Sandra Wollner steuerte mit ihrem zweiten
Langfilm „The Trouble With Being Born“ einen so klugen wie verstörenden
stillen Science-Fiction-Thriller ohne Spezialeffekte bei, der dafür umso
abgründiger die Wünsche von Menschen sezierte. Die Encounters-Jury vergab
dafür den Spezialpreis der Jury.
Solche Ansätze, die frische Blicke auf das Kino gewähren, dürften die
Berlinale in Zukunft noch einmal interessanter machen. Zum Spezialistenfest
für Cinephile wird sie bei den immer noch vielen (342) Filmen damit noch
lange nicht. Ein guter Auftakt.
2 Mar 2020
## LINKS
[1] /Iranischer-Spielfilm-auf-der-Berlinale/!5663920
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[4] /US-Film-im-Berlinale-Wettbewerb/!5664402
[5] /US-Film-im-Berlinale-Wettbewerb/!5664402
[6] /Spielfilm-Undine-auf-der-Berlinale/!5665434
[7] /Neuverfilmung-Berlin-Alexanderplatz/!5664365
## AUTOREN
Tim Caspar Boehme
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